Die Krise ist "eine gute Sache für die europäische Identität"

Maxim Leo im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.01.2012
Bisher war es relativ einfach für uns, Europäer zu sein, meint der Buchautor und Reporter Maxim Leo. Doch jetzt werde deutlich: "Europa ist keine Veranstaltung, die immer so weitergehen wird, wenn wir nichts dafür tun".
Dieter Kassel: Seit Montag haben wir ungefähr um diese Zeit, kurz nach den 14-Uhr-Nachrichten, schon viermal mit jungen Intellektuellen über "Unser Europa" gesprochen, haben uns von ihnen erklären lassen, was Europa für sie bedeutet, und wie sie sich die Zukunft der europäischen Einheit vorstellen. Zum vorläufigen Abschluss dieser kleinen Reihe habe ich vor dieser Sendung mit dem Journalisten und Schriftsteller Maxim Leo gesprochen. Er ist festangestellter Reporter bei der "Berliner Zeitung", und er hat für seinen Roman "Haltet euer Herz bereit" im Dezember den Europäischen Buchpreis bekommen.

In diesem Roman "Haltet euer Herz bereit" erzählt er die Geschichte seiner Familie. Das beginnt zum Beispiel bei einem seiner beiden Großväter, der in Frankreich gelebt hat in den 1930er-Jahren und der dort Teil der Resistance war. Er erzählt aber auch seine eigene Familiengeschichte, also die zu seinen Lebzeiten. Er ist 1970 in Ostberlin geboren und hat in der DDR miterlebt, wie sich seine eigenen Eltern immer stritten um das, was Europa, was Internationalität und natürlich auch, was Sozialismus bedeutet. Er hat also eigentlich Europa immer im Blick gehabt beim Aufwachsen, ist heute auch mit einer Französin verheiratet und hat in Paris studiert.

Ich habe ihn, Maxim Leo, deshalb zu Beginn unseres Gespräches gefragt, ob es für jemanden wie ihn eigentlich ganz selbstverständlich und ganz einfach sei, sich als Europäer zu sehen.

Maxim Leo: Bisher war es ja relativ einfach für uns, Europäer zu sein, und es war sogar manchmal, so gerade in den 90er-Jahren manchmal zu einfach, fand ich. Also es war dieses Bekenntnis zu Europa, dieses ein bisschen fast schon holzschnittartige darüber-Reden und dieses stakkatoartige sich dazu bekennen der alten Männer ging mir manchmal schon ein bisschen auf die Nerven. Und jetzt kommt so eine Phase, wo auf einmal klar ist: Europa ist keine Veranstaltung, die immer so weitergehen wird, wenn wir nichts dafür tun und wenn wir nicht uns dafür engagieren. Und es läuft nicht immer automatisch so weiter, was ich dachte, nicht? Also ich dachte: Die Sache ist auf der Schiene, die funktioniert.

Kassel: Das heißt, diese Idee, wir haben Europa den Bürokraten überlassen – was ja indirekt drinsteckt in diesem Aufruf –, ist im Prinzip richtig?

Leo: Das stimmt, ja.

Kassel: Wir haben gedacht: Die in Brüssel und Straßburg, manchmal gehen die auf die Nerven, aber die machen das schon.

Leo: Die machen das, und das war die Generation derer, die aus der eigenen Kriegserfahrung abgeleitet haben, dass sie sich für was Neues engagieren müssen. Zum Beispiel mein Schwiegervater, der ist jetzt 73, der kommt aus einer französischen Militärfamilie, der ist nach Brüssel gegangen als junger Mann und wurde dort Funktionär der Europäischen Kommission und war bis zu seinem Arbeitsende dort tätig. Für den war diese Arbeit in Brüssel Wiedergutmachung an der Tradition seiner eigenen Familie. Und diese Generation ist mir jedenfalls oft ein bisschen auf die Nerven gegangen, weil sie so eine Wiedergutmachung forderten, die für mich schon lange passiert war. Für mich ging es eigentlich immer eher darum: Was passiert denn jetzt, nach der Wiedergutmachung, was machen wir denn jetzt zusammen? Und jetzt merkt man aber, dass auf einmal Spannungen auftreten, Probleme auftreten und diese Einigkeit viel brüchiger ist, als man dachte.

Kassel: Ist das gut oder schlecht?

