Die Krise und Ich

"Wir müssen etwas gegen Bildungsarmut tun"

Moderation: Katrin Heise · 24.02.2014
Der deutschen Mittelschicht kommt die Kalkulierbarkeit abhanden, deshalb leidet sie unter Abstiegsängsten. Das sagt der Soziologe Armin Nassehi. Es brauche dringend Investitionen in Bildung - für den Einzelnen und für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Katrin Heise: Leiharbeit, andauernde Praktika oder Zeitverträge statt eine Stelle mit Aussicht auf Verbesserung, das ist die Jobwirklichkeit von vielen in unserem Land - prekäre Beschäftigung wird das dann zusammengefasst, sprich: Unsicherheit, was die Zukunft angeht. Und die Mittelschicht, auf die man in Deutschland stolz ist, auf die Parteien vor einigen Jahren noch abzielten mit ihrer Wahlwerbung, diese Mittelschicht hat zunehmend Angst, nach unten abzurutschen. Ich begrüße jetzt den Soziologen Armin Nassehi, schönen guten Tag!
Armin Nassehi: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Verstehen Sie, Herr Nassehi, die Angst vor dem sozialen Abstieg?
Nassehi: Ja, ich verstehe die Angst durchaus. Die Frage ist, ob diese Angst tatsächlich einen so realistischen Hintergrund hat, wie diese Angst es selber impliziert, aber Ängste sind ja – das sagt ja auch schon der Begriff – nicht sozusagen auf rationale Gründe meistens zurückzuführen. Die Angst verstehe ich, die muss man auch ernst nehmen, die Frage ist nur, wo sie herkommt.
Heise: Ist diese Angst denn begründet, Ihrer Meinung nach?
Nassehi: Na ja, sie ist sicherlich volkswirtschaftlich nicht eindeutig begründet. Also, wenn wir die ökonomische Entwicklung der Bundesrepublik in den letzten Jahren uns betrachten, dann kann man durchaus sagen, dass die sogenannte Mittelschicht, einkommenstechnisch Mittelschicht, in der Tat gesunken ist um etwa fünf Millionen Menschen seit 1997 und untere Schichten gewachsen sind. Aber es gibt eigentlich keine ja offensichtlichen Parameter, dass die Mittelschichten unmittelbar absteigen könnten. Es gibt sehr unterschiedliche sozialwissenschaftliche und auch volkswirtschaftliche Untersuchungen dazu, die uns eindeutig sagen, dass es sich um eine übertriebene Angst handelt. Aber gerade der, der Angst hat, dem sozusagen zu sagen, deine Angst ist übertrieben, wird die Angst womöglich noch erhöhen.
"Der Mechanismus, der zu Angst führt"
Heise: Sie haben verschiedene Studien angesprochen, eine ist die Bertelsmann-Studie. Die hat eben gerade zum Beispiel herausgefunden, dass diese Mittelschicht tatsächlich zurückgegangen sei, jeder vierte Angehörige der Mittelschicht mache sich dieser Studie zufolge große materielle Sorgen. Das Deutsche Institut der Wirtschaft sieht das anders. Aber beispielsweise ist da auch herausgefunden worden: Wer sozial absteigt, hat schlechtere Chancen, sich wieder hochzuarbeiten. 70 Prozent der unteren Einkommensschichten befinden sich nach drei Jahren immer noch in derselben Schicht. Also, das heißt, da ist etwas anders geworden.
Nassehi: In der Tat. Ökonomisch gesprochen, würde man sagen, die Volatilität ist nur noch in die Abwärtsrichtung zu beobachten, nicht mehr in die Aufwärtsrichtung. Das ist das eigentliche Ergebnis dieser Studie, dass der Aufstieg in der Bundesrepublik immer schwieriger geworden ist. Übrigens nicht nur für diejenigen, die mal abgestiegen sind, sondern auch für diejenigen, die gewissermaßen aus den sogenannten unteren Schichten aufsteigen können. Das war ja das Grundnarrativ der Bundesrepublik, dass jeder, der sich selbst bemüht – und das bedeutete natürlich innerhalb eines expandierenden Bildungssystems: mit entsprechenden Zertifikaten ausgestattet wurde –, sozial aufsteigen kann. Dieser Mechanismus ist in der Bundesrepublik auch im Vergleich zu ähnlichen Industrieländern stark unterbrochen worden. Und das könnte auch der Mechanismus sein, der dann auch in den Mittelschichten, in denen es zum Teil noch Stabilität gibt, zu Angst führt.
