Die Herren trugen Filmgesichter

Rezensiert von Gerwin Zohlen · 09.04.2012
Selbst für intime Kenner Siegfried Kracauers ist es ein Staunen und Verwundern, welche Bandbreite und Dignität sein journalistisches Œuvre umfasst. Seine Feuilletons, Essays und Rezensionen aus den Jahren 1906 bis 1965 liegen nun erstmals fast vollständig vor.
In einer "Berliner Betrachtung" Siegfried Kracauers von 1932, in der es um die Veränderungen des alltäglichen Straßenbildes unter den Auswirkungen der Krise geht, heißt es bei der Besichtigung eines trotz alledem stattfindenden Tanzturniers in einem Hotel unter anderem:

"Die Herren trugen Filmgesichter, die Damen lächelten konventionell."

Schon dieser kleine, beiläufige Satz belegt, dass Kracauer zu Recht als einer der bedeutendsten Feuilletonisten Deutschlands im 20. Jahrhundert bekannt ist. Denn so unscheinbar und einfach der Satz ist, er transportiert doch eine leise Süffisanz und melancholische Distanziertheit. Dieser Tonfall klagt nicht an, sondern weckt mitfühlendes Lächeln, das zum Nach- und Überdenken der Szenerie führt. Tatsächlich ist ja, was Kracauer schildert, ein Bild aus den Krisenzeiten der deutschen Gesellschaft nach dem großen Börsencrash und kurz vor ihrem Absturz in den Faschismus. Dabei behielten die deutschen Herren bekanntlich ihre Filmgesichter, während den Damen das Lächeln zur Konvention gefror.

Kracauer tritt mit solchen Beobachtungen nicht vor den Weltenrichter, vielmehr liest er aus dem Auftreten der Damen und Herren die Haltung heraus, die sich seinerzeit hat "einbürgern" können. Es ist nicht von Ungefähr, dass man seine damaligen Erkenntnisse heute so gut wie unabgestaubt wieder benutzen kann. Denn diese Haltung,

"…führte zu Karrieristentum, zur Absage an zwischenmenschliche Verständigung, zur Erfolgsanbeterei und zu Betäubungsorgien (der Vergnügungssucht)."

Wer hätte bei solchen Worten nicht sofort die "Bankster" und ihre Champagnergelage vor Augen, die nach jeder Bonus-Verteilung abgehalten werden, wann immer von "Staatsschuldenkrise" und "europäischem Rettungsschirm" die Rede geht. Es ist dasselbe sozialpsychologische Muster seinerzeit wie heute, nur im neuen Kostüm.

Mit einer Textauswahl unter den Titeln "Straßen in Berlin und anderswo" und "Das Ornament der Masse" wurde Kracauer nach dem Krieg in der Bundesrepublik wieder bekannt und nun auch berühmt. Jetzt liegen seine Feuilletons erstmals fast vollständig vor. Selbst für intime Kenner Kracauers ist es ein Staunen und Verwundern, welche Bandbreite und Dignität sein journalistisches Œuvre umfasst. Hier wird es ausgebreitet und man möchte fortlaufend nur wie Espenlaub zittern, weil daraus unser Heute permanent herausfällt.

Es war in den letzten beiden Dekaden still um Kracauer geworden. Es könnte sein, dass dieser Band ungewollt genau zur rechten Zeit erscheint, da sich die ökonomische, politische und kulturelle Krise der europäischen Gesellschaften wieder eingestellt hat, deren unbestechlicher Beobachter und Porträtist Kracauer gewesen ist. Man muss daher um einen Kracauer von heute nicht mehr bitten, da er selbst hier wieder angetreten ist.

Siegfried Kracauer, Werke, Band 5, 1–4, Essays, Feuilletons, Rezensionen
Herausgegeben von Inka Mülder-Bach
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
2982 Seiten, 112 Euro (broschiert) bzw. 152 Euro (Leinen)
Cover Siegfried Kracauer "Werke Band 5.1."
Cover Siegfried Kracauer "Werke Band 5.1."© Suhrkamp Verlag
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