Die Illusion der baren Münze

05.01.2012
Unterhaltsam und lustvoll entfaltet Umberto Eco Überlegungen zur Form des Schreibens, zur Interpretation, zu dem Charakter von fiktiven Personen und dem Phänomen der Listen. Der Band ist die Niederschrift von Vorlesungen, die der italienische Autor in Atlanta hielt.
Umberto Eco ist vieles: Philosoph, Thomas-von-Aquin-Spezialist, Zeichentheoretiker, brillanter Essayist, Kenner der Populärkultur, Sammler kostbarer Bücher, Professor, Verfasser eines Weltbestsellers und fünf weiterer Romane. Und durch seine Popularität als Schriftsteller hat er das Kunststück vollbracht, auch an der Wissenschaft ein neues Interesse zu entfachen.

Seine vielen Fähigkeiten und Aktivitäten lassen sich kaum in wenigen Zeilen umreißen, aber eines ist er gewiss nicht: ein junger Mann. "Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers" nennt Eco, der im Januar 2012 seinen 80. Geburtstag feiert, sein neues Buch dennoch. Natürlich ist das eine augenzwinkernde Geste – als Schriftsteller sei er mehr oder weniger ein Novize, weil er sein literarisches Debüt erst mit knapp 50 bewerkstelligt habe, verteidigt er sich zu Beginn und konzentriert sich in den vier Kapiteln seiner "Bekenntnisse" auf Fragen der Fiktion. Dabei bezieht er seine eigenen Bücher ebenso mit ein wie Werke der Weltliteratur. Unterhaltsam und lustvoll entfaltet er Überlegungen zur Form des Schreibens, zur Interpretation, zum Charakter von fiktiven Personen und zum Phänomen der Listen.

Der Band ist die Niederschrift der "Richard-Ellmann-Lectures in Modern Literature", die der Wissenschaftler und Romancier im Oktober 2008 an der Emory University in Atlanta gehalten hat. Dies erklärt die angenehme Direktheit, mit der Eco seine Theorien vermittelt. Ein Teil seiner Ausführungen dreht sich um die Voraussetzungen der Fiktionalität. Er selbst müsse die Schauplätze seiner Romane zunächst aufzeichnen und bildlich vor sich haben, um sie dann mit Leben füllen zu können. Immer wieder beobachtet Eco, wie Erfundenes für bare Münze genommen wird und betont die Grenzen der Interpretation – vor allem hochgebildete Leser schössen mitunter übers Ziel hinaus. Der Akt des Lesens sei eine komplexe Transaktion, bei der das Weltwissen des Lesers ebenso im Spiel sei wie die Enzyklopädie eines Textes.

Ein Höhepunkt des Bandes ist die Vorlesung über fiktive Personen. Das Schicksal der Anna Karenina oder Cyrano de Bergeracs treibe auch hartgesottenen Intellektuellen Tränen in die Augen – hingegen reagierten wir auf die Nachricht von einem tatsächlichen Verkehrstoten eher gleichgültig. Mit der Lektüre werden wir zu Mitbewohnern eines erfundenen Universums. Obwohl die fiktionale Halluzination endet, bleibt der Selbstmord Annas weiterhin wahr. "Der Wind erhebt sich, wir müssen versuchen, weiter zu leben", zitiert Eco Paul Valéry.

Wenn sich Anna Karenina, Madame Bovary oder Kapitän Ahab ins Verderben stürzen, können wir sie nicht davon abhalten und spüren die Macht des Schicksals. Die Romanhelden haben oft nur eine unvollständige Sicht der Dinge und schaufeln sich deshalb ihr eigenes Grab – dem Leser dämmert, dass auch er einen ebenso eingeschränkten Blick auf die gegenwärtige Welt hat. Darin liegt die bezwingende Wirkung großer Tragödien. Sie sind Beispiele für unsere eigene Existenz. Wer Lust hat, den Theoretiker Eco kennenzulernen, findet hier einen inspirierenden Einstieg.

Besprochen von Maike Albath

Umberto Eco: Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers
Aus dem Englischen von Burkhart Kroeber
Carl Hanser Verlag, München 2011
206 Seiten, 19,90 Euro.
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