Heise: Sie haben jetzt aber davon gesprochen, dass diese Angst un- oder überproportional ist!
Nassehi: Ja, das sagen die Daten relativ eindeutig. Sie ist insofern überproportional, als die Mittelschichten tatsächlich noch in einer vergleichsweise ja stabilen Situation leben. Aber was man sagen kann, ist, dass die Mittelschichten sich durchaus einer gewissen Verunsicherung gegenüber sehen. Also, so etwas wie Sicherheit und ein positives Zukunftsbild, das hängt ja nicht nur von objektiven Daten ab, sondern es hängt auch von der Idee ab, dass man in einer Gesellschaft lebt, mit der man irgendwie rechnen kann, die kalkulierbar ist. Und diese Kalkulierbarkeit, die scheint irgendwie zu verschwinden.
Also, wenn Sie heute nicht die ökonomische Mitte, sondern die kulturelle Mitte ansprechen, dann werden Sie feststellen, dass es da eine große Unsicherheit gibt. Wenn Sie etwa daran denken, dass wir heute wieder Debatten über Homophobie selbst in Fernsehdiskussionen abends führen, wie große Probleme gerade die Gruppen, die von Einwanderung am wenigsten bedroht sind, mit der Einwanderung haben. Oder denken Sie etwa an die starke Moralisierung etwa der Steuersünder, Hoeneß und Schwarzer könnte man hier nennen.
Das sind ja alles Hinweise darauf, dass die eigentlich stabile Mittelschicht es mit einer Welt zu tun hat, in der sie offenbar mit Veränderungen in der gleichen Weise nicht mehr klarkommt wie vorher. Eigentlich waren die Mittelschichten diejenigen, die am stabilsten auf Veränderungen reagiert haben. Das scheint heute nicht mehr der Fall zu sein. Und daraus entstehen dann Ängste.
"Verpasste Reformchancen im Bildungssystem"
Heise: Das erinnert mich so ein bisschen an die Debatte von vor zwei Wochen – war es vor zwei Wochen? –, als in der Schweiz abgestimmt wurde über das Migrationskonzept der Schweiz. Da war genau davon auch die Rede, dass die Schweizer Ängste haben, Ängste vor eben Abstieg. Auf den ersten Blick kann man das überhaupt nicht nachvollziehen. Ist das so ein bisschen parallel?
Nassehi: Ja, das ist parallel und auch paradox, weil üblicherweise die Gruppen, die, sagen wir mal, unmittelbare Konkurrenten sind für Einwanderer, da kann man ja vielleicht noch verstehen, dass Ängste entstehen, auch wenn diese Konkurrenzsituation so real oftmals gar nicht ist. Aber dass das für die Mittelschichten gilt, für die das ja objektiv gar nicht der Fall ist, das ist dann schon in der Tat paradox. Aber man kann sehr schön sehen, dass Ängste eben dadurch entstehen, dass bestimmte Narrative, bestimmte Erzählformen, bestimmte Selbstverständlichkeiten nicht mehr gelten. Und dann ist Einwanderung natürlich ein ganz wunderbares Beispiel, zurzeit getoppt durch die Homophobiedebatte.
Heise: Sie haben jetzt eben davon gesprochen, dass bestimmte Erzählungen, bestimmte Dinge, die wir immer wieder der nächsten Generation mitgeben, nämlich: Man kann aufsteigen, durch Bildung ist der Aufstieg möglich. Oder: Wenn man einmal abgestiegen ist, ist das nichts Schlimmes eigentlich, man kann dann wieder aufstehen. Das gilt so nicht mehr. Gilt es tatsächlich nicht mehr?
Nassehi: Ja, also, hier, muss man sagen, gibt es tatsächlich sehr objektive Hinweise darauf, dass in der Bundesrepublik im Vergleich zu ähnlichen Ländern so etwas wie ein durch Bildung organisierter Aufstieg schwieriger geworden ist. Das hängt sicherlich auch mit womöglich verpassten Reformchancen im Bildungssystem zusammen, wir haben immer noch in Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Ländern eine mangelnde Möglichkeit, sozusagen aufzusteigen und die unterschiedlichen Schultypen entsprechend zu wechseln. Das geht zwar einfacher, als es nach dem dreigliedrigen Schulsystem auf den ersten Blick aussieht, aber da gibt es in der Tat einen Nachholbedarf.
