Die Globalisierung der Kiste

Von Adolf Stock · 29.11.2006
Am 4. Dezember wird das Bauhausgebäude in Dessau 80 Jahre alt. Es ist weltberühmt und steht heute auf der Weltkulturerbeliste. Die Schule des Bauhausgründers Walter Gropius ist nicht nur eine Ikone der Moderne, sie markiert auch den Beginn einer weltweiten Erfolgsgeschichte.
Es ist eine Erfolgsgeschichte mit Widersprüchen, denn im Laufe der Jahrzehnte wurden die sozialen Voraussetzungen der Bauhaus-Architektur immer weiter zurückgedrängt, bis nur noch formale Kriterien übrig blieben. So zurechtgestutzt wurde der »Internationale Stil« zu einem globalen Phänomen, überall und universell einsetzbar.

"Endlich eine Feder ausgebuddelt! Ich sitze auf unserer Terrasse, die einfach wonnig ist. Es fliegen gewaltige Junkersflugzeuge über unserm Wäldchen herum, das ist eine Pracht anzusehen. Das Treppenhaus ist meine ganze Freude, so lustig, mit dem roten Geländerstreifen auf den kobaltblauen glatten Treppenwangen. Ich hätte nicht geglaubt, dass unser Balkon in Weimar so leicht verschmerzt werden würde. Im Gegenteil ist es hier tausendmal schöner. Und luftig, bewegte Luft, aber gebrochen durch den Kiefernwald, so dass man Schutz hat, an irgendeiner Stelle."

Diese Zeilen schrieb der Maler, Komponist und Bauhaus-Lehrer Lyonel Feininger im Spätsommer 1926 von seiner neuen Dienstvilla aus an seine Frau, nachdem die Kunstgewerbeschule vom bürgerlichen Weimar in die Industriestadt Dessau gezogen war.

Der Architekt und Bauhaus-Gründer Walter Gropius hatte drei repräsentative Doppelhäuser für das Lehrpersonal entworfen. Er selbst zog in ein Einzelhaus, in die so genannte Direktorenvilla. Es waren vier völlig neuartige Häuser, weiße Kuben mit hellen Ateliers und großzügigen Terrassen, wie sie sonst nur noch auf den großen Passagierschiffen zu finden waren, die in jenen Jahren den Atlantik überquerten. Luxus und Fortschritt gaben sich in einem Dessauer Kiefernwäldchen ein Stelldichein.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Walter Gropius in München und Berlin Architektur studiert. Nach dem Studium wurde er Mitarbeiter im Architekturbüro von Peter Behrens, der Anfang des letzten Jahrhunderts überall bewundert wurde, weil er in Berlin-Wedding eine Turbinenhalle für die AEG entworfen hatte: einen modernen Zweckbau aus Stahl und Glas, der sich dennoch nicht scheute, klassizistische Elemente von Schinkel zu zitieren.

Doch nicht nur das: Behrens war auch der Erfinder des modernen Grafikdesigns. Er entwarf für die AEG ein einheitliches Erscheinungsbild, das vom Briefkopf über Plakate bist hin zur Verpackung reichte. Innovative Architektur und Industriedesign haben später am Bauhaus eine herausragende Rolle gespielt.

1919 wird Walter Gropius, aus den Schützengräben des Krieges zurückgekehrt, an die Großherzoglich Sächsische Hochschule für bildende Kunst in Weimar berufen, die nun offiziell den Namen Staatliches Bauhaus in Weimar trägt. Die neue Kunstgewerbeschule wollte die Ausbildung revolutionieren. In einem Gründungsmanifest forderte Gropius die Rückbesinnung auf die Tugenden des Handwerks und die Bauhütten des Mittelalters.

"Künstler, stürzen wir endlich die Mauern um, die unsere verbildende Schulweisheit zwischen den ‚Künsten’ errichtete, um alle wieder Bauende zu werden!"

"Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Baugedanken. Maler und Bildhauer, durchbrecht also die Schranken zur Architektur und werdet Mitbauende, Mitringende um das letzte Ziel der Kunst: die schöpferische Konzeption der Zukunftskathedrale."

"Dahinter steckt ja dieser Traum von mittelalterlicher Bauhütte, eine Art Kathedral-Bewusstsein. Und das Kathedral-Bewusstsein, dass man mit allen Kräften des Volkes oder der Bevölkerung oder der Stadtbewohner sich ein großes, gemeinsames, öffentliches Gebäude baut. Also sagen wir mal eine Kirche, die der klare Ausdruck dafür ist, das überträgt sich in den zwanziger Jahren auf diese Bauhaus-Idee. In Weimar geht’s ja los. Und ich denke mal, das ist ein idealtypisches Leitmotiv eigentlich bis heute, und der Bau ist ein Motiv, was es über Jahrhunderte eigentlich tradiert gibt und das immer noch für viele ein Vorbild ist, nur heute hat es natürlich solche Perspektiven nicht mehr."

Für den Berliner Architekturhistoriker Jonas Geist symbolisiert die Zukunftskathedrale den Wunsch nach einem sozialen und künstlerischen Gesamtkunstwerk. Solche Ideen hatten schon das 19. Jahrhundert beflügelt, so sah Richard Wagner im "verständigen Zusammenwirken aller Kunstarten" die neue und die bessere Zukunft. Das war eine Utopie, die Gropius jetzt nur noch einmal neu formulierte und die im Bauhaus lange nachwirken sollte, selbst dann noch, als sich die Kunstgewerbe¬schule von seinen handwerklich und esoterisch geprägten Anfängen zu lösen begann und die Nähe zur Industrie suchte.

In Thüringen geriet das Bauhaus-Konzept schon bald in die Kritik. Nach den Landtagswahlen 1924, in denen die rechten und konservativen Parteien die Mehrheit bekamen, wurden die Subventionen radikal zusammengestrichen. Das Bauhaus musste Weimar verlassen und zog nach Dessau, wo die Gemeinde die Finanzierung der Hochschule übernahm.

Mit dem Umzug war auch ein Mentalitätswandel verbunden. "Kunst und Technik eine neue Einheit" wurde nun verkündet. Das Bauhaus hatte den aussichtslosen Kampf gegen die Industriegesellschaft aufgegeben, und ein neuer Pragmatismus gewann die Oberhand. Plötzlich wurde über Architektur nicht nur geredet, sondern es wurde konkret geplant und gebaut, sagt Annemarie Jaeggi, Leiterin des Berliner Bauhaus Archivs.

"Das ist etwas, was fundamental ist für einen Großteil der Architekten, die sich engagiert haben im Neuen Bauen. Man versucht, die gefängnis¬artige Architektur, die bisher vorherrschte und sich vor allem natürlich in Ornamenten und in Säulenordnungen, in althergebrachten Schmuck¬formen, die die Würde und die Großartigkeit eines Gebäudes und seiner Entrichtungen visualisieren sollte, mit dem versuchte man ganz radikal zu brechen."

Heute haben wir uns an solche Kisten, wie sie plötzlich in der Dessauer Vorstadt standen, längst gewöhnt. Doch in den zwanziger Jahren wurde das allgemeine ästhetische Empfinden mit dieser neuen Architektur noch reichlich strapaziert. Plötzlich war Schluss mit dem Fassaden-Fetischismus, der noch bis Anfang des letzten Jahrhunderts ganz selbstverständlich war, weil die Architekten ihre schöpferische Energie vor allem auf die Schauseite der Gebäude konzentrierten.

"Gropius und die Architekten des Neuen Bauens wollten ja weg von diesem starren, alten System, dass die Fassade immer was hergibt, aber dann die Seiten oder die rückwärtige Seite abfällt. Der braucht man keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weil die sowieso so gut wie niemand mehr sieht."

Gropius ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er sagte, moderne Gebäude, wie die Meisterhäuser oder das Bauhaus in Dessau, müssen auch aus der Luft wahrgenommen werden.

"Das sieht man auch in den Darstellungen, in den architektonischen Zeichnungen, dass dann im Büro Gropius begonnen wurde, von oben Ansichten zu zeichnen, nun gibt es das schon länger, aber auch von unten. Also das schwebende, vom Boden abhebende Bauwerk, was man versucht, auf solchen außergewöhnlichen Zeichnungen darzustellen, als ein eigenständiger Körper, der eben auch aus Perspektiven wahrgenommen werden soll, die vielleicht bisher unüblich gewesen sind."

Auf den entsprechenden Skizzen und Zeichnungen sehen die Gebäude wie Raumschiffe aus, die ohne Bodenhaftung im Weltraum schweben.

"Also nicht bloß die Architektur als ein dreidimensionaler Körper, sondern – das bezeichnete man damals gerne als die vierte Dimension – die Zeit, die man braucht um einen solchen Bau wahrzunehmen, nicht mehr von der Fläche seiner Fassade, sondern von seiner Gesamtheit, es zu umschreiten oder zu umzingeln."

Albert Einstein hielt das alles für Quatsch. Er wusste, dass Architekten und Künstler die Relativitätstheorie nicht ernsthaft umsetzen konnten. Doch die schroffe Zurückweisung hinderte die kreative Avantgarde keineswegs, mit Blick auf die Naturwissenschaften und den technischen Fortschritt nach einem neuen Verhältnis von Raum und Zeit zu suchen. Etwa Pablo Picasso, der in seinen kubistischen Bildern die Perspektiven wild durcheinander schob, oder der Architekt Erich Mendelsohn, der mit expressivem Schwung seinen Einsteinturm entwarf, ein Sonnen¬observatorium auf dem Potsdamer Telegraphenberg, das bestenfalls symbolisch mit der Relativitätstheorie in Zusammenhang zu bringen ist.

Schon 1922 hatte Walter Gropius am Weimar Bauhaus Vorlesungen über "Raumkunde" gehalten. Auch er war von Einstein fasziniert, und bei den Entwürfen für die Meisterhäuser und das Bauhaus-Gebäude führte auch Einstein im Hintergrund ein wenig Regie. Und so hatte Gropius mit seinen Bauten tatsächlich ein neues Verhältnis zu Raum und Zeit gefunden.

1994 zog das Design Zentrum Sachsen-Anhalt für ein paar Jahre in ein noch nicht renoviertes Meisterhaus.

"Da hatten wir uns die verrotteten Juwelen der Stadt Dessau herausge-sucht, nämlich die verkrusteten Meisterhäuser und hatten dort bezogen das Haus Klee-Kandinsky, nachdem uns zuvor die Stadtverordneten und auch der Oberbürgermeister entgeistert fragten, was wir denn eigentlich in diesen Schutthäusern wollten. Ja also wir haben gesagt, okay, das sind für uns sehr interessante Gebäude, die Räume waren verhältnismäßig großzügig, weil sie eine Höhe haben, die sehr außergewöhnlich war, es war also nicht unsere heutige Altbauhöhe, es war aber auch nicht die Neubauhöhe, es ist genau ein sehr biologisches Mittelmaß, was dort drin ist, in einem positiven Sinne, und natürlich gibt es eine von Gropius wahrscheinlich erdachte Lichtkonzeption. Die Häuser hatten einen bestimmten Winkel zum Tageslicht, der sehr interessant ist. Nicht nur das Nordlicht im Atelier, sondern man kann im Laufe des Tages mit dem Licht die einzelnen Räume aktivieren lassen, also mit dem Licht durch das Haus wandern. Das ist mir immer wieder aufgefallen und das bestätigt sich eigentlich auch vor allen Dingen dadurch, dass in der Originalarchitektur diese Lichtgassen waren, die ja dann zurückgebaut wurden im Verlauf der 30er Jahre."

Für Marion Diwo, damals Leiterin des Design Zentrums Sachsen-Anhalt, war die Aura der Meisterhäuser ein unvergleichliches Erlebnis.

Wer heute in die frisch renovierten Meisterhäuser geht, trifft auf ein museales Ambiente. Die Räume werden als Ausstellungsflächen genutzt, und in den Ateliers finden kleine Konzerte oder Vorträge statt.

"Eigentlich sind für mich die Häuser, nachdem ich jetzt die auch wieder saniert betreten habe, einer bestimmten Atmosphäre entkleidet. Die nicht renovierten Häuser haben mit ihrer Zeit, mit der Aura der Geschichte gelebt. Die sozusagen puristische Renovierung hat die Zeit irgendwie entkleidet. Ich kann es nicht genau beschreiben, ich kann Ihnen nur sagen, heute interessieren mich die Häuser weniger als damals zu der Zeit, als sie noch ganz versteckt und verrottet dalagen."

Von den Meisterhäusern ist es nicht weit bis zum Bauhaus-Gebäude. Es steht heute an einer breiten Straße mit Siedlungsbauten, in einer eher städtischen Umgebung. Als das Dessauer Bauhaus am 4. Dezember 1926 eröffnet wurde, war die Situation völlig anders. Damals stand eine verschachtelte Kiste ganz allein auf einem freien Feld und demonstrierte mit gehörigem Selbstbewusstsein den Beginn einer neuen Architekturauffassung.

"Ich kam nach Einbruch der Dunkelheit an und stand vor diesem wunderschönen Gebäude mit Glasfront, alles war erleuchtet und man sah, wie die Menschen in dem Gebäude umher gingen. Versuchen Sie sich das einmal vorzustellen: einen 15 Meter hohen Bereich mit Glas, durch das die Lichter strahlen, und die Stahlträger der Konstruktion in einem Abstand von etwa eineinhalb Metern hinter dem Glas. Sie können sich nicht vorstellen, welch ein Erlebnis dieser Anblick für mich war.

Ihnen hätte es genauso die Sprache verschlagen wie mir. Ich war in ein fremdes Land gekommen und hatte gerade eine furchtbar unangenehme Zugreise hinter mir, wo die Leute eine Sprache sprachen, die ich nicht verstehen konnte, und plötzlich war ich an diesem wunderbaren Ort angekommen und ich fragte mich, ‚Wo bin ich hier?’"

Vor ein paar Jahren erinnerte sich der Brite Wilfred Frank in einem Interview, wie er 1929 als Student das Dessauer Bauhaus zum ersten Mal sah.

Es war ein transparentes Haus, nicht nur wegen seiner spektakulären Glasfassade, sondern auch, weil es alle Gebäudefunktionen offen zeigt, sagt Annemarie Jaeggi.

"Es ist ganz nach Funktionen orientiert. Jeder Bereich innerhalb dieser Schule wird durch ein eigenständiges Gebäude, oder einen eigen¬ständigen Flügel, man muss schon sagen markiert. Es gibt das Brücken-Gebäude, was über die Straße hinweggeht, und in der Brücke war die Verwaltung untergebracht, aber auch das Zimmer des Direktors. Die Werkstätten sehen aus wie eine große Fabrik oder wie ein Laboratorium und sind zweiseitig vollständig verglast, vom Erdgeschoss bis ins oberste Geschoss hochragend. Oder dann gibt es das Atelier-Gebäude, fünfgeschossig, wirkt fast wie so ein kleines Hochhaus, dort gab es eben die Ateliers, die Einzimmerwohnungen, das wird sehr deutlich gemacht, dass jeder dieser Wohneinheiten dann ein Balkon zugeordnet ist. Es ist ganz klar, Balkons gibt es ja eigentlich nur bei Wohnungen, also muss das ein zum Wohnen gedachter Trakt sein."

Das neue Konzept wurde von der zeitgenössischen Architekturkritik begeistert aufgenommen. Adolf Arnheim schwärmte von der Klarheit und Großzügigkeit des neuen Gebäudes.

"Durch die großen Fenster kann man schon von außen den arbeitenden Menschen auf die Finger, den ruhenden in ihr Privatleben sehen. Jedes Ding zeigt seine Konstruktion, keine Schraube ist versteckt, keine schmückende Ziselierkunst verheimlicht, welches Rohmaterial da verarbeitet worden ist. Man ist sehr versucht, diese Ehrlichkeit auch moralisch zu werten."

Die Moral war natürlich keine Frage der Baukonstruktion, sondern hatte vor allem eine gesellschaftliche Dimension. Bauhaus-Lehrer Oskar Schlemmer plagte schon das schlechte Gewissen, noch bevor er mit seiner Familie in sein Dessauer Meisterhaus zog.

"Ich bin erschrocken, wie ich die Häuser gesehen habe! Hatte die Vorstellung, hier stehen eines Tages die Wohnungslosen, während sich die Herren Künstler auf dem Dach ihrer Villa sonnen."

Der Großzügigkeit der Meisterhäuser stand im groben Widerspruch zu den Wohnungssorgen der Arbeiterschaft, sagt Annemarie Jaeggi.

"Man muss sich vorstellen, was für eine unglaubliche Wohnungsnot geherrscht hat nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem, weil der Wohnungsbau vor dem Ersten Weltkrieg dem offenen Markt preisgegeben war, weil es so gut wie keine Regu¬lierung gab. Das wurde dann anders. Mit der Weimarer Republik wurden große Wohnungsbauprogramme eingeführt, und für die Architekten hat sich jetzt auf einen Schlag eine absolute neue Bauaufgabe ergeben, in die sie sich mit wirklich großem Elan hineingeworfen haben."

Billiger Wohnraum war knapp. In Frankfurt am Main wurde schon industriell gebaut. Die Diskussion um die Mindestwohnung stand auf der Tagesordnung. Der Architekt Bruno Taut weigerte sich, Wohnungen mit weniger als 40 Quadratmetern Wohnfläche zu bauen, und auch in Dessau wurde nach Lösungen gesucht.

Die neue Klötzchen-Architektur war ideal für die neuen Bauaufgaben. Schon bei den Meisterhäusern waren vorgefertigte Platten aus Schlacke, Sand und Zement verwendet worden. Jetzt plante Gropius in Dessau-Törten eine Siedlung mit über 300 zweigeschossigen Reihenhäusern, mit 57 bis 74 Quadratmetern Wohnfläche, zu denen jeweils ein kleiner Garten gehörte. Der soziale Anspruch und das Neue Bauen bildeten endlich die gewünschte Symbiose.

Noch während die Siedlung in Törten entstand, verließ Walter Gropius das Bauhaus. Er schlug den Schweizer Architekten Hannes Meyer als Nachfolger vor, der im April 1928 dann auch Direktor wurde. Meyer wollte weg vom Bauhaus-Stil, er betonte noch weit radikaler den sozialen Aspekt der Architektur, und lieferte mit der Bundesgewerkschaftsschule in Bernau sein eigenes architektonisches Meisterstück. Doch schon zwei Jahre später wurde er von der Stadt Dessau entlassen, weil die Kommune die Politisierung an der Hochschule nicht länger dulden wollte. Mit Mies van der Rohe trat der dritte und letzte Bauhaus-Direktor auf den Plan. Der Architekt hatte mit Politik wenig im Sinn und legte den Schwerpunkt auf rein fachliche Fragen der Architekturausbildung.

Die politische Abstinenz wurde nicht belohnt. Im November 1933 beendete Mies die Bauhaus-Ära, um der Schließung durch die Nationalsozialisten zuvorzukommen. Damals gingen viele Bauhäusler ins Exil, und jeder einzelne trug die Bauhaus-Idee hinaus in die weite Welt. Nach England, Russland und vor allem nach Nordamerika.

Walter Gropius ging zunächst nach England und zieht später weiter in die USA, wo er Professor an der Harvard-Universität in Cambridge wird. Kollege Mies van der Rohe bekommt die Stelle als Dekan der Architekturabteilung des ‘Institute of Technology’ in Chicago, und gleich um die Ecke gründet Bauhaus-Lehrer Moholy-Nagy sein ‘new bauhaus’. Kollege Josef Albers verschlägt es nach North Carolina, und Lyonel Feininger landet zunächst in Oakland, um später nach New York zu gehen. Hannes Meyer hingegen schlägt aus politischen Gründen seine Zelte in Moskau auf und arbeitet später in Mexiko.

Doch die Bauhäusler lehrten nicht nur, sie bauten auch Häuser im neuen Stil: Mies van der Rohe verändert mit seinen eleganten Wolkenkratzern das Gesicht von Chicago, Bauhäusler Marcel Breuer baut das Whitney Museum in New York, und Walter Gropius setzt – ebenfalls in New York – das 49-geschossige PanAm-Building mitten auf die Park Avenue.

Nach dem Großen Brand von 1871 wurde Chicago mit Hochhäusern wieder aufgebaut. Die Erfindung des Fahrstuhls und der Stahlskelettbauweise machten es möglich. Wie mit dem Stabilbaukasten ließen sich jetzt beliebig viele Stockwerke übereinander stapeln. Die Bauherren am Michigansee legten höchsten Wert auf Rentabilität und waren stolz, die ersten Wolkenkratzer der Welt zu besitzen.

Ästhetisch blieb zunächst noch alles beim Alten, die neuen Hochhäuser kamen im traditionellen Outfit daher. Es gab riesige Backsteingebäude, oder sie sahen aus wie alte Burgen und Schlösser, die aus Versehen in die Höhe geschossen waren. Die Formensprache sollte sich erst mit der Ankunft der Bauhäusler ändern, sagt Annemarie Jaeggi.

"Amerika, was sehr stark noch in der Tradition der Ecole des Beaux-Arts verhaftet war, hat sich dann radikal von diesen Prinzipien in den nach¬folgenden Jahren abgekehrt. Ich würde schon sagen, was die Schulen anbelangt, in erster Linie durch die Emigranten beeinflusst, und dann müssen wir einfach Gropius benennen, der der Chef der Architekturabteilung in Harvard wurde, in der Elite-Universität, aber wir müssen auch Mies van der Rohe nennen. Da sind sehr, sehr viele Studenten hervorgegangen, die dann natürlich im modernen Sinne in Amerika gearbeitet haben."

"Oh, weiße Götter. Wie sie sich vor ihnen in den Staub warfen! Welche Huldigungen! Das Museum of Modern Art ehrte Gropius mit einer Ausstellung namens ‚Bauhaus 1919-1928’: der Zeitraum, in dem Gropius sein Leiter gewesen war. Philip Johnson, inzwischen fünfunddreißig Jahre alt und MoMA's Kurator für Architektur, legte sein Amt nach der Ausstellung nieder, um nach Harvard zu gehen und zu Gropius' Füßen Architektur zu studieren."

Keiner hat den Erfolg der Bauhaus-Architektur so bissig kommentiert wie der Amerikaner Tom Wolfe. Er wirft den Bauhaus-Exilanten vor, die architektonischen Traditionen Amerikas mit der Idee von der Kiste zerstört zu haben.

Der Erfolg kam nicht von ungefähr, schon in den 20er Jahren wurde in den Vereinigten Staaten aufmerksam verfolgt, was am Bauhaus vor sich ging, sagt Wolfgang Voigt vom Deutschen Architektur Museum.

"Seit Gropius 1923 seine erste Bauhaus-Ausstellung in Weimar gemacht hat und er das Internationale Architektur genannt hat, in dem Büchlein was dazu erschien, haben wir das Konzept, dass das eben vom Ort und von der Region losgelöst etwas Universelles ist. Und neun Jahre später wird das dann ja in der berühmten Ausstellung am MOMA von Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson bestätigt als ‚The International Style’. Das ist erst einmal eine Tatsache, und als solches hat es sich dann auch tatsächlich mit wirklich wenig Nuancen international verbreitet."

1932 wurde im New Yorker Museum of Modern Art erstmals ein umfassender Überblick über das neue Bauen gegeben. Der Architekt und Ausstellungskurator Philip Johnson brachte Fotografien, Zeichnungen und Modelle von Europa nach New York, sagt Annemarie Jaeggi.

"… und hat die Augen geöffnet, denke ich, für viele Amerikaner, für das, was in Europa sich ja seit gut zehn Jahren abspielte, und hat letztendlich auch den Boden geebnet oder die Tür geöffnet für die vielen Emigranten, die dann ab 33 nach Amerika kommen sollten."

Die Amerikaner behandelten die Bauhaus-Moderne als einen ästhetischen Stil, der ganz frei von sozialen Ansprüchen war. Sie ignorierten das moralische Anliegen der Bauhäusler und schufen so die Voraussetzungen für die Erfolgsgeschichte des International Style.

Anfang der 50er Jahre fuhren deutsche Architekten – junge wie alte – in die Neue Welt, besuchten Chicago und New York, um die Architektur der emigrierten Bauhäusler und ihrer Schüler zu studieren und um sich Anregungen für den Wiederaufbau der zerstörten Städte zu holen.

"Es ist ja auch dann wieder zurückgekommen von Amerika nach Europa. Und da gab es nach 1945 ja eine virulente Diskussion darüber, ob man da jetzt eigentlich weiter machen solle, oder ob das nicht der Zeitpunkt für etwas ganz anderes, für was Neues sei. Da kann man in den Architekturzeitschriften vor allem der 60er Jahre eine sehr intensive Auseinandersetzung pro und contra Bauhaus, pro und contra moderne Architektur finden. Das ist also alles andere als reibungslos abgelaufen."

Doch das Bauhaus behielt die Deutungshoheit über den rechten Weg in der Architektur. In der alten Bundesrepublik wurde das Bauhaus noch einmal zu einer moralischen Instanz, weil der International Style zu einem Synonym für Demokratie und Freiheit wurde. Dabei war die Gleichsetzung von Demokratie und Bauhaus-Moderne noch weitaus willkürlicher als die Verbindung der Kisten-Architektur mit der sozialen Frage während der Weimarer Republik.

Nach der Wende ist Julius Posener, Nestor der Architekturkritik, nach Dessau gefahren, um sein eher kritisches Urteil über die Kisten-Architektur noch einmal zu überprüfen.

"Wir alle haben es auswendig gekannt und anerkannt oder abgelehnt. Und dann kommt einer als uralter Mann endlich nach Dessau – und erblickt das Bauhaus zum ersten Male."

"Noch dies möchte ich zu Gropius’ Architektur im Bauhaus sagen: Da alles Konstruktive und das Räumliche stets gegenwärtig ist, gegenwärtig und verständlich, fühlt man sich in diesem Hause, das damals als ein Signal galt, ja ein Trompetenstoß, sehr bald ganz ruhig, dazugehörig, angeregt. Das mag im letzten Gropius’ Absicht gewesen sein: die Sensation um der Sensation willen hat ihm fern gelegen. Diesen Eindruck aber – und er bleibt, ihn nimmt man mit – ist das was man am wenigsten erwartet hatte."

Julius Posener staunte über eine Architektur, die mit ihren Prinzipien den Globus erobert hat. Zu diesen Prinzipien gehört auch, dass die Bauhaus-Moderne vom Altwerden nichts wissen will, sagt Annemarie Jaeggi.

"Man sieht ihnen das Alter nicht an und das ist ja auch das, was die meisten jungen Besucher im Museum immer so erheitert, wenn sie alte Fotos sehen. Zum Beispiel von den Dessauer Bauhaus-Gebäuden und da stehen dann die damaligen Autos davor, absolute Oldtimer vor dieser strahlend modernen Architektur. Also das scheint für viele eine unglaubliche Diskrepanz zu sein. Man könnte daraus ableiten, das Autodesign hat sich weiter entwickelt und die Architektur nicht. Kleben wir denn eigentlich immer noch was die Architektur anbelangt, an diesen Vorbildern, und warum ist das der Fall?"

Das Bauhaus steht noch immer für eine Ästhetik der Zeitlosigkeit, die nach wie vor heftig befürwortet oder abgelehnt wird. Doch welche Bedeutung hat nun der International Style? Wolfgang Voigt versucht eine Antwort.

"Das wird immer wieder behauptet, dass das Thema durch ist. Es gab ja mal immer wieder Gegenbewegungen. Die auffälligste sicherlich die Postmoderne in den 70er und 80er Jahren. Aber wir sehen eigentlich, dass das immer wieder kommt, allerdings ist es natürlich der früheren sozialen Inhalte meistens entkleidet, denn unsere Gesellschaft ist eine total andere als die der 20er Jahre, wo wir das Bauhaus hatten. Und es ist natürlich immer mehr ein Stil, ein reiner Stil."

Ideologisch hat das Bauhaus ausgedient. Flachdach, Kiste oder Spitzdach? Wer über die Dörfer oder in die Speckgürtel der großen Städte fährt, sieht die neu gebauten Einfamilien- und Reihenhäuser mit ihren konventionellen Satteldächern. Bei Otto Normalverbraucher ist das Bauhaus bis heute nicht angekommen.

Im öffentlichen Bereich sieht die Sache anders aus. Moderne Schulen, Museen oder öffentliche Gebäude sind ohne die Bauhaus-Ästhetik kaum noch vorstellbar. Weltweit wird die Ästhetik des Internationalen Stils gepflegt, und es sind oft hochwertige Einzelbauten.

"Es ist klar, wer sich profilieren möchte, muss natürlich seine eigenen Werke differenzieren gegenüber einem Mainstream im Weltmaßstab, aber es entstehen immer neue wunderbare Dinge, die dieser Formensprache folgen."

Im Nachhinein verschwimmen Begriffe: Funktionalismus, Klassische Moderne, Neue Sachlichkeit oder Neues Bauen. Doch all diese Begriffe nehmen Bezug auf eine neue Ästhetik und auf ein neues Menschenbild, das mit dem Dessauer-Bauhaus-Gebäude einen frühen, ganz unverwechselbaren Ausdruck fand.