Die Hilfsindustrie steckt in der Krise

Von Michael Böhm · 26.11.2010
Humanitäre Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam oder Care sind heute mächtige politische Akteure. Doch ihre Arbeit – so scheint es – steckt in der Krise: Uns erreichen Berichte, in denen ihre Hilfsgüter Bürgerkriege am Laufen halten:
Weil einheimische Warlords Zelte, Nahrung und Medikamente verschachern, weil sie Steuern erheben für jeden Brunnen, der gebohrt und jede Krankenstation, die gebaut wird – und weil sie dafür Waffen kaufen. Ganz zu schweigen von solchen, in denen Kämpfer humanitäre Lieferungen an Gegner verhindern oder Ärzte und Krankenschwestern töten.
Aufgeweicht erscheint der Grundsatz von Neutralität, dem sich das Rote Kreuz verpflichtet fühlt, die älteste aller heutigen NGO's. Tatsächlich heißt es heute oft von humanitärer Hilfe, dass sie in bewaffneten Konflikten menschliches Leid nicht lindere, sondern verlängere, ja dass sie sich zur Komplizin des Elends mache. Das aber ist nichts Neues. Schon Henry Dunant, der geistige Vater des Roten Kreuzes musste sich von der Engländerin Florence Nigthingale den Vorwurf gefallen lassen, in dem er neutral verwundete Soldaten pflege, halte er die Kosten verfeindeter Parteien gering und verlängere so das Leid des Krieges.

Neu ist nur die Situation: Denn als Dunant 1864 an der Konferenz zur Genfer Konvention teilnahm, erschüttert vom Elend der Verwundeten in der Schlacht von Solferino fünf Jahre zuvor, war der Krieg zumeist Sache der Armeen souveräner Staaten. Er galt als legitimes Mittel der Politik und gehorchte noch den Regeln des klassischen europäischen Völkerrechts: Nach ihnen sahen sich unter anderem kriegführende Parteien als Feinde an und nicht als Verbrecher, so dass ein Friedensschluss möglich sei. Dieser Gedanke resultierte aus den Erfahrungen der Religionskriege, in denen die Kämpfenden nie aufhörten zu kämpfen, da sie sich auf ihre religiöse Moral beriefen. Die Immunität von Botschaftern, der Schutz der Verwundeten und die Achtung der Neutralität waren genauso Prinzipien des europäischen Völkerrechts.

Doch standen diesem schon damals die Ideen der Aufklärung entgegen, nach denen es "ewigen Frieden" geben könne und derjenige, der nicht danach strebe ein "ungerechter Feind" sei. Diese Ideen gingen später ein in das universale Völkerrecht. Somit war dem Vorsatz Tür und Tor geöffnet, den früher geachteten Kriegsgegner als Verbrecher zu verteufeln, gegen den jedes Mittel gerechtfertigt sei. Dies erzeugte Furor auf der anderen Seite.

Und so trat seit dem 19. Jahrhundert neben den uniformierten Soldaten der irreguläre Kämpfer: Von 1807 bis 1814 focht er als Guerillo gegen Napoleon und 1870 als Franctireur gegen Deutsche. Schon damals berief er sich nicht auf staatliche Order, sondern auf seine Moral. Im Zweiten Weltkrieg nannte er sich Partisan und Resistant und war – bestärkt durch die Idee der Klasse und bestürzt durch die Idee der Rasse – schon bereit, gegen absolute Feinde jede Untat zu begehen. So entgrenzte sich der Krieg und ging vom Staat zu denen, die ihn einstmals gar nicht führten und die sich auf ihre Freiheit, Humanität und Unabhängigkeit beriefen.

Das Genfer Abkommen von 1949 akzeptierte diesen Umstand und sein universaler Anspruch exportierte ihn in alle Welt: Seither sind Zivilisten Kombattanten, sofern sie ihre Waffen offen tragen. Das galt für vietnamesische Vietminh und algerische Fellaghas, das gilt heute für Warlords in Afrika und Asien, ganz gleich ob sie europäische Werte verachten oder nicht.

So scheint heute in der Welt durch die Idee des "ewigen Friedens" ewiger, entgrenzter, Krieg zu sein: finanziert auch durch Spenden an Menschen, die ununterscheidbar sind, zwischen Kämpfern und Zivilisten, die Krieg nicht mit Moral führen, sondern ihn mit ihr rechtfertigen und für die es keine Neutralität gibt, sondern nur die vollständige Vernichtung des absoluten Feindes. Seit 1960 bringen sich Menschen in Ruanda und Burundi um, in Afghanistan seit 1979, im Nahen Osten wird seit 1948 gekämpft – die Schlacht von Solferino 1859 dauerte hingegen von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.

Michael Böhm, Publizist, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaft in Berlin und Lille und lebt als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, so unter anderem für "Du – Das europäische Kulturmagazin". Letzte Buchveröffentlichung: "Alain de Benoist – Denker der Nouvelle Droite".
Michael Böhm
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