Leo: Es ist vielleicht für unsere Generation ganz gut, weil wir merken, dass wir uns nicht auf die Alten verlassen können, und dass wir schon auch selber ein bisschen was tun müssen, damit die Dinge so bleiben, wie sie sind, und sich hoffentlich sogar noch weiter entwickeln. Und insofern ist es als Mobilisierungsmoment für uns und vielleicht auch noch für die, die viel jünger sind, und die vielleicht davon noch weniger mitbekommen haben als wir, gar nicht so schlecht.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur in der heutigen letzten Folge unserer kleinen Serie "Unser Europa" mit dem Journalisten und Schriftsteller Maxim Leo, und wir haben gleich am Montag, als wir angefangen haben, darüber zu reden, Herr Leo – da haben wir das getan mit dem polnischen Regisseur Stanislaw Mucha – eine ziemliche Breitseite bekommen bei einer Frage, der hat nämlich auf die Frage, ob es so etwas gibt und auch geben kann in Zukunft wie die europäische Identität, gesagt: nein, hat er gesagt, das ist Quatsch, das findet er nicht. Also er hat aus Osteuropasicht witzigerweise gesagt: Man ist entweder Pole oder Russe, aber man ist nicht Europäer. Wie sehen Sie das, kann es so was wie eine europäische Identität geben? Also nicht nur, wenn man am Ende der Welt nicht viel erklären will, dann sagt man: I’m European. Aber auch wirklich eine Identität?

Leo: Na ja, es ist schon so, dass ich denke, dass es das zum Teil schon gibt und auch geben kann. Es kann eine kulturelle Identität geben, und ich denke, dass die in manchen Schichten der Gesellschaft in Deutschland auch schon da ist, vor allem natürlich in einer gewissen Eliteschicht in Deutschland, wo man sich unter Intellektuellen mit anderen Ländern verbunden fühlt, aber auch wo es auch mehr ist, als nur die Zusammenarbeit von zwei Ländern, sondern wo es darum geht, etwas europäisches Gemeinsames zu denken. In der Nähe von Berlin gibt es ja dieses Schloss Genshagen zum Beispiel, wenn man da hinfährt, das ist nicht mehr Deutschland oder Brandenburg, oder … sondern da ist Europa. Da sind Leute, die ganz selbstverständlich über die eigenen Landesgrenzen und Identitäten hinausdenken, und die auch sich ganz anders fühlen als … ob die jetzt schon Europäer sind, weiß ich nicht.

Mich erinnert es ein bisschen in der DDR so an diesen Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus, wo man schon nicht wusste, was der Sozialismus ist, und den Kommunismus konnte man sich erst recht nicht vorstellen. Wahrscheinlich ist es aber so, dass eine Identität sich erst in höchster Bedrängung wirklich formt. Deswegen ist diese Krise wahrscheinlich eine gute Sache für die europäische Identität, weil etwas, was einem so komfortabel serviert wird, nimmt man mit, nimmt man wahr, kann man gut finden oder schlecht finden, aber etwas, worum man mal kämpfen musste, was vielleicht in Gefahr war, wo man nicht sicher sein konnte, ob es bleibt, würde einem vielleicht näher kommen. Insofern ist diese Krise gar nicht so schlecht.

Kassel: Aber ist es nicht – Sie haben jetzt auch gerade Genshagen als Beispiel genannt, Sie haben gerade auch von den Künstlern gesprochen –, ist es nicht so eine Eliteeinheit dann? Vielleicht ist es nicht immer so das – ja, das klingt immer so herablassend, wenn ich jetzt von der Metzgerin aus Stuttgart rede oder dem Installateur aus Wiesbaden –, aber ist es nicht für die immer noch so, dass schon Frankreich Ausland ist, und dass die die EU – das ist ja oft auch ein Problem gewesen, da gibt es auch … auf die Einwohner berechnet hat übrigens die Europäische Union wesentlich weniger Beamte und Angestellte als jede normale deutsche Stadt, aber es wird immer anders empfunden –, dass viele nicht zu irgendwelchen Eliten gehörenden Menschen immer noch sagen, mich kostet die EU nur Geld, und jetzt, wo sie mich offenbar noch mehr kostet als vorher, will ich sie eigentlich nicht mehr haben?

Leo: Ja, es ist schon so. Also ich denke, es ist Europa, das ist immer eine intellektuelle Eliteveranstaltung gewesen bisher, obwohl Europa ja ganz konkrete Auswirkungen hat auf das Leben von allen Menschen. Aber es ist genau, wie Sie sagen: Wenn was schiefgeht, dann ist Europa schuld, und wenn es toll ist, dann sind die Nationalstaaten die, die es toll gemacht haben. Insofern hat Europa da immer im Bewusstsein der breiten Mehrheit auch einen schweren Stand. Aber eigentlich ist es so, dass irgendwann vielleicht das Stadium erreicht wird, wo die Leute auch merken, dass sie es verlieren können und es vielleicht in dem Moment, wo diese Möglichkeit besteht, auch ein kleines Wachrütteln stattfindet und selbst die Metzgerfrau – ich weiß nicht, woher kam sie jetzt in ihrem Beispiel? – …

Kassel: Aus Stuttgart.

