Die Intelligenz der Pflanzen

Von Susanne Billig und Petra Geist · 21.02.2010
Forscher vermuten, dass die Wurzeln der Pflanzen ein riesiges, erdumspannendes Kommunikationsnetz bilden. Auch über der Erde können sie weit mehr, als man vermutet: Pflanzen wehren sich sehr geschickt und locken sogar Helfer herbei, wenn ein Tier sie aufzufressen droht.
Südafrika, Krüger-Nationalpark. Antilopen nähern sich einer Gruppe von Akazien. Die Tiere rupfen an den Blättern eines Baumes und genießen den saftigen Geschmack. Nach einer Weile traben die Tiere zum nächsten Baum - doch der schmeckt bitter. Die Blätter der Nachbarn ebenso. Der ganze Wald ist plötzlich ungenießbar geworden. Hungrig ziehen die Antilopen weiter.

Eins zu null für die Akazien. Sie haben sich erfolgreich gegen die gefräßigen Tiere gewehrt. Doch - was genau ist da passiert? Lange Zeit sahen Forscher in Pflanzen nicht viel mehr als lebende Roboter, einem sturen Wachstumsprogramm unterworfen. Doch allmählich nimmt die moderne Biologie Abschied vom Bild der Pflanze als passivem Organismus. Grünzeug kann sprechen! Das zeigt das Beispiel der Akazie. Pflanzen verständigen sich allerdings nicht mit Lauten, sondern chemisch, per "Ethylen".

Wird eine Akazie angeknabbert, so stößt sie das geruchsfreie, süßliche Gas aus. Die Bäume in der Umgebung verstehen das Signal und erhöhen drastisch den Gerbstoffanteil in ihren Blättern. Das Ergebnis: ein unangenehmer Geschmack und Verdauungsprobleme für die äsenden Tiere.

"Das ist ein gasförmiges Molekül, das Ethylen, das auch als Sprache der Pflanzen, als Flüstern und Schwatzen bezeichnet wird, das in sehr vielen Situationen von einer Pflanze ausgeschüttet wird. Der oberirdische Teil tut das, die Blätter - das kann bis zu mehrere 100 Meter gehen, die Botschaft."

Dieter Volkmann ist emeritierter Professor vom Institut für Zelluläre und Molekulare Biologie der Universität Bonn.

"Das Gas ist flüchtig, wird sofort durch Wind zu den Nachbarn vertrieben. Die Nachbarn wissen, nebenan ist etwas passiert, wir müssen uns wappnen und ein Abwehrsystem schon sehr viel früher in Bewegung setzen und damit den Fraßfeind abwehren, verringern und so weiter."

Professor Volkmann gehört seit vielen Jahren zu jener kleinen Gruppe von Forschern, die weltweit daran arbeiten, unser Bild von der Pflanze zu revolutionieren. Ihre Arbeit stößt nicht auf ungeteilte Zustimmung - viele Botaniker halten die Interpretationen für übertrieben. Können Gräser und Bäume wirklich "sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen", wie Dieter Volkmann und seine Kollegen sagen?

Die Forschung kennt heute mindestens 17 Umweltfaktoren, die Pflanzen ständig scannen und verarbeiten. Schwerkraft, Licht, Feuchtigkeit, Temperatur, Nährstoffe und Duftstoffe gehören dazu. Pflanzen wissen auch, ob ihre Wurzeln die Wurzeln von Verwandten berühren oder die anderer Arten. Pflanzen sind echte Wahrnehmungskünstler.

Die Rotbeerige Zaunrübe, eine Kletterpflanze, ist so empfindlich, dass sie einen Faden spürt, der weniger als ein Millionstel Gramm wiegt - das übersteigt bei weitem das Empfindungsvermögen der Tiere und des Menschen. Auch UV-Licht registrieren Pflanzen aufs Genaueste. Wenn es ihnen zu viel ist, bilden sie Pigmente, die wie eine Sonnencreme wirken. Stellt eine Pflanze eine Virusinfektion an sich fest, heißt ihre Antwort "Aspirin". Sie produziert Salicylsäure und stärkt so ihre Abwehrkräfte.

Die Überlebenschance einer Pflanze hängt davon ab, wie präzise sie ihre Umwelt wahrnimmt. Schließlich steht sie fest verwurzelt an einem Ort, kann weder fliehen noch zuschlagen oder zubeißen. Pflanzen warnen sich nicht nur gegenseitig vor Feinden. Sie rufen auch die Feinde ihrer Feinde zu Hilfe und bieten an, was im Tierreich außerordentlich geschätzt wird: Fressen satt auf dem Silbertablett.

Raupenalarm im Maisfeld! In seiner Not produziert der Mais einen Duftstoff. Er lockt damit die Schlupfwespe "Cotesia marginiventris" herbei. Ihre Larven lieben genau diese Raupenart als Futter. Das gesamte Maisfeld sendet S.O.S. Endlich riechen die kleinen Schlupfwespen die Botschaft und kommen in Scharen. Bald schon werden ihre Larven den Schädling von innen verzehren. Mission erfüllt.

Pflanzen registrieren sehr genau, wer sie verletzt. Ein kleine Beschädigung am Blatt reicht nicht - der chemische S.O.S.-Ruf wird erst versendet, wenn die Pflanze den Angreifer anhand des Speichels identifiziert hat. Ist es die gemeine Spinnmilbe oder etwa die Lindenspinnmilbe? Der "Duftschrei" der Pflanze erzählt es ihren hungrigen Helfern.

"Es ist ein sehr kompliziertes Netzwerk von Kommunikation zwischen den unterschiedlichsten Organismen. Auf der einen Seite ein Fraßfeind der Pflanzen, auf der andern Seite aber ein Schutzinsekt der Pflanze, insofern es einen Feind von den Insekten wieder angreift und den zu Gunsten der Pflanze tötet."

Die modernen Kulturpflanzen haben diese Fähigkeiten übrigens verloren. Sie können die Alarmrufe ihrer Artgenossen nicht mehr verstehen und sind selbst nicht in der Lage zu warnen. Sie wurden stumm und taub gezüchtet. In der freien Natur kommunizieren Pflanzen nicht nur oberirdisch - auch unter der Erde gibt es einen regen Austausch. Dafür sorgt das gigantische, dynamische Netz der Wurzeln - vom "wood wide web" sprechen Forscher augenzwinkernd.

"Bei der Kommunikation innerhalb des wood wide web, wie man heute so schön sagt, da spielen Pilze eine entscheidende Rolle, nämlich symbiotisch, also in Gemeinsamkeit mit den Pflanzen arbeitende Pilze, die den Pflanzen helfen, die Nährstoff zu erschließen. Und dieses unterirdische System von Pilzfäden existiert für jeden Baum und dieses ist eventuell über die ganze Erde verteilt, sodass also ein unterirdisches Kommunikationssystem für die Pflanzen über das Pilzsystem besteht."

Die Fäden der Pilze dringen in die Wurzelzellen ein, verwachsen mit ihnen und verbinden die Wurzeln untereinander. Der Informationsaustausch erfolgt über im Wasser lösliche Botenstoffe, die von den Wurzeln quasi wie E-Mails gelesen werden können. Sind die Pflanzen in der Nachbarschaft Verwandte oder Fremde? Nähern sich schädliche Bakterien, Pilze oder Tiere? Wertvolle Informationen, die die Wurzel braucht, um Hilfe zu holen, Abwehrsysteme zu aktivieren oder ihr Wachstum flexibel auf die Lage ein zustellen. Pflanzenwurzeln arbeiten nicht nur mit chemischen Signalen. Vor kurzem fanden Wissenschaftler auch elektrische Signale.

Mit einem Zentimeter pro Sekunde bewegen sich die elektrischen Signale vorwärts, ähnlich langsam wie die Nervensignale in Quallen oder Würmern. Die Impulse fließen durch die dünnen Röhren, die die Pflanze mit Nährstoffen versorgen. Wozu aber brauchen Pflanzen Strom? Weil auch sie manchmal schnell reagieren müssen. Wenn eine Wurzel auf Gift stößt, wächst sie bereits nach wenigen Sekunden in eine andere Richtung - so rasant lässt sich eine Botschaft nur elektrisch übermitteln. František Baluška, Professor an der Universität Bratislava in der Slowakei und Leiter einer Forschungsgruppe am Institut für Zelluläre und Molekulare Biologie der Universität Bonn:

"Wurzeln befinden sich manchmal in gefährlichen Situationen. Es gibt toxische Areale, wasserlose, zu salzhaltige und manchmal auch einfach Steine. Diese Gebiete muss die Wurzel meiden. Und es gibt einige Hinweise, dass Wurzeln solche Gefahren irgendwie spüren können. Dann zeigen sie ein Vermeidungswachstum. Die Wurzel biegt nach links oder rechts ab und wächst um dieses Gebiet herum. Im Falle von Steinen wachsen sie typischerweise auf den Stein zu, scannen seine Oberfläche und finden dann den freien Platz, wo sie wieder nach unten Richtung Schwerkraft wachsen."

Gefühle? In Pflanzen? Können Wurzeln tatsächlich mehr, als passiv auf Reize reagieren? Beherbergen sie am Ende gar so etwas wie ein pflanzliches "Gehirn" - tief unten im dunklen Erdreich? Natürlich haben Pflanzen kein Gehirn, das räumen die Pflanzenforscher gerne ein. Aber eine Art Wahrnehmungszentrum sei in Wurzeln schon zu finden, meint František Baluška. Eine besondere Zone oberhalb der Wurzelspitze nimmt Reize von außen wahr, reagiert darauf und stellt sich auf neue Situationen ein. Und einige ihrer Funktionsweisen sind einem Gehirn gar nicht so unähnlich.

"Es ist nicht die ganze Wurzelspitze, sondern eine kleine Zone, die wir Übergangszone nennen. Und diese Zone scheint sehr, sehr aktiv zu sein. Es gibt dort kein Zellwachstum, aber ein Recycling von kleinen Zellbläschen und es gibt elektrische Aktivität. Das weist darauf hin, dass die Zone eine Aufgabe hat. Welche Aufgabe? Wir haben das untersucht und nun weisen die Daten darauf hin, dass die Zone ganz ähnliche Eigenschaften aufweist wie unsere Gehirnzellen."

Die besonderen Zellen oberhalb der Wurzelspitze transportieren winzige, flüssigkeitsgefüllte Bläschen hin und her - die sogenannten Vesikel. Darin befinden sich Neurotransmitter, chemische Botenstoffe, wie in tierischen Synapsen, den Schaltstellen zwischen den Nervenzellen. Allmählich gewinnen die Forscher ein Bild davon, was die Wurzelspitze leistet: Wenn sie Licht oder einen Giftstoff wahrnimmt, leitet sie die Information in die Übergangszone. Hier wird die Botschaft mit anderen Informationen verrechnet und das Ergebnis geht an die Wachstumszone der Wurzel. Die kann sich nun sinnvoll im Erdreich voran tasten.

Die Umwelt wahrnehmen. Sinnesreize in Botschaften umwandeln und im Körper verteilen. Flexibel und kreativ reagieren - sind Pflanzen intelligent, haben sie ein Bewusstsein? Professor Dieter Volkmann:

"Also Bewusstsein, damit wäre ich noch sehr vorsichtig. Uns kommt es darauf an, dass die Pflanzen sehr viel mehr können, als wir bisher gedacht haben, als bisher alle wussten. Und wenn wir den Zeitfaktor außer acht lassen - der Zeitfaktor ist nämlich der entscheidende Unterschied zwischen der Pflanze und dem Tier - dann nähern wir uns ganz stark dem Bereich, wo Pflanze und Tier sich sehr nahe kommen. Wenn wir Zeitraffer-Aufnahmen machen, dann sieht eine Wurzelspitze genau so aus, verhält sie sich genau so ein Wurm, der hierhin kriecht und dahin kriecht, es ist nur die Frage der Zeit."

Noch zeichnet sich das Bild der kommunizierenden, kreativen Pflanze erst in Umrissen ab. Und noch stehen viele Wissenschaftler dem neuen Bild der Pflanze skeptisch gegenüber - aber die Forschung geht weiter.