Die großen Fragen des Daseins

21.11.2008
Der Buchtitel lässt anderes vermuten, doch die Helden des Romans "Die Flügel meines Vaters" sind Frauen. Ihre Geschicke und Träume bestimmen die Handlung. Aus dem frischen und phantasievollen Blickwinkel einer 14-Jährigen Ich-Erzählerin geht es um Leben und Schicksale an der Küste Sardiniens.
Sie ist 14 Jahre alt, ein bisschen naseweis, manchmal frech und sehr, sehr neugierig: die Erzählerin in Milena Agus' neuem Roman "Die Flügel meines Vaters". Die sardische Schriftstellerin wählt für ihr drittes Buch eine Heldin, die einen unvoreingenommenen Blick auf die Welt hat und sich mit Witz und Phantasie durchschlägt. Als erstes schildert sie ihre Umgebung. Es gibt ein saphirblaues Meer, einen durchsichtigen Himmel, silbern schimmernde Granitfelsen, Steinmauern, Olivenhaine und struppige Macchia.

Weil sich ihr Vater aus dem Staub gemacht hat und die Familie über keine regelmäßigen Einkünfte verfügt, lebt die vorwitzige Schülerin mit ihrer gemütskranken Mutter, den jüngeren Geschwistern und dem Großvater auf dem Land. Aber der Erzählerin gefällt das einfache Leben an der sardischen Küste. Bisher wurde dieser Landstrich noch nicht für Touristen verschandelt, denn die Nachbarin, die von allen "Madame" genannt wird und ein kleines Hotel betreibt, weigert sich stoisch, ihr großes Grundstück mit Zugang zum Meer an Investoren zu verkaufen.

Es sind die Geschicke von Madame, die den Rhythmus des Romans vorgeben - kuriose Episoden aus ihrem Liebesleben, Erniedrigungen, Sehnsüchte, Schmerzen. Madame, von der Ich-Erzählerin bewundert und geliebt, ist Anhängerin einer im Alltag praktizierten Magie und bereitet täglich eine ganz bestimmte Anzahl von Speisen zu, deckt eine bestimmte Anzahl von Gläsern und Tellern und übt sich im Dechiffrieren von Zeichen. Ihr größter Traum ist eine Reise nach Paris. Immerhin nimmt sie Französischstunden bei einem Senegalesen, der sonst als Strandverkäufer unterwegs ist. Sie ist sich dessen nicht bewusst, aber sie ist eine ganz besondere Frau. Dass sie ihr Lebensglück auch verdient, macht ihr erst ein Arzt aus Cagliari bewusst, der sie um ihrer selbst willen als Frau will.

So geht es auf und ab mit unerwarteten Wendungen und Schicksalsschlägen, allesamt dargeboten aus der Perspektive einer 14-Jährigen, die weder wertet noch urteilt, sondern vor allem beobachtet.

Nicht nur der Wandel von Madame ist Gegenstand des Romans. Auch die Umerziehung einer weiteren Nachbarsfamilie. Diese Familie schien zuerst ein Ausbund an Konformismus zu sein: lauter kleine Soldaten im Dienste der katholischen Familienideologie. Durch den Einfluss Madames verändern sich auch diese Menschen.

Zwischendurch nimmt die Erzählerin auf ihr eigenes Leben Bezug, schildert die Traurigkeit der Mutter und die Gradlinigkeit des Großvaters. Eines Tages spürt sie plötzlich die Anwesenheit ihres Vaters: als der Wind in die Leintücher auf ihrem Bett fährt, breitet der Vater seine Flügel über ihr aus.

Der lakonisch erzählte Episodenroman entwirft eine kleine soziale Utopie. Milena Agus legt dar, wie sich eine Gruppe widerspenstiger Menschen dem herrschenden Materialismus entzieht, einen anderen Wertekanon etabliert und ein neues Modell von Gemeinschaft ausprobiert.

Der Charme des Büchleins liegt nicht nur in der sympathischen Parteinahme für Toleranz und Nonkonformismus, sondern auch in dem frischen Ton, den Agus ihrer Erzählerin auf den Leib schreibt. Die stilisierte Naivität der Heldin bietet die Möglichkeit, die großen Fragen des Daseins auf direkte und sehr zugängliche Art zu verhandeln.

Für Milena Agus ist die Literatur eine existenzielle Angelegenheit. Die Arbeit an ihren Geschichten bietet der knapp 50-jährigen Italienischlehrerin aus Cagliari einen Fluchtraum – an Veröffentlichung hatte die seit ihrer Jugend schreibende Agus nie gedacht. Erst als sie durch einen Zufall den kleinen Verlag Nottetempo entdeckte, der sich auf in einer Nacht zu bewältigende Kurzromane spezialisiert hat, kam sie auf die Idee, ihre Geschichten dort einzureichen.

Dass sie mit ihren Romanen plötzlich nicht nur in Italien, sondern vor zwei Jahren auch in Frankreich und Spanien auf den Bestsellerlisten landete, kam für Milena Agus dennoch überraschend. Sie nimmt den Erfolg hin, wie ihre Helden das Leben hinnehmen: unprätentiös, gelassen und mit viel Sinn für die Unwägbarkeiten des Schicksals.

Rezensiert von Maike Albath

Milena Agus: Die Flügel meines Vaters
Roman, aus dem Italienischen übersetzt von Monika Köpfer
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008.
158 Seiten, 15,95 Euro