Die Lage des Landes: NRW

Von Christoph Gehring · 07.01.2010
Nordrhein-Westfalen ist nicht das größte, aber das bevölkerungsreichste Bundesland: Fast ein Viertel aller Menschen in Deutschland lebt hier. Und nicht alle leben hier gut: Das Ruhrgebiet - seit Jahrzehnten in einem scheinbar nicht enden wollenden Strukturwandel gefangen - ist immer noch und immer wieder ein Sorgenkind. Die hier ansässigen Großkonzerne sind von der weltweiten Wirtschaftskrise besonders betroffen.
Die Fast-Millionenstadt Köln ist zu einem überschuldeten, uninspirierten Ort geworden, seit sie mit dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin nicht nur Botschaften und Verbände, sondern auch Künstler, Galeristen, Wissenschaftler und andere kluge Köpfe aus der Region verloren hat. Zwar glitzert die Landeshauptstadt Düsseldorf noch, doch die konservativ-liberale Regierung von Jürgen Rüttgers kann nur noch leere Kassen vorweisen und den landesweiten Mangel verwalten.

Dennoch gilt die Landtagswahl am 9. Mai als eigentlich unverlierbar für den Ministerpräsidenten von der CDU - vor allem, weil Rüttgers sich selbst erfolgreich als der legitime Nachfolger des legendären Landesvaters Johannes Rau inszeniert.

Christa Thoben: "Was wir nicht wissen, ist, wie schlimm es wird."

"Lied für NRW":
"Erschaffen aus Ruinen,
als man die Hoffnung endlich wiederfand.
Hier an Rhein und Ruhr und in Westfalen;
Alaaf, Helau, Glückauf für unser Land!"

So recht mag das zuckersüße "Lied für NRW" nicht zu dem Land passen, das es besingt. Nordrhein-Westfalen ist nicht nur bevölkerungsreich, sondern auch reich an Problemen. Wobei sich auf einer Rundreise durch Nordrhein-Westfalen irgendwie immer alle bemühen einem zu erklären, dass alles nicht so schlimm ist, wie man meinen könnte. Man könnte meinen: Wir in Nordrhein-Westfalen, wir schaffen das schon.

Christiane Schönefeld: "Die Arbeitslosigkeit ist im Jahr 2009 längst nicht in dem Umfang gestiegen, wie wir befürchtet hatten. Die Instrumente der Beschäftigungssicherung haben gegriffen, sodass wir letzten Endes eine jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit von 803.000 haben, die rund 50.000 über dem Wert von 2008 liegt. Also der Krise entsprechend noch relativ gering."

Christiane Schönefeld ist die Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit. Anders gesagt: Christiane Schönefeld ist die oberste Verwalterin der Arbeitslosigkeit zwischen Rhein und Weser. Und wann immer Christiane Schönefeld seit dem Beginn der Wirtschaftskrise die Arbeitslosenstatistik für Nordrhein-Westfalen vorstellt – sie tut das monatlich – schwingt in ihrer Stimme so eine stolze Verwunderung mit, dass es tatsächlich bisher nicht so schlimm gekommen ist, wie die meisten befürchtet haben.

Eine Arbeitslosenquote im Land von 8,7 Prozent im Dezember 2009, knapp 800.000 als arbeitssuchend gemeldete Nordrhein-Westfalen also – das ist jedenfalls noch keine Katastrophe. Und dass die Katastrophe in der Krise bisher nicht stattgefunden hat, sagen die nordrhein-westfälischen Meinungs- und Entscheidungsträger, liege an dem breiten Konsens, mit dem in diesem Bundesland seit den seligen Zeiten von Johannes Rau Politik und Wirtschaft und die Gewerkschaften zusammenarbeiten. "Wir in Nordrhein-Westfalen" eben.

