Die große Freiheit

Moderation: Christine Watty · 20.09.2013
Es ist das teuerste Videospiel aller Zeiten, mit einer riesigen Welt und enormer Entscheidungsfreiheit für den Spieler: Seit dieser Woche fesselt "GTA V" Millionen Menschen vor die Bildschirme. Was den besonderen Reiz des Spiels ausmacht, erklärt der Games-Journalist Christian Schiffer.
Christine Watty: Angeblich wurde kurz nach dem Verkaufsstart in dieser Woche des Computerspiels "Grand Theft Auto V" in Großbritannien ein Mann ermordet und dieses Spieles beraubt, das er davor erworben hatte. Das ist vielleicht nur eine Mär, die genauso aber auch in GTA V selbst stattfinden könnte, denn das ist auch ein brutales Actionspiel mit Verbrechern und Morden und ziemlich fiesen Szenen, aber zugleich kann man sich mit Hilfe dieses Computerspieles in einer vollständig eingerichteten Welt bewegen. Wie das geht? Markus Richter hat es schon gespielt, hören Sie mal.

Das war Markus Richter, er hat es schon gespielt, die fünfte Folge von "Grand Theft Auto", die teuerste Videospielproduktion aller Zeiten. Der fünfte Teil, wie gesagt, ist erschienen, und wir sprechen jetzt mit Christian Schiffer, er ist Journalist und Games-Experte, gibt unter anderem die "WASD" heraus, ein Essaymagazin über Games-Kultur, und berichtet ansonsten viel über Videospiele. Er ist jetzt im Studio in München für uns. Hallo, Christian Schiffer!

Christian Schiffer: Hallo!

Watty: Sie haben es natürlich auch schon gespielt, wie ich weiß – was fanden Sie denn am tollsten in der neuen Ausgabe von "Grand Theft Auto"?

Schiffer: Ja, bei GTA hat man ja immer das Problem, dass man so in diese riesige Welt hineingestürzt wird, wo alles so toll ist, und dann fährt man diese Straße entlang und es gibt viel zu entdecken, und was passiert dann? Man sieht dann einen Golfplatz und denkt sich, ach ja, das probiere ich jetzt doch mal schnell aus, hier eine Runde Golf zu spielen. Und dann vergehen drei Stunden, in denen man eigentlich nichts anderes gemacht hat als Golf zu spielen. Obwohl man dort eine irgendwie eine riesige Welt vor sich hat. Und so war es diesmal auch. Also ich bin tatsächlich wieder irgendwie drei Stunden beim Golfspielen versumpft gestern, hab aber trotzdem es geschafft, noch sehr, sehr viel von dieser wirklich sehr schönen, detaillierten und großen Welt zu erkunden.

Watty: Dann ist es ja fast wie im richtigen Leben auch in diesem Computerspiel. Man will irgendwas tun und bleibt aber bei irgendeiner anderen, nebensächlicheren Sache hängen. Aber, um die Struktur dieses Spiels noch mal zu verstehen: Normalerweise kennen wir ja, selbst, wenn wir sie vielleicht nicht selber spielen, Computerspiele, bei denen man irgendeine Mission verfolgt. Man hat einen Auftrag, man muss ein Ziel erreichen, bei den fiesen Spielen ist man ein Verbrecher und muss irgendwas schaffen, um ein neues Leben zu bekommen, aber es scheint so, als wäre es bei "Grand Theft Auto" so, dass man sich wirklich in diese Welt hineinbegeben kann und sich entscheiden kann, ob man diesen Spielmodus aufnimmt oder einfach nur herumguckt.

Schiffer: Genau so ist es. Also, Missionen gibt es da auch, auch hier gibt es natürlich eine Hintergrundgeschichte, die sehr ausdifferenziert ist, aber man kann diese Missionen machen, wann man möchte. Und wenn man eben Lust hat, drei Stunden Golf zu spielen, dann spielt man eben drei Stunden Golf. Aber man kann auch tauchen gehen oder man kann auch in der Stadt einfach nur herumfahren. Man kann den Fernseher anschalten, man kann Radiosender hören, so ähnlich, wie wir das eben auch in dem Beitrag gerade gehört haben.

Und das macht tatsächlich eines dieser Grundprinzipien schon immer aus dieser Spielserie, diese große Freiheit. Also diese große Freiheit, wo ich hinfahren kann, hingehen kann – ja, in dieser ganzen Welt, wohin ich möchte, die große Entscheidungsfreiheit. Dass ich auch die Entscheidung habe, mal nichts zu tun oder was ganz anderes zu tun oder etwas zu tun, was in dem Spiel vielleicht gar nicht vorgesehen ist. Also, ich kann mich noch gut an Stunden mit meiner Ex-Freundin erinnern, die irgendwie einen großen Spaß daran hatte, mit dem Mofa irgendwelche Sprungschanzen sich zu suchen und präzise in Swimmingpools hineinzuspringen.

Also das ist eigentlich das Schöne, dass es zwar ein Abbild ist unserer Welt, ein überzeichnetes Abbild, und da könnte man sagen, na ja gut, da kann man ja auch vor die Tür gehen, nur das Schöne ist natürlich auch, in dieser Welt dann Dinge zu tun oder Dinge auszuprobieren, die normalerweise nicht vorgesehen sind.

Watty: Und das Besondere an GTA ist auch, dass sich dieses Abbild der Welt in diesen verschiedenen Folgen auch immer wieder verändert. Los Santos heißt diese Stadt, in der wir uns da befinden. Hat die sich tatsächlich selbst im Lauf der Jahre immer der Realität außerhalb des Spiels, also der echten Realität angepasst?

Schiffer: Also, in der Regel ist es ja so, dass GTA immer in einer anderen Stadt spielt, beziehungsweise diese Stadt gab es jetzt auch schon mal, also es doppelt sich manchmal. Und das sind in der Regel so ein bisschen Mash-ups von verschiedenen amerikanischen Städten. In diesem Fall orientiert es sich an Los Angeles, im Vorgänger war es New York, aber es gibt dann doch auch immer Elemente aus anderen Städten. Also architektonisch und kulturell, die da ein bisschen eingewoben werden.

Aber tatsächlich ist es so, dass die Reihe immer einen Ausschnitt der jeweiligen Zeit zeichnet. Es ist in gewisser Weise ein Sittengemälde. Also im Vorgänger beispielsweise, da lief man noch mit Klapphandys herum und konnte sich per "MySpace" eine Freundin suchen. Jetzt gibt es natürlich irgendwie tolle Smartphones. Es gab auch Teile, die beispielsweise in den 80er-Jahren gespielt haben, "Vice City", da war dann alles so in flamingo-pink getaucht und es gab auch "GTA San Andreas", das spielt ja dann in den 90ern. Und jeweils ist es dann eben so, dass diese Welt genauso funktioniert, wie sie eben damals funktioniert hat mit allem, was sie beinhaltet, nur eben in einer sehr überzeichneten, sehr starken ironisierten Form.

Watty: Christian Schiffer, Computerspielexperte, im Radiofeuilleton über die neue Folge von "Grand Theft Auto", kurz GTA. Sie haben gerade schon den Begriff des Sittengemäldes fallen lassen. Heißt das, Sie sehen dieses Spiel auch tatsächlich als eine Art der Simulation der US-amerikanischen Gesellschaft im Wandel der Zeit?

Schiffer: Also Simulation würde mir zu weit gehen, weil Simulation ja immer beinhaltet, dass etwas besonders realistisch sein muss und vielleicht auch trocken realistisch. Das ist hier nicht so. Ich würde den Begriff des Sittengemäldes tatsächlich verwenden, weil ich das schon in einer gewissen vielleicht auch sogar Literaturtradition sehe, nämlich tatsächlich in der Tradition des Romans. Wenn wir uns anschauen zum Beispiel Romane wie von Upton Sinclair, der Anfang des 20. Jahrhunderts oder Ende des 19. Jahrhunderts die Situation geschildert hat in Schlachthäusern in New York. Und natürlich sehr, sehr krass auch das popularisiert hat auf seine Art und Weise, und dann auch auf die Missstände hingewiesen hat. Der Vergleich hinkt natürlich an ein paar Stellen, weil eben GTA nicht dokumentarisch ist. Aber GTA bemüht sich durchaus, ein scharf gezeichnetes Sittengemälde zu zeichnen und auch zu überzeichnen und damit auch Kritik zu üben. Also so wie wir es vorher auch schon gehört haben, die Welt, die wir dort sehen, hat sehr viel mit unserer Welt zu tun, aber sie ist eben an ein paar Stellen noch greller. Und das weist einen dann auch darauf hin, was vielleicht in unserer Welt gerade nicht so gut läuft.

In GTA IV zum Beispiel war eines der Leitthemen die Terrorangst. Wenn man da irgendwohin fahren wollte, dann kam man da nicht weiter, weil die Straße war gesperrt wegen Terror. Und in den Radiosendern ging es die ganze Zeit um die Terrorangst und dass man sich da, was man da irgendwie alles machen muss, welche Gesetze man da wieder machen muss und diese ganzen Geschichten. Das war dann klares Leitthema. Da wurden dann zum Beispiel so Sender wie man sie halt kennt – "Fox News" hieß dann dort "Weasle News", wurden da gnadenlos überzeichnet. Und so ähnlich ist das jetzt in GTA V auch, nur dass da weniger die Terrorangst jetzt eine Rolle spielt, sondern viel mehr die Wirtschaftskrise und deren Auswirkungen. Also, GTA, wenn man das lesen will, dann kann man da durchaus eben diese sozialkritischen Sachen eben auch rauslesen.

Watty: Jetzt haben Sie den großen, schweren Romanvergleich getätigt, aber so, wie es das Spiel tut, kann es ja sogar besser als der Roman oder jedes andere Medium auch wirklich die ganzen Facetten der Kultur konservieren. Es hat eben auch Fernsehen, Radiostationen, man kann ins Internet in diesem Spiel. Hat allein deshalb dieses Spiel damit seine Berechtigung zum Kultspiel, zum Kulturgut am Ende?

Schiffer: Ja, da würde ich jetzt gar nicht sagen, das Spiel an sich, sondern das Medium grundsätzlich. Also aus demselben Haus gibt es ein Spiel, das spielt Ende der 40er-Jahre, da kann man neben dem Radio stehen und eine Stunde lang eine Rede des damaligen Präsidenten Truman hören. Eine Stunde lang, wenn man möchte. Muss man nicht, man kann auch was anderes tun. Und das könnte natürlich ein Buch nie. Also, in einem Buch könnte man nicht irgendwie eine Stunde Truman-Rede abdrucken. Oder im Film auch nicht. Das wäre ja ein sehr langweiliger Film möglicherweise. Aber das Medium Computerspiel gibt die Möglichkeiten, das eben zu tun, weil es eben interaktiv ist und nicht linear.

Und das sieht man eben bei GTA eben auch. Also, bei GTA IV konnte man zum Beispiel auch ins Cabaret gehen und sich dort einfach hineinsetzen. Von den Radiosendern haben wir schon gesprochen, von den Internetseiten, von denen es eben auch viele Kopien in diesem Spiel gibt, die halt zum Teil satirisch natürlich sind. Das ist auch noch so eine Facette. Und damit ergibt das tatsächlich so eine Art Mosaik der zeitgenössischen Pop-Kultur, und ein Mosaik tatsächlich in dieser Präzision und in dieser Tiefe auch, das, glaube ich, kann nur das Medium Computerspiel leisten. Was es natürlich nicht über andere Medien erhebt, aber es ist was ganz Besonderes, und das zeigt tatsächlich auch dieses Spiel, GTA V, sehr exemplarisch.

Watty: Und, spielen Sie jetzt gleich weiter, nach diesem Interview?

Schiffer: Ich muss tatsächlich leider arbeiten, aber ich hab mir tatsächlich eine lange Nacht vorgenommen und auch schon viel Essen dafür eingekauft.

Watty: Danke schön an Christian Schiffer, Journalist und Herausgeber von "WASD", einem Essaymagazin über Games-Kultur. Vielen Dank für das Gespräch über die neue Folge von GTA und viele Grüße nach München. Tschüs!

Schiffer: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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