Die Leiden des jungen Trakl

05.06.2009
Existenzängste, Drogenexzesse, Depressionen: Der expressionistische Lyriker Georg Trakl hat all das durchgemacht, bevor er 1914 an einer Überdosis Kokain starb. Im Roman "Alle Wasser laufen ins Meer" rekonstruiert der Autor Martin Beyer Trakls Leben voller Selbstzweifel und Ängste - und lüftet die geheime Liebe zu seiner Schwester.
Es ist nicht gerade wenig, was dieser Roman sich vorgenommen hat. Er macht das Leben einer der Ikonen des Fin de Siècle zum Thema, das kurze, heftige und gefährliche Leben Georg Trakls. Der Dichter der Dämmerung, des Verfalls und einer allgegenwärtigen Todessehnsucht hat die deutsche Lyrik um eine neue Dimension bereichert, um bis dahin nicht gekannte, schaurig-schöne Bilder des Ekels und des Schreckens. Und er hat einen komplett neuen Ton angestimmt, der alle bislang gültigen Vorstellungen von Raum und Zeit außer Kraft setzte. Befeuert wurden seine düsteren Gedichte durch Rauschmittel jeder Art: Veronal, Wein, Kokain, Opium. Und durch ein furchtbares Schuldgefühl, das ihn wegen des jahrelangen Inzests mit seiner um vier Jahre jüngeren Schwester Margarete umtrieb.

Martin Beyer erzählt diese Skandalgeschichte über verbotene Lust und Verzweiflung als tragischen Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt, als eine fatale Verkettung aus Liebeswünschen, Existenzangst, Drogenexzessen und Depression. Es ist quasi ein umgekehrter Bildungsroman, der hellsichtig den Weg der Helden in den Verfall nachzeichnet. Allerdings bedient Beyer nirgendwo ein etwaiges voyeuristisches Leserinteresse. Aus großer Distanz betrachtet er das Treiben seiner Figuren. Er beschreibt den menschenscheuen jungen Gymnasiasten, der in Salzburger Dichterzirkeln um Anerkennung buhlt. Die temperamentvolle, schwärmerische Schwester, die - hochmusikalisch - eine Karriere als Pianistin anstrebt, sich ins Leben wirft und am Ende schmerzlich scheitert. Den gemeinsame Freund der beiden, ein kleinmütig verzagter Mensch, der niemals den Ausbruch wagt.

Diese Ménage-à-trois begleitet er durch drei Stationen, die durch einen Brief Margaretes kurz vor ihrem Selbstmord zusammengehalten werden. Dieser Brief ist ebenso erfunden wie viele Situationen, die dem Geschehen Farbe und Dramatik verleihen. So ein Schönberg-Konzert in Wien, das mit dem Zeitkolorit die Stimmung nahe bringt, mit der die "Neutöner" ihre Zeit in Aufruhr versetzten. Oder der Abend, als im Herbst 1910 die Rückkehr des Halley'schen Kometen und damit ernsthaft der Weltuntergang erwartet wurde. Oder ein Auftritt in Herwarth Waldens Galerie "Der Sturm", der Zentrale der künstlerischen Avantgarde in Berlin. Dafür hat Beyer auf authentische Quellen zurückgegriffen, auf Erinnerungen, Tagebücher und Briefe von Zeitzeugen ebenso wie auf die einzige, derzeit erhältliche Trakl-Biografie jüngeren Datums, den mit reichem Bildmaterial ausgestatteten Band von Hans Weichselbaum aus dem Jahre 1994. Da allerdings das Herzstück der Beziehung zwischen Georg und Margarete Trakl, ihre Korrespondenz, nicht erhalten ist, hatte Beyer alle Möglichkeiten, Dialoge, Atmosphären, Innenansichten und Reflexionen frei zu erfinden.

Sei es, um der Gefahr einer Idealisierung zu entgehen, sei es, um nicht in eine misslingende Kopie des Trakl'schen Vorbildes abzurutschen, geschieht dies in einer knappen, sachlichen, manchmal allzu nüchternen Sprache. Dennoch weckt der Roman das Interesse an der Figur des tragischen Dichters, und er macht Lust darauf, dessen Gedichte zu lesen, die sich mit Titeln wie "Der Herbst des Einsamen" oder "Sebastian im Traum" auf unnachahmliche Weise in die deutsche Poesie eingeschrieben haben.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Martin Beyer: Alle Wasser laufen ins Meer
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009
240 Seiten, 18,90 Euro