Die kleine Freiheit von Prag

06.11.2007
Im Roman "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" hat die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Alice Rühle-Gerstel die eigene Lebensgeschichte verarbeitet. Die melancholische Stimmung und detailreichen Stadtbeschreibungen lassen dabei das Prag der 30er Jahre wiederauferstehen.
Der Titel des Romans "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" von Alice Rühle-Gerstel ist in mehrfacher Hinsicht doppelsinnig. Das Wort "Umbruch" meint ebenso die politische Zeitenwende mit der Machtergreifung Hitlers - vor deren Hintergrund der Roman spielt - wie die tagtäglichen gesellschaftlichen Umbrüche und Veränderungen, oft Schikanen, denen die deutschsprachigen Nazi-Gegner im Prager Exil begegnen. Aber auch der Umbruch als technischer Begriff, der die Anordnung von Bleizeilen in Zeitungsspalten bezeichnet, ist hier gemeint.

Die Protagonistin Hanna, eine Kommunistin, erlebt diesen tagtäglichen Umbruch in der Redaktion einer Prager Zeitung, wo sie als Übersetzerin illegal ein paar Kronen verdienen kann. Auch das Wort "Freiheit" - im tschechischen "Svoboda" - ist hier doppeldeutig: So heißt nicht nur die Zeitung, für die Hanna arbeitet, Svoboda ist auch der Name des Mannes, in den sie sich verliebt. Ihre persönliche Freiheit und Selbstwürde gerät durch diese Beziehung in Gefahr, aber auch die politischen Entwicklungen und eine Intrige bringen Veränderungen in Hannas Überzeugungen. Es kommt also einer Art doppelten - wenn auch schmerzvollen - Befreiung gleich, als Hanna am Ende des Romans Prag verlassen muss und nach Österreich flüchtet.

Alice Rühle-Gerstel schrieb "Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit" Ende der dreißiger Jahre im mexikanischen Exil. Es ist nicht nur ein Buch über Menschen im Exil und den Freiheitsdrang einer Frau. Es ist zudem ein Roman über die Stadt Prag, wo Alice Rühle-Gerstel 1894 als Kind einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren wurde.

Nach dem Studium in München avancierte die promovierte Philosophin, Literaturwissenschaftlerin und marxistische Individualpsychologin in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre zu einer der bekanntesten Intellektuellen Deutschlands. Sie verfasste zahllose Aufsätze und Bücher vor allem über die sozialen Fragen der Gesellschaft - von der Arbeiterbewegung über die Rolle des Kindes bis hin zu feministischen Themen. Manès Sperber, Sozialpsychologe, Schriftsteller und Philosoph, nannte Alice Rühle-Gerstel "die intelligenteste und wohl auch gescheiteste Frau", der er je begegnet sei.

Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Pädagogen und ehemaligen Reichtagsabgeordneten Otto Rühle (schon zu Lebzeiten eine Legende der Arbeiterbewegung) kehrte Rühle-Gerstel nach einem Prag-Aufenthalt 1932 nicht mehr nach Deutschland zurück. 1936 folgte sie ihrem Mann nach Mexiko, wo das Ehepaar neben inspirierenden Freundschaften und Begegnungen mit Leo Trotzki oder Frida Kahlo auch lange Phasen der Depression und Existenznot erlebte. Als Otto Rühle dort 1943 starb, nahm sich Alice Rühle-Gerstel noch am selben Tag das Leben.

"Mein Buch ist ein Roman, ein bisschen autobiographisch, das Leben in der Prager Emigration, vermischt mit einer Liebesgeschichte und der Abwendung der Heldin von der kommunistischen Partei", schrieb Rühle-Gerstel in einem Brief. Wie die Autorin, kehrt auch die Protagonistin Hanna Last nach vielen Jahren in Deutschland zurück in ihre Heimatstadt Prag, allerdings unter ungleich schwereren Vorzeichen: Hanna ist allein und illegal hier, ihr Mann sitzt in einem deutschen Gefängnis. Am Anfang haust sie in einer Massenunterkunft für deutschsprachige Emigranten, bevor sie sich ein kleines Zimmer leisten kann.

Hanna gibt privaten Sprachunterricht und verdient sich inoffiziell ein paar Kronen in der liberalen Zeitung "Svoboda" dazu, wo sie auch ein Verhältnis mit dem Chefredakteur der Zeitung beginnt. Neben Hannas prototypischem Schicksal als gedemütigte Exilantin, porträtiert der Roman eine Fülle weiterer Figuren und Schicksale - seien es die Zeitungs-Kollegen jeglicher politischer Couleur - Karrieristen ebenso wie unpolitische Ästheten - oder seien es die kommunistischen Freunde, deren Loyalität gegenüber der Partei und die Akzeptanz der sogenannten sowjetischen "Generallinie" mehr oder minder ausgeprägt ist.

Auch Hannas eigene Skepsis an der Partei wächst, wenngleich sie bis zum Schluss des Romans auf einen Austritt verzichtet. Ihre Freundin dagegen wechselt zu den Trotzkisten. Sie hat wie viele dieser Figuren reale Vorbilder. Die berühmteste darunter ist Milena Jesenska, mit der Alice Rühle-Gerstel in ihren Prager Jahren befreundet war. Aber auch Redaktionsmitglieder des Prager Tagblatts, wo Rühle-Gerstel gearbeitet hat, sind hier eingearbeitet worden.

Alice Rühle-Gerstel gelingt es, die Fülle an Figuren und an politischen wie gesellschaftlichen Geschehnissen - oft minutiös und detailreich geschildert - mit einer packenden Liebesgeschichte zu verweben. Sie beschreibt diese Geschichte in einfachen, bisweilen schwärmerischen Worten. Es ist Hannas Blick und es ist Hannas Gefühlswelt - das deutet schon der Titel des Romans an - die hier die zentrale Perspektive liefern.

Und doch ist das Private immer auch politisch - Politik beendet schließlich auch diese Romanze. Und sie beendet auch das Ende einer anderen "Romanze" in diesem Roman - die nämlich mit der Stadt Prag, die mehr ist als nur ein Schauplatz. Mit Hannas liebevollen, oft leuchtenden Augen gehen wir durch diese Stadt in den erzählten anderthalb Jahren vom Herbst 1934 bis Frühling 1936. Der Verlag Aviva hat deswegen viele historische Fotos und einen alten Stadtplan in das Buch aufgenommen.

Rezensiert von Olga Hochweis

Alice Rühle-Gerstel: Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Ein Prag-Roman
Mit historischen Pragfotos und Stadtplan
Aviva Verlag
444 Seiten, 24,50 Euro