Die Kapitalismus-Apokalypse

19.02.2013
Frank Schirrmacher ist in Endzeitstimmung, wie immer, wenn ihn etwas bewegt. Diesmal zeigt er Mechanismen und Perversionen der Finanzwirtschaft auf. Das Buch ist eine fleißige Paraphrase neuerer Sachbücher aus den USA, die intellektuelle Autorenleistung erschöpft sich oft in Zuspitzungen.
Heute schon geliebt, gehasst und gelitten, Lieder gepfiffen, Leuten geholfen, Quatsch gemacht? Glückwunsch! Dann sind Sie eine Nummer 1. Oder anders: Sie sind ein Mensch alten Schlags und gehören nicht zur Gattung "Ego", die Frank Schirrmacher untersucht. Der FAZ-Herausgeber befasst sich mit der "Nummer 2", dem rationalen, auf Eigennutz fixierten "Homo oeconomicus", zu dem der "Informationskapitalismus" - vulgo: die computerbasierte High-End-Version des Kapitalismus - nach seiner Einschätzung jeden von uns heranzüchten will.

Ja, bei Schirrmacher ist der Informationskapitalismus ein historisches Subjekt mit eigenem Willen. Diesen Willen zwingt es allen Menschen auf, indem es sie durch Berechnung ihrer Aktivitäten nötigt, dem Diktat seiner Algorithmen zunehmend gleichförmiger zu werden. Und wozu? Damit die eigensinnige Nummer eins ausstirbt und der Planet bevölkert werden kann von lauter Nr. 2en, also marktförmigen Personenhülsen, die sich zwecks Nutzenmaximierung interessierter Kreise präzise steuern lassen. Solche Menschen, unkt Schirrmacher, "sind keine Zahnräder mehr in diesem Automaten, sie sind sein Produkt".

Woher diese Entwürdigung rührt? Nun, US-Strategen haben im Kalten Krieg mittels Spieltheorie und "rational choice"-Modellen versucht, die nächsten Schritte des Feindes in Moskau zu berechnen. Und als der Feind verschwunden war, so Schirrmacher, zog die kybernetisch-informationstechnologische Kompetenz flugs an die Wall Street um. Dort führt sie nun den Kalten Krieg als Wirtschaftskrieg fort und lässt die benötigten Daten über die Nr. 2en (es seien Konkurrenten oder Konsumenten) von gigantischen Computern aus dem Internet extrahieren. Informationen sind dabei "unendliche Rohstoffe in der immateriellen Welt, die man in der Wirklichkeit jederzeit realisieren kann". Was vor allem die Alchimisten an der Wall Street beweisen, indem sie ihre digitalen Maschinen virtuelles Geld vermehren lassen, um es bei Gelegenheit in klingende Münze umzumünzen - in Porsches, Jachten, Viagra-Pillen.

"Ego" lässt sich der Tradition der bürgerlichen, Marx-freien Kapitalismuskritik zurechnen. Wie immer, wenn ihn etwas bewegt, ist Schirrmacher apokalyptisch gestimmt. Er zeigt Mechanismen und Perversionen der Finanzwirtschaft auf; er beklagt die Fremdbestimmung der Mehrheit; er sieht das Humanum im Kalkül von Rechenmaschinen untergehen. So weit, so einseitig, so berechtigt. Aber vor allem ist "Ego" ein echter Schirrmacher. Nicht nur wegen mancher Schlaubergerei und der Tendenz, brüsk zu behaupten, anstatt zu argumentieren.

Das Buch ist eine fleißige Paraphrase neuerer Sachbücher aus den USA; die intellektuelle Autorenleistung erschöpft sich oft in Zuspitzungen. In Schirrmachers Informationskapitalismus - der "Superstruktur" - herrschen Silicon Valley und Wall Street, dem Rest der Welt bleibt im "Spiel des Lebens" fast nur die Opfer-Rolle. So wird die Grenze zur technoiden Verschwörungstheorie porös. Auswege, gar politischer Natur, sieht Schirrmacher nämlich nicht. Algorithmen sind halt unser Schicksal, was willst du da machen?

Hey, Frank, schalten Sie mal den PC aus! Gehen Sie unter nette Leute, die Unsinn im Sinn haben! Nr. 1 hat's nicht leicht, aber noch ist sie munter.

Besprochen von Arno Orzessek

Frank Schirrmacher: "Ego – Das Spiel des Lebens"
Karl Blessing Verlag, München 2013
352 Seiten, 19,99 Euro
Blick aufs Parkett der New Yorker Börse
An der Wall Street sieht Schirrmacher den Kalten Krieg als Wirtschaftskrieg fortgesetzt.© AP