Leo: … aus Stuttgart …

Kassel: Und der Installateur aus Wiesbaden. Ich habe das verteilt, aber nicht Ost-West, das wäre mir zu klischeehaft.

Leo: … genau … vielleicht auch merken, dass da was zu verlieren ist. und vielleicht ist es dann in dem Moment erst für sie auch wertvoll – aber vielleicht auch gar nicht, vielleicht findet dieser Prozess auch gar nicht statt, und vielleicht ist es auch nur ein … Also ich war neulich zum Beispiel ganz überrascht. Ich habe einen Artikel in "Le Monde" geschrieben über mich als Deutschfranzosen und über bestimmte Ängste, die ich nicht mehr habe, weil ich einfach zu tief drin bin in diesen beiden Ländern. Und da kamen dann Leserbriefe von Franzosen, die mich sehr überrascht haben, weil also erstens, das waren Leser von "Le Monde", wo man irgendwie denkt, na ja, das sind jetzt nicht die bildungsfernsten Menschen, die da unterwegs sind – und die schrieben, dass sie … also der Eine schrieb, er würde lieber sterben, als einen deutschen Pass zu bekommen, und der Andere sagte, wenn von deutsch-französischer Annäherung die Rede ist, dann könnte man doch vielleicht erst mal das andere Rheinufer besetzen. Also da waren sozusagen Meinungen da, wo mir klar wurde: Ja, wir träumen da wahrscheinlich auch gerne mal ein bisschen und denken, dass unsere Meinung oder unser Gefühl oder unser intellektuelles Elitenbewusstsein auch übertragbar wäre auf den Rest der Bevölkerung. Wahrscheinlich ist es nicht so.

Kassel: Als letzter Gast in dieser Reihe müssen Sie jetzt auch noch Utopist sein am Schluss. Ist das eine Frage der Zeit – also wenn Sie, sagen wir mal, so 30, 40 Jahre, wenn Ihnen nix geschieht, werden Sie dann noch leben von der durchschnittlichen Lebenserwartung her berechnet –, wenn wir mal 30, 40 Jahre vorausgucken, wie wird die Europäische Union, wie wird Europa dann aussehen?

Leo: Ja, das Spannende ist ja im Moment, dass man es gar nicht so richtig sagen kann. Also wenn Sie mich vor zwei Jahren gefragt hätten, hätte ich gesagt: Ja, so wie heute, nur noch ein bisschen mehr, ein bisschen größer, vielleicht ein bisschen reicher. Es kommt ja alles so durcheinander, es gibt ja so viele Infragestellungen im Moment, dass ich mich außerstande sehe, da ein Bild zu zeichnen von diesem Europa. Es kann aus dieser Krise stärker werden und gewinnen, es kann aber auch sein, dass es daran zugrunde geht, dass wir in Zustände zurückfallen, oder dass vielleicht Europa wieder kleiner wird, dass wir Europa in verschiedenen Geschwindigkeiten haben werden, dass wir so eine Art Kerneuropa behalten und das große Europa so in so einem allgemeinen Willenserklärungskonsens weiterexistiert, aber keine konkreten Konsequenzen haben wird – das wäre meine, so wie ich es jetzt sehe, so meine Spekulation, aber die ist so spekulativ. Also ich glaube, dieser Kern wird weiter bestehen, weil Deutschland und Frankreich ein unglaubliches Interesse daran haben, dass es weitergeht, und Deutschland ja auch ein wahnsinniges Interesse daran hat, dass wir unsere Sachen irgendwohin weiter exportieren können. Deswegen müssen wir die anderen ja auch irgendwie im Boot halten.

Kassel: Da sind wir doch wieder bei der Wirtschaft, man kann irgendwie doch nicht ohne Wirtschaft über Europa reden. Ich glaube, wir machen jetzt mal aus. In spätestens – zwischendurch zu anderen Themen –, aber in spätestens 30 Jahren treffen wir uns wieder, und dann gucken wir mal, was gestimmt hat von dem, was Sie gesagt haben.

Leo: Ja.

Kassel: Danke Ihnen, dass Sie heute da waren! Maxim Leo, Redakteur der "Berliner Zeitung", Buchautor, hat für seinen Roman "Haltet euer Herz bereit" – vor ziemlich genau einem Monat war es ungefähr, dass der verliehen wurde – den Europäischen Buchpreis bekommen. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie da waren!

Leo: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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