"Die Kinder der Schande"

Rezensiert von Michael Stürmer · 29.04.2005
Die Deutschen haben mehr Vettern und Cousinen im europäischen Ausland, als viele wissen, sie alle mittlerweile zwischen 60 und 65 Jahre alt. Die meisten finden sich in Frankreich, die "verdammten Kinder", les enfants maudits, wie man sie nach dem Zweiten Weltkrieg nannte - gnadenlos, denn sie hatten es sich ja nicht ausgesucht, als Frucht der Liebe zwischen einem deutschen Soldaten und einer französischen Frau zur Welt zu kommen.
Jean Paul Picaper, langjähriger Deutschland Korrespondent der Pariser Tageszeitung "Le Figaro" und Ludwig Norz, der eine deutsch-französisch-rumänische Kulturvereinigung managt, haben ein 460-Seiten-Buch zu dem Thema verfasst, das nicht nur diese Schicksale im Ganzen wie auch in Einzelbildern darstellt, sondern auch ein bewegendes menschliches Dokument ist.

Es geht hauptsächlich um Frankreich, wo von 1940 bis 1944 an die zwei Millionen Wehrmachtsoldaten waren, wo die Kollaboration zum Alltag gehörte, von der großen Literatur über die Geheimpolizei bis zu den Liebeleien, die sich unweigerlich einstellen, wenn junge Männer ohne Frauen und junge Frauen ohne Männer zusammenkommen. An die 200.000 Kinder entstanden auf diese Weise, nahezu alle außerehelich geboren. Nahezu 500.000 Franzosen unter den heute Lebenden haben, verdrängt oder bewusst oder vergessen, deutsche Großväter.

Marcelle, der geheimnisvollen Großmutter, ist ein ganzes Kapitel gewidmet, halb Kriminalstory, halb Seelendrama. Sie bewahrte Schweigen über die zwei Jahre, da sie die Geliebte eines Österreichers war, der zur Besatzung gehörte. Die Erinnerung war immer Bürde:

"Auf die von ihrem Sohn und ihrer Enkelin gestellten Fragen wollte Marcelle wie so viele andere Französinnen nicht antworten, die in die Falle einer Liebesbeziehung zwischen den im Krieg befindlichen Nationen geraten war. Sie war gefangene einer Katastrophe über die sie nicht genau im Bilde war, die aber all ihre Hoffnungen zerbrechen ließ. "

Solche Liebe musste ohne Hoffnung sein. Denn auf der einen Seite durften Wehrmachtsoldaten Französinnen nicht heiraten, auf der anderen Seite lag auf der Liebe zum Feind stets der Schatten des Verrats. Der Bruder ging in die Resistance, die Schwester verliebte sich in einen Deutschen - Picaper und Norz zitieren mehrere solche dramatischen Trennungen, quer durch die Familie. Die Frauen trugen dann eine doppelte Schande: ein uneheliches Kind, gezeugt mit einem Feind.

Nach dem Krieg gab es in Italien und Rumänien, die auf der Seite Deutschlands gekämpft hatten, gnädige Nachsicht. Nicht aber in Frankreich, die Ausstoßung war, wenn nicht die Familie zusammenhielt oder die katholische Kirche Schutz gab, unerbittlich. Nur wenige Frauen kamen ungeschoren davon, im buchstäblichen Sinne. Selbst für öffentliche Steinigungen gibt es Beweise:

"Sie waren nicht gerade zart besaitet, diese Sieger. Die Widerstandskämpfer der letzten Stunde, die zuvor mit den Deutschen dunkle Geschäfte gemacht hatten, wuschen sich auf Kosten von schwächeren Menschen rein, die ihnen gegenüber machtlos waren. "

Etwa zwei von hundert Franzosen konnte man der Resistance zuzählen. Bei weitem die meisten Franzosen verehrten den Marschall Pétain, Chef des Etat Francais, und waren dankbar, dass er den Krieg abgebrochen hatte, als er 1940 aussichtslos war. Fünf Jahre später sah sich alles ganz anders an, wie Picaper und Norz ironisch bemerken.

"Fast alle ehemaligen deutschen Besatzungssoldaten, mit denen wir sprachen, haben niemals einen Widerstandskämpfer gesehen. Aber 1945 gab es nur noch Resistance-Anhänger, die ganz überwiegend auch noch Helden gewesen waren. "

Bis vor etwa 20 Jahren war das Thema völlig tabu. Frankreich, so die amtliche Version, war auf der Seite der moralischen Sieger gewesen, eine Nation geschlossen im Widerstand. Die Deportation der Juden wurde ebenso verschwiegen wie die Existenz der Besatzungskinder. Erst als die Kriegsgeneration langsam die Bühne verließ, hatte die historische Wahrheit eine Chance, die Menschen wagten, sich zu erinnern, manche gar, zu sprechen. So haben die Autoren zwölf Einzelschicksale rekonstruieren können, oft wie ein Puzzle, wo doch viele Stücke fehlen. Aber sie reichen, um eine Typologie zu bilden und zu begreifen, was sich hinter der Kälte der Statistik verbirgt an Einzelschicksalen. So auch die Geschichte von Michelle Colin:

"Sie steht zu ihrer deutschen Abstammung, für die sie jedoch kaum materielle Beweise besitzt. Sie weiß nur, dass man sie in ihrer ganzen Kindheit "boche-Tochter" genannt hat. Man ließ sie sehr teuer für etwas bezahlen, wofür sie nichts konnte, nämlich geboren zu sein. Diese Worte verfolgen sie noch heute. Sie hat sie so oft hören müssen, dass diese Niedertracht nicht ganz grundlos gewesen sein kann… Sie kennt weder den Namen ihrer Mutter noch den ihres Vaters. Sie sind Unbekannte geblieben. "

Das kleine Mädchen wurde adoptiert, wieder verstoßen und wieder adoptiert, herumgeschubst, bis sie eine Familie fand, die sich des verlorenen Kindes liebevoll annahm. Als Studentin fiel die junge Frau Pierre Chaunu auf, einem der großen französischen Historiker des 20. Jahrhunderts. Geschichte wurde ihr zum Beruf. Aber nicht alle Lebensläufe, die so übel begannen, endeten so gut. Die meisten blieben bis heute im Trauma gefangen, von nirgendwo zu kommen, ausgestoßen zu sein, ungewollt, allein.

Dieses Buch ist von faszinierender Art durch seine Zweiteilung: den zwölf Seelenbiographien folgt die systematische Analyse, zählend, wägend, vergleichend. Es klingt ernst aus, aber auch versöhnlich und politisch:

"Solange die gewählten Verantwortlichen der beiden Nationen den Kriegskindern nicht bestätigt haben, dass sie Bürger sind wie alle anderen, so wie die zehntausende Nachkriegskinder von deutsch-französischen Paaren auch, solange ihnen der Präsident der Französischen Republik und der deutsche Bundespräsident nicht schwarz auf weiß beglaubigt haben, dass die Gefühle und Interessen, die ihren Vater und ihre Mutter zusammengebracht haben, nichts mit Verrat und nichts mit Politik zu tun hatten, werden sie weiterhin zögern, ihre Herkunft zu enthüllen. Aber nach diesem totalitären 20. Jahrhundert, auf der Schwelle zu einem tyrannischen und islamistischen 21. Jahrhundert, ist es nötig, das Recht auf Unschuldsvermutung und das Recht auf ein Leben außerhalb religiöser und politischer Parteinahme durchzusetzen. "

Dies ist ein kluges, menschlich anrührendes Buch und ein großer Beitrag zur gemeinsamen Geschichte, die Deutsche und Franzosen nun einmal haben - und zur gemeinsamen Zukunft.


Jean-Paul Picaper / Ludwig Norz:
Die Kinder der Schande
Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich
Aus dem Französischen von Michael Bayer
Piper Verlag, München und Zürich 2005