Also, wenn man tatsächlich die Frage stellen wollte, was kann man politisch eigentlich tun, um gegen diese Ängste vorzugehen, dann ist es keineswegs zu beschwichtigen, sondern zu sagen, also, wir müssen so etwas wie sozialen Aufstieg wieder möglich machen. Im Übrigen ist dieser soziale Aufstieg auch nötig. Wir laufen auf eine demografische Entwicklung zu, bei der wir ganz ähnlich wie am Ende der 60er-Jahre die Potenziale, die die Gesellschaft hat, stärker ausnutzen müssen.
Und sind geradezu darauf angewiesen, so etwas wie einen durch Bildung ermöglichten Aufstieg – Bildung heißt übrigens nicht nur, dass alle eine Hochschulausbildung bekommen, sondern auch in nichtakademischen Berufen sozusagen Aufstiegsmöglichkeiten - zu organisieren, das wird sowohl Ängste verhindern als auch tatsächlich so etwas wie volkswirtschaftliche positive Effekte haben, die dann wiederum die Bedingungen der Ängste kleiner machen werden.
"Auf einer Insel der Seligen"
Heise: Wie sehen Sie eigentlich den Zusammenhang zwischen gestiegener Angst und dem Weltgeschehen, also Globalisierung?
Nassehi: Na ja, gut, ich meine, die Bundesrepublik ist immer jemand gewesen, also, wenn man sie jetzt als Person bezeichnen wollte, die sozusagen ein insuläres Bild ihrer selbst hatte. Wir lebten ja schon lange auf einer Insel der Seligen und haben uns wenig darum gekümmert, was drum herum passiert. Wir diskutieren solche Dinge sehr oft mit einem sehr nationalen und auf uns selbst bezogenen Fokus, was man in Europa ja jetzt sehr schön sehen kann. Also, die Bundesrepublik ist sicherlich das stärkste Land in Europa, aber die Ängste sind trotzdem stark da.
Allerdings ist die Globalisierung – das weiß jeder, der in mittelständischen Betrieben arbeitet und mit Weltmärkten zu tun hat – auch in der Bundesrepublik angekommen. Das produziert natürlich Ängste, das produziert aber auch Chancen. Für die Wirtschaft ist die Globalisierung bisweilen ein Segen, weil sich neue Märkte erschließen, kulturell ist es das ohnehin. Die Frage ist nur, ob wir uns auch einstellungsmäßig darauf entsprechend einstellen können.
Heise: Welche Rolle spielen eigentlich Medien dabei?
Nassehi: Na ja, die Medien spielen in allen Richtungen natürlich die entsprechenden Rollen. Also, Medien können aufklären, Medien sind aber auch diejenigen, die genau die Narrative verbreiten, über die man hinterher aufklären muss. Also, man kann nicht sagen, dass die Medien an irgendetwas schuld wären, sondern die Medien berichten ja über das, was sie berichten können. Man könnte sagen, jede Gesellschaft hat die Medien verdient, die sie verdient hat, und das ist eine große Bandbreite.
Heise: Wo sehen Sie denn dann die Verantwortlichkeit? Also, wenn Sie sagen, der Aufstieg muss wieder möglich gemacht werden, jetzt aus verschiedenerlei Gründen heraus, nicht nur um die Ängste zu reduzieren, sondern auch tatsächlich um reagieren zu können?
Nassehi: Also, ich würde hier tatsächlich bildungspolitisch ansetzen können. Die Soziologin Jutta Allmendinger hat den wunderbaren Begriff der Bildungsarmut geprägt. Wir müssen etwas gegen Bildungsarmut tun. Das heißt, wir können es uns nicht leisten, dass ganze Generationen übrigens, nicht mehr das katholische Mädchen vom Lande, sondern der muslimische Junge in der Großstadt heute diejenigen sind, die also ganze Potenziale sozusagen verschwenden. Wir müssen tatsächlich in Bildung investieren, um sowohl den einzelnen Menschen Chancen zu geben, so etwas wie Aufstiegsorientierungen für sich selber möglich zu machen, als auch uns tatsächlich fit zu machen für einen sehr volatilen Weltmarkt, der sicherlich nicht auf Deutschland wartet.
Heise: Abstiegsängste aus soziologischer Sicht. Der Soziologe Armin Nassehi war das, danke schön, Herr Nassehi!
Nassehi: Ich danke Ihnen!
Heise: Unser Thema: Die Krise und Ich-Erfahrung mit dem sozialen Abstieg. Die verfolgen wir in dieser Woche mit wechselnden Gesprächspartnern und jeweils um zehn vor zwölf ergänzen wir das Ganze mit sozusagen Innenansichten eines Downgradings, eines Abstiegs. Informationen rund ums Thema finden Sie auf unserer Internetseite deutschlandradiokultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema