Die Lange Nacht über Massen

Wir sind nicht die

Pegida-Demonstranten halten ein Tranparent hoch, auf dem "Wir sind das Volk" steht.
"Wir sind das Volk", behaupten Teilnehmer an einer Pegida-Demonstration: Sprechen hier die Massen? © picture alliance / dpa/ Kay Nietfeld
Von Sven Rücker · 22.10.2016
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien das von Gustave Le Bon Ende des 19. Jahrhunderts ausgerufene „Zeitalter der Massen“ endgültig überwunden zu sein. Der Individualismus triumphierte, von den Massen redete man nur noch despektierlich oder retrospektiv. Jetzt aber gehen Gespenster in Europa und in der Welt um: Die Massen sind zurück.
Doch obwohl sie in Krisenzeiten, in denen alles Vertraute fremd wird, Identität stiftet, dem Einzelnen Kraft und Selbstsicherheit gibt, wird die Rückkehr der Massen nicht nur freudig aufgenommen. Schon die klassischen Massentheorien von Le Bon bis Canetti warnten vor der Zerstörungslust der Massen.
Die Masse ist maßlos und ohne Vernunft, sie überrollt den Einzelnen und macht alles gleich. Mit der Rückkehr der Massen kehren auch diese Ängste zurück. Und mit ihnen die, die von solchen Ängsten profitieren, um eigene Massen zu bilden. Von der Debatte über die Flüchtlingsströme bis zur Angst vor Islamisierung oder Globalisierung heißt es "Wir sind nicht die", wird die eigene Masse gegen eine andere Masse ins Leben gerufen. Die Masse bleibt ein ambivalentes Phänomen; sie kann eine Befreiungsbewegung sein, aber auch eine Hetzmeute.
Die 'Lange Nacht' zeichnet die großen Erzählungen über die Massen nach - die politischen und philosophischen, die literarischen, filmischen, soziologischen und politischen. Sie stellt aber auch die Frage, wer diese Erzählungen schreibt und warum. Im Namen der Masse reden viele. Hat sie aber auch selbst eine Stimme, und wenn ja: Woran erkennt man sie?