Christiane Schönefeld: "Beschäftigungssicherung ist überwiegend Kurzarbeit. Wir hatten über 300.000 Kurzarbeiter in der Mitte des Jahres 2009. Aber auch natürlich Instrumente, die betriebsintern angewandt werden, wie Abbau von Zeitguthaben und ähnliche Instrumente."

Sagt die Chefin der Arbeitsagentur. Die IG Metall sagt:

Wolfgang Nettelstroth: "Da, wo Betriebsräte an der strategischen Entwicklung des Unternehmens beteiligt sind, fällt die Krise weniger hart aus und ist die Zukunftsaussicht besser als in Betrieben, wo beispielsweise Arbeitgeber diese Beteiligung der Beschäftigten und Betriebsräte verweigern."

Und die Wirtschaftsministerin findet:

Christa Thoben: "Es helfen uns, das will ich auch gerne mal sagen, Tarifverträge, wie die IG Metall sie abgeschlossen hat, die eine noch größere Flexibilität über den Ausgleich – Wie viele Stunden nehme ich in Anspruch? Wann zahle ich? Wann müssen die Stunden dann geleistet werden? – aber das ist schon noch, ja: eine spannende, aber auch ein bisschen bedrückende Frage."

Die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Christa Thoben ist CDU-Mitglied, eher marktliberal und trotzdem eine Freundin der Gewerkschaften. Oder jedenfalls keine Gewerkschaftsgegnerin. Von ihrem Ministerinnenbüro in der 17. Etage hat sie einen beeindruckenden Blick über Düsseldorf, auf den Landtag zu Füßen des Gebäudes und auf den Rhein. Man könnte sich die Welt und die Wirtschaftslage und den ganzen Rest schön denken hier oben. Eine Versuchung, der Christa Thoben zu widerstehen versucht.

Christa Thoben: "Ja, aber ist ja so: Entweder man läuft vor der Realität weg – ich habe für mich immer dafür geworben: Ran an die Wirklichkeit. Dann kann man sich immer noch auf eine langsamere Schrittfolge einlassen, damit die Menschen es aushalten. Aber ohne, dass man über die Wirklichkeit spricht, geht’s gar nicht."

Die Wirklichkeit ist, dass Nordrhein-Westfalen seit ungefähr 50 Jahren einen schwelenden Krisenherd hat: Das Ruhrgebiet. Solange die Schlote noch rauchten, dass der Himmel kaum zu sehen war, war das Revier ein Umweltnotstandsgebiet, in dem Flüsse eingezäunt werden mussten, damit Mensch und Tier nicht in Gefahr gerieten, sich an der brackigen Brühe zu vergiften. Damals waren sie hier reich, aber rachitisch und bronchienkrank. Und Georg Kreisler setzte dem Ruhrgebiet ein rasend hinterhältiges Denkmal.

"Gelsenkirchen" (Georg Kreisler)
"Wo ist der Kinobesuch und der Alkoholismus erheblich, hm?
Wo ist die Bettwäsche grau und die Seifenreklame vergeblich?
Wo verspottet man Diogenes, weil er zufrieden war mit einer Tonne?
Wo wird der Vier-Jahres-Plan erfüllt, alle vier Jahre sehen wir die Sonne?
Wem dringt der Bohrhammerlärm täglich durchs rußige Ohr?
Wer hat den norddeutschen Ernst verbunden mit Schweizer Humor?
Ja sehen Sie, das hat
nur uns’re Heimatstadt:
Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen,
nicht in Berlin und nicht in New York und nicht in Paris.
Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen,
in uns’rem urgemütlichen Grubengasparadies."

Dann versprach Willy Brandt vor 40 Jahren einen blauen Himmel über der Ruhr, der auch kam, aber anders als erhofft: Die Schwerindustrie ging in die Knie und die Luft wurde sauberer, weil eine Zeche, eine Kokerei, ein Stahlwerk nach dem anderen schloss. Seitdem scheint das Ruhrgebiet in einer Endlosschleife namens "Strukturwandel" gefangen zu sein. Der Strukturwandel geht nun schon seit drei Jahrzehnten und immer wieder sollte sich der Pott neu erfinden.

