Die Gewalt des 20. Jahrhunderts

06.03.2012
Bereits 2005 in Ungarn veröffentlicht, erscheint Péter Nádas' Buch nun endlich auf Deutsch. Er nimmt den Leser mit auf eine Reise ins 20. Jahrhundert, schildert historische Ereignisse aus einer ganz neuen Warte - und führt den Leser zurück in die Gegenwart.
Péter Nádas' "Parallelgeschichten", von Christina Viragh in all seinen vielfältigen Stimmlagen virtuos übertragen, ist ein gewaltiges, 1728-seitiges Dickicht aus Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert. "Stumme Gefilde" heißt das erste von drei Büchern. Der Student Carl Maria Döhring findet 1989 in Berlin einen Toten, und Anfang der 60er-Jahre sehnt sich in Budapest der junge Kristóf in die Arme einer Frau. In die Erschütterung des Deutschen und das Begehren des Ungarn schiebt Nádas Geschichten, die sie unbewusst beunruhigen: Döhrings Großvater, Leiter eines Konzentrationslagers, raubte Gold der Häftlinge, und Kristófs Onkel István Lippay organisierte die Deportation der ungarischen Juden 1944 mit.

Dazu kommt die Depression der Gesellschaft nach dem niedergeschlagenen Aufstand 1956 und ihre Anpassung an das Regime. Nádas schildert statt der historischen Ereignisse die Verheerungen, die sie in den Menschen bewirken.

Im zweiten Buch "In den Tiefen der Nacht" erfährt Kristóf auf der Margareteninsel sein homosexuelles Coming Out; am anderen Ufer der Donau, zeitlich und räumlich parallel, spielen vier Damen, darunter Überlebende des Holocaust, Bridge, während in der Wohnung einer der Damen deren Untermieterin Gyöngyvér vier Tage lang mit Agóst, dem Cousin Kristófs, schläft, was so schön wie leer ist, weil die Liebe fehlt. Sie allein schenkt den "Atem der Freiheit", