Die Hirnkurven bei Bildstörungen

Von Susanne Nessler · 01.11.2012
Eine Gruppe aus Elektrotechnikern, Ingenieuren, Psychologen und einem Neurologen untersucht, wie das menschliche Gehirn Bildstörungen in Filmen registriert und wann es sie tatsächlich wahrnimmt. So versuchen sie, die Grenze zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein aufzuspüren.
Neun Männer sehen ein Bild. Sie sitzen jeder vor einem Computer und starren auf ein grau-weißes Schachbrett. Klingt langweilig? Ist es aber nicht. Hier geht es um hochaktuelle Forschungsfragen. Deshalb haben die Männer auch eine Gummikappe auf dem Kopf.

Die Kappe hat 20 Löcher, in jedem Loch steckt eine Elektrode, die die Hirnströme registriert. Die Elektroden messen so, was im Kopf der Versuchspersonen geschieht, die gerade auf das Schachbrettmuster schauen, wenn das Bild plötzlich unscharf oder verzerrt ist, sagt Thomas Wiegand, Professor für Elektrotechnik an der Technischen Universität Berlin:

"Bisher sind wir bei allen Arbeiten nur bis zum optischen Nerv gegangen. Das Auge, was wir alle haben, erzeugt ein bestimmtes Übertragungsverhalten zwischen dem, was wir sehen und dem, was aus dem optischen Nerv herausgeht und ins Gehirn übertragen wird. Und im Grunde haben wir dort aufgehört in der Berücksichtigung der Effekte des Menschen. […] Und ich sag immer: Wir brauchen mehr Gehirn in der Videokodierung. Das heißt, weil unser Gehirn ja auch ein Bildverarbeitungssystem ist."

Das Experiment mit dem Schachbrett vor Augen soll das jetzt ändern. Es ist der erste Versuch, der die Frage klären soll, ab wann Bildstörungen wahrgenommen werden. Deshalb müssen die Probanden, sobald sie eine Veränderung bemerken, einen Knopf drücken. Gleichzeitig dazu werden ihre Hirnströme gemessen, vor allem am Hinterkopf, wo die Sehinformationen verarbeitet werden. Und jetzt gleich die Überraschung: Oft zeigt das Gehirn eine Reaktion, weil das Bild unscharf oder verzerrt ist. Doch der Proband selbst merkt nichts davon.

"Der muss sagen, ja da ist ein Qualitätsunterschied, den nehm ich wahr."

Erklärt Klaus-Robert Müller, Professor für maschinelles Lernen. Aber genau das tut der Proband eben nicht.

"Und jetzt ist die Idee, zu gucken, ob er auf der Verhaltensebene durch seine Wahrnehmung und seine Bewertung zu einem anderen Ergebnis kommt, als das was sein Hirn sagt. Das heißt, vielleicht ist sogar das Hirn sensitiver. Und wir konnten in einigen Szenarien sehen, dass das Hirn hier sensitiver ist"

Unser Gehirn weiß, dass das Bild unscharf ist, doch wir selber bekommen davon nichts mit. Kurios? Ja und nein. Einerseits ergänzt unser Gehirn häufig in der Wahrnehmung fehlende Informationen - wir erkennen zum Beispiel ein berühmtes Gebäude, auch wenn wir nur die Hälfte davon sehen. Andererseits müssen Reize auch erst einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, um überhaupt bemerkt zu werden. Das hat durchaus seinen Sinn. Denn würden wir ständig alles, was wir sehen, riechen, fühlen, schmecken zu 100 Prozent wahrnehmen, könnten wir uns auf nichts mehr konzentrieren.

Wichtig zu wissen: Videobilder haben immer Störungen. Ohne geht es gar nicht, da die Bitraten bei der Übertragung von Videos begrenzt sind. Deshalb würden Techniker und Entwickler sehr gern wissen, in wie weit sie Störungen zulassen können, ohne dass der Zuschauer diese bemerkt.

Thomas Wiegand: "Also in diesem Jahr werden wohl 50 Prozent aller Bits Video Signale sein. […] Und wenn wir jetzt durch so eine Messung, wie wir sie hier begonnen haben, diese Bits – das sind ja Terrabytes, zu denen das korrespondiert – zu reduzieren, dann hat das ja nicht nur einen Aspekt der Ökonomie, sondern das ist ja auch ökologisch relevant, denn da sind ja die Datenübertragungssysteme auch große Energiefresser."

Ein wichtiger Faktor. Denn Videos gehören heute zum Alltag. Ob Smartphone, Youtube, Videokonferenzen oder hochauflösende Flachbildschirme, auf Milliarden von Endgeräten laufen Filme. Videokompression, ist deshalb ein enorm wichtiger Punkt. Gute Bilder mit möglichst wenigen Daten, lautet das Ziel. Die Frage dazu: Wie wenige Daten verträgt der Zuschauer, bevor er ein Bild tatsächlich als unscharf wahrnimmt?

Thomas Wiegand: "Wir haben den ganzen Bereich durchgefahren, wir haben angefangen bei einer sehr geringen Störung, die wirklich nicht wahrnehmbar ist, bis zu dem Punkt, wo die Probanden anfingen die Störung wahrzunehmen, bis hin zu einem Punkt, wo es wirklich alle wussten."

Über die Spannungsänderungen im Oberflächenbereich des Gehirns, die bei einer Bildstörung entstehen, konnten die Wissenschaftler außerdem noch ermitteln, wie stark eine Verzerrung die Probanden beeinflusst hatte. Also quasi die Stärke der Bildstörung definieren.

Das sind wichtige Eckdaten. Denn bisher verließen sich Video-Entwickler bei der Überprüfung der Bilder auf Testpersonen, die sagten, wie gut oder schlecht sie ein Bild fanden. Ein sehr subjektives Verfahren.

Mit der EEG-Messung lässt sich jetzt genau ermitteln, ab wann eine Bildstörung im Gehirn verarbeitet wird. Damit sind die Forscher einen großen Schritt weiter. Trotzdem bleiben noch viele Fragen offen, denn die Testsituation am grau-weißen Schachbrett ist schon sehr einfach.

Klaus-Robert Müller: "Wie sieht es denn aus, wenn wir realistische Videos zeigen? Und überhaupt, was passiert denn da bei den realistischen Videos? Ist es vielleicht doch noch ein bisschen anders?"

Das wird der nächste Schritt sein. Der wird nicht nur für die Probanden spannend. Auch die Wissenschaftler erwarten hier Neuigkeiten. Erkenntnisse über die Vorgänge in unserem Gehirn, über unsere Wahrnehmung, über den Einfluss den Technik und Umwelt auf uns haben und natürlich welchen Effekt die zahlreichen Bildstörungen auf unser Gehirn haben, auch - oder gerade weil wir sie nicht wahrnehmen.
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