Christa Thoben: "Von der alten Montanindustrie Abschied zu nehmen, das ist fast vollzogen. Die Stahlindustrie hat sich ein ganzes Stück neu erfunden mit modernsten Werkstoffen, und aus dem Steinkohlebergbau ist der sozialverträgliche Ausstieg verabredet. Es sind viele neue Dinge im Ruhrgebiet entstanden, und was ich gut finde: Im Ruhrgebiet gibt’s längst auch Stärken – Werkstoffe, Logistik und Energie. Und wenn Sie da gucken, da haben sich die meisten Unternehmen in diesem Ballungsraum neu erfunden."

Die letzte Erfindung der Landesregierung war: Kultur statt Kohle. Essen und das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010. Für die einen war das eine erstaunliche Idee, für die anderen ein riesiges Infrastrukturprojekt, ein neues Geschäftsmodell für die Revierstädte. Deswegen hat die Landesregierung eine Menge Geld in die Hand genommen für Projekte, vor allem aber für neue Immobilien, in denen auch nach dem Ende des Kulturhauptstadtjahres die Kulturwirtschaft erblühen soll. Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, der für kulturelle Angelegenheiten in Nordrhein-Westfalen zuständige Staatssekretär, erzählt gerne davon, wie viel dem Land die Förderung der Kultur als Wirtschaftsfaktor im Ruhrgebiet wert ist:

"Wir geben als Land zum Beispiel außer den zwölf Millionen, die wir in die Gesellschaft hinein geben, noch weitere 108 Millionen, insgesamt also rund 120 Millionen, aus Anlass der Kulturhauptstadt für besondere Projekte, die wir zusätzlich fördern, für Bauvorhaben et cetera, aber keineswegs nur für Bauvorhaben. Daraus werden neue Zukunftsprojekte entstehen. Das gilt erst recht für ein Projekt wie das Dortmunder U.

Also ohne Dortmunder U wäre die ISEA, also die Internationale Ausstellung für elektronische Kunst, niemals nach Deutschland, geschweige denn ins Ruhrgebiet nach Dortmund gekommen. Das war nur mit diesem Konzept möglich. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Ich glaube schon, dass hier Langzeitwirkungen da sein werden, wo wir jetzt im Jahr 2010 einen Nukleus schaffen, der dann aber wachsen kann."

… und wachsen muss. Denn für Christiane Schönefeld, die NRW-Chefin der Arbeitsagentur, ist das Ruhrgebiet nach wie vor eine Problemzone:

"Im Ruhrgebiet ist natürlich die Arbeitslosigkeit strukturell höher als in anderen Regionen, das Ruhrgebiet hat auch von der konjunkturellen Entwicklung nicht so profitiert wie beispielsweise die Regionen Ostwestfalen, Südwestfalen und das Münsterland."

Deswegen jetzt also – Kultur, Kunst, Medien. Das Dortmunder U, das alte Fabrikgebäude der Union-Brauerei, soll zum Medienkunstzentrum werden, ringsum sollen sich Kreative ansiedeln und zur Wertschöpfung beitragen.

Fritz Pleitgen: "Wir glauben, dass Kultur die Menschen und auch die Gesellschaft inspiriert, Inspiration schafft Kreativität und Kreativität produziert auch Arbeitsplätze. Und das ist auch das, was die Europäische Kommission von uns erwartet: Wir sollen die Kulturwirtschaft ankurbeln oder eher dort Impulse setzen, wir sollen den Kulturtourismus fördern – all das versuchen wir zu erfüllen. Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel. Es gibt keine Region in Europa, die so sehr für den Wandel steht wie das Ruhrgebiet. Es war das Herz der Schwerindustrie, es war das Rüstungszentrum, es war nach dem Krieg – obwohl total zerstört und am Boden – dann zum Motor des deutschen Wirtschaftswunders geworden.

