Die Leiden des jungen Schlosser

29.11.2010
Mit "Liebesroman" setzt Gerhard Henschel seinen Zyklus über die BRD der späten 60er- und 70er-Jahre fort. Sein Held Martin Schlosser ist nun ein Schülerzeitungsredakteur, Biertrinker, Gladbach-Fan, Cineast und unglücklich verliebt.
Wer die 1970er Jahre und schmerzhafte Ohrwürmer wie das "Lied der Schlümpfe" vergessen möchte, sollte Gerhard Henschels Werke meiden. Denn seitdem der 1962 geborene Henschel das ursprünglich von ihm beackerte satirische Feld verließ und sich mit dem Briefroman "Die Liebenden" (2002) der Geschichte seiner eigenen Familie zuwandte, arbeitet er mit einer nicht zu bremsenden Erinnerungslust daran, die späten 1960er und 1970er Jahre der "alten" Bundesrepublik auferstehen zu lassen. Nach "Kindheitsroman" (2004) und "Jugendroman" (2009) liegt mit "Liebesroman" nun der dritte Band eines Zyklus’ vor, dessen Held Martin Schlosser mehr als auffällige Ähnlichkeiten mit seinem Autor aufweist.

Meppen im Emsland, 1978 bis 1980 – das sind die Koordinaten, in denen sich der anfangs 16-jährige Gymnasiast Martin Schlosser bewegt. Wer die vorangegangenen ihm gewidmeten Romane kennt, weiß, dass er drei Geschwister, darunter die "Nervensäge" Wiebke, hat, sich für Borussia Mönchengladbach begeistert und mit Eltern zurechtkommen muss, deren Ehe unter ständigen Detonationen leidet. Henschels "Liebesroman" bewegt sich dabei nicht zufällig entlang der Fußstapfen eines Walter Kempowski, jenes lange unterschätzten Schriftstellers, mit dem sich Henschel unter anderem 2009 in der Studie "Da mal nachhaken" befasste.

In kleinen, mitunter nur wenige Zeilen umspannenden Passagen fächert der Autor einen Provinzkosmos auf und zeigt die unendliche Vielfalt jener Elemente, aus denen sich ein Leben zusammensetzt. Folglich erleben wir den heranwachsenden Martin in unterschiedlichsten Situationen: als lesesüchtigen Schülerzeitungsredakteur, der sich vom "Gilgamesch"-Epos aus durch die Weltliteratur arbeitet, als politisch aufmerksamen Jugendlichen, der den Fußball bald links liegen lässt und gegen die Kanzlerkandidatur Franz-Josef Strauß’ agitiert. Als Biertrinker, der auf Familienfeiern gern aus der Rolle fällt. Als Cineasten, als Leonard-Cohen-Adepten und nicht zuletzt als unglücklich Liebenden, der – bis zur vorletzten Seite – ganz vergeblich darauf hofft, dass die angehimmelten Mädchen ihm helfen, seine erotischen Fantasien umzusetzen.

Gerhard Henschel findet für seine quasi dokumentarische Erzählweise einen wunderbar leichten Ton, in dem er Pubertäts- und Familiendesaster mal aus lakonisch nüchternem, mal aus überspitzt komischem Blickwinkel schildert. Mit allen Fasern seines Wesens trachtet sein Protagonist danach, aus der Meppener Enge auszubrechen und das zu erleben, was ihm die große Kunst – Humphrey-Bogart-Filme oder "Die Leiden des jungen Werther" – aufzeigt. Die Illusionen Schlosser’schen Bürgerglücks hat er inzwischen durchschaut, wie eine Schlüsselstelle des Romans resümiert: "als ob wir eine scheinbar glückliche Familie wären, die sich selbst das Dasein einer glücklichen Familie vorgaukelte".

Da es Martin Schlosser auch nach knapp 600 Seiten "Liebesroman" nicht gelungen ist, sein Abitur abzulegen, werden wir vermutlich nicht lange darauf warten müssen, bis wir seine nächsten Schritte verfolgen dürfen. Ein einzigartiges Romanprojekt ist Gerhard Henschel bereits jetzt gelungen, und spätestens in zehn Jahren – diese nicht all zu kühne Prognose sei gewagt – wird es dafür Literaturpreise regnen.

Besprochen von Rainer Moritz

Gerhard Henschel: Liebesroman
Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
576 Seiten, 25 Euro
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