Es ist durch Kohle und Stahl eine der Wiegen des vereinten Europas. Es ist wieder runtergegangen durch die Kohle- und Stahlkrisen, wieder hochgekommen als Energie- und Logistikzentrum und ist nun Kulturhauptstadt Europas. Dieser Wandel gibt das Vertrauen, dass man auch in Zukunft etwas schaffen kann, um die Herausforderungen, die auf uns zukommen werden, dann auch zu meistern. Also in dieser Hinsicht ist das Ruhrgebiet gut trainiert."

Fritz Pleitgen, der Geschäftsführer der Ruhr.2010-GmbH, früher einmal Intendant des Westdeutschen Rundfunks und zweifellos ein Mann mit den besten Absichten, glaubt an seine Mission. Wolfgang Nettelstroth hingegen ist skeptisch. Als Sprecher der Bezirksleitung Nordrhein-Westfalen bei der IG Metall muss er das auch sein, denn seine Gewerkschaftsmitglieder, das sind die, die Stahl, Feinbleche, ausgefuchste Kfz-Komponenten, Großkraftwerke und Schaltschränke herstellen. Die kann man nicht zu Kreativkünstlern und Medienmachern umschulen. Zu Gentechnikern und Biologen übrigens auch nicht.

Deswegen sorgt sich Wolfgang Nettelstroth darum, dass die Landesregierung in Düsseldorf bei ihrer Begeisterung für Labore und Spitzenforschung, die ebenfalls mit viel Geld gepäppelt werden, aus dem Blick verliert, was immer noch den meisten Menschen in Nordrhein-Westfalen Lohn und Brot und dem Land Steuereinnahmen beschert: Die industrielle Produktion von langlebigen Wirtschaftsgütern.

Wolfgang Nettelstroth: "Wir können nicht ein Land der Blaupausenproduzenten werden in Nordrhein-Westfalen, wir müssen industrielle Fertigung hier erhalten. Und da reicht es nicht, viel Geld für Bio- und Gentechnik auszugeben, aber die industrielle Fertigung nicht in den Mittelpunkt von Politik zu rücken. Die Landesregierung hat einiges von diesen Problemen erkannt, aber aus unserer Sicht geht das nicht weit genug.

Wir sehen strukturelle Risiken auf unsere Branchen in Nordrhein-Westfalen zukommen und wir erwarten jetzt von der Landesregierung, dass genau dazu auch eine systematische Analyse erfolgt, welche industriellen Bereiche sind hier besonders in den nächsten zwei, drei oder fünf Jahren von Veränderungen betroffen? Und mit welchen Strategien ist dem so gegenzusteuern, dass wir nicht in einen weiteren massiven Verlust von Arbeitsplätzen reinrasseln?"

Im Zweifel heißt die Strategie immer: Geld vom Staat. Wie bei Opel, um dessen Werk in Bochum die Landesregierung Seit’ an Seit’ mit den Gewerkschaften und der Belegschaft kämpfte, bis der Europachef von General Motors Ende November vergangenen Jahres endlich verkündete: Das Werk bleibt.

Nick Reilly: "”I have been able to confirm this morning that Bochum remains an important part of the resources of General Motors in Europe, going forward.”"

Bei Opel ging es immerhin um den letzten industriellen Kern, den die Stadt Bochum noch hat. Es ging um mehr als 5000 Arbeitsplätze im Revier und die Erkenntnis, dass die für immer verloren wären, wäre das Werk geschlossen worden. In so einer Situation, findet Wirtschaftsministerin Christa Thoben, kann der Staat nicht nur eingreifen, er muss eingreifen – vor allem, wenn ein Ministerpräsident wie Jürgen Rüttgers nicht nur ein sorgsam gepflegtes Image als Arbeiterführer zu verlieren hat, sondern in nächster Zukunft, Anfang Mai, auch eine Landtagswahl gewinnen möchte.

Christa Thoben: "Unbestritten hat die Automobilindustrie Überkapazitäten. Unbestritten war auch im ersten Anlauf, dass auch Opel in Europa Überkapazitäten hat. Dass die Bundesregierung und wir auch bereit waren, einen Überbrückungskredit zu geben, das hatte schlicht was damit zu tun: Hätten wir’s nicht gemacht, dann wären wir unter Chapter 11, unter dem GM in den USA stand, überhaupt nicht mehr handlungsfähig gewesen.

Da hätten die mit uns machen können, was sie wollten. Dadurch, dass wir die Treuhand aufgestellt haben und bereit waren, den Überbrückungskredit zu zahlen, konnten wir mitreden. Und das ist bei zigtausend Arbeitsplätzen nicht ganz unwichtig. Der Überbrückungskredit ist übrigens hoch verzinst zurückgezahlt worden. Also das Land Nordrhein-Westfalen hat an dieser Kreditvergabe Geld verdient."

Ein paar Ministerien weiter, im Büro von Finanzminister Helmut Linssen, wissen sie aber auch, dass das nur Peanuts sein können gemessen an Zinszahlungen von mehr als 4,5 Milliarden Euro im Jahr, einer Neuverschuldung von 6,6 Milliarden Euro für 2010 und den Tretminen, die im nordrhein-westfälischen Haushalt darauf warten, explodieren zu dürfen. Das größte Sorgenkind ist die WestLB, eine Bank bei der jahrzehntelang niemand zu fragen wagte: Was macht ihr da eigentlich?

Christa Thoben: "Die hatten kein ordentliches Geschäftsmodell, weil die Sparkassen das nicht zugelassen haben. Das man darüber hinaus auch noch die AG, die Deutschland AG finanzieren wollte, hatte auch Dimensionen, wo ich sage, das darf es so nicht geben."

Mit zehn oder mehr Milliarden ist das Land dabei, wenn die WestLB den Bach runtergeht. Und vermutlich würde es auch die nordrhein-westfälischen Sparkassen, die bisher die größten Anteilseigner des kranken Kreditinstituts waren, in den Abgrund reißen. Das wiederum würde die Städte und Gemeinden treffen – und denen geht es in Nordrhein-Westfalen ohnehin schon schlechter als anderswo. Aus dem Ruhrgebiet berichtet Lars-Ludwig von der Gönna, Reporter bei der WAZ, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung:

"Wir haben Schwimmbäder, in denen die Badetemperatur runtergeregelt wird, um Stellen hinter dem Komma zu sparen. Wir haben Stadtteilbibliotheksschließungen. Wir haben ganze Behörden, die für 14 Tage in Ferien geschickt werden, um Geld zu sparen – in Dortmund etwa."

20 Milliarden Euro an sogenannten Kassenkrediten haben die Kommunen im Land angehäuft. Kassenkredite in Anspruch zu nehmen, das ist für die Stadtverwaltungen so etwas wie bei den Bürgern der Rückgriff auf den Dispokredit. Und für die Kommunalaufsicht, die Regierungspräsidenten, ein Anlass, sehr genau zu prüfen, ob die so verschuldeten Gemeinden unter finanzielle Aufsicht gestellt werden müssen. Viele müssen: Fast die Hälfte der nordrhein-westfälischen Kommunen wird nicht im Stande sein, für 2010 einen genehmigungsfähigen Haushalt aufzustellen.

Norbert Walter-Borjans: "Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland insgesamt befinden sich auch in einer strukturellen Schieflage, sie haben mehr Aufgaben zu leisten als sie an Einnahmequellen haben. Und das heißt: Da müssen wir wirklich rangehen."

Norbert Walter-Borjans hat es so gesehen noch gut: Er ist Kämmerer und Wirtschaftsdezernent der Stadt Köln, der es besser geht, als das reichlich verlebte Stadtbild ahnen lässt. Auch hier sind die Gewerbesteuererträge um 200 Millionen Euro eingebrochen, auch hier machen sich steigende Sozialausgaben bemerkbar. 2,6 Milliarden Euro Schulden hat die Stadt, 2.600 Euro pro Bürger.

In diesem Jahr gähnt zwischen Einnahmen und Ausgaben ein Abgrund von 540 Millionen Euro, es könnten auch 600 Millionen werden, sagt der Stadtkämmerer. Aber der Stadtkämmerer sagt auch, dass das zwar schwierig, aber noch nicht bedrohlich sei, weil Köln außer zu wenig liquider Mittel auch ein großes Vermögen besitze. Denn die Stadt habe in der Vergangenheit klug gehandelt.

Norbert Walter-Borjans: "Wir haben in den vergangenen Jahren unser Vermögen eben nicht verkauft. Da haben uns andere vorgeworfen: Ja, aber auf der anderen Seite habt ihr Schulden, die haben die einen getilgt. Es haben viele ihrer Schulden getilgt, indem sie Vermögen verscherbelt haben, haben mit dem Berg, den sie da bekommen haben, das Loch auf der anderen Seite gefüllt.

Und da kann man nur sagen, wenn Sie das mal auf den privaten Bereich übertragen, wenn Sie ein Haus haben und das hat noch einen Kredit, dann frage ich Sie mal: Wenn Sie das Haus verkaufen und den Kredit abtragen, sind Sie dann wohlhabender? Ich würde das immer verneinen."

Das ist ein ziemlich gemeiner Seitenhieb auf die Landeshauptstadt Düsseldorf, der die Kölner ohnehin in inniger Abneigung zugetan sind. Düsseldorf hat alle seine Schulden abgetragen, indem alles zu Geld gemacht wurde, was eben da war – einschließlich der Stadtwerke, die immer einen schönen Gewinn gemacht haben. Doch auch Düsseldorf gibt wieder mehr Geld aus als es einnimmt, muss mehr Geld ausgeben.

Denn wann immer der Bund oder das Land neue Ideen haben, wie das Leben der Menschen zu verbessern sei, müssen am Ende regelmäßig die Kommunen dafür bezahlen. Beispielsweise beim Ausbau der Kleinkindbetreuung. Da ruft Norbert Walter-Borjans dem Bund und dem Land zu:

"Das, was Ihr da veranstaltet, treibt die Kommunen in die Handlungsunfähigkeit. Ich möchte gerne wissen, wie das aussehen soll, wenn wir alle in den Nothaushalt rutschen und wenn ein Regierungspräsident in Köln für ich weiß nicht wie viele hundert Gemeinden den Haushalt führen muss. Das wird ein neues administratives Problem.

Also ich hätte da auch als Land ein großes Interesse daran, den Kommunen die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Und das heißt: Sie müssen bezahlen. Unser Oberbürgermeister Jürgen Roters hat ja auch schon deutlich gemacht, es gibt auch einen bestimmten Punkt, ab wo man das weitere Durchführen von Verpflichtungen, für die es kein Geld gibt, schlicht und einfach boykottieren muss, wo man sagen muss, die werden wir ablehnen."

Ein städtischer Wahlbeamter, der mit Gesetzesbruch droht – das ist vermutlich nicht das, was sich Landesvater Jürgen Rüttgers vorstellt, wenn er von starken Städten schwärmt, die er sich für Nordrhein-Westfalen wünscht. Aber wenn’s ums Geld geht, ist es irgendwann vorbei mit dem Wir-Gefühl der Nordrhein-Westfalen.

"Ein Lied für NRW" bis Schluss:
"Hier an Rhein und Ruhr und in Westfalen,
an Sieg und Ems,
im Lipperland,
hier an Rhein und Ruhr und in Westfalen,
schlägt unser Herz, lebt unser Land!
(schlägt unser Herz, lebt unser Land!)
(schlägt unser Herz, lebt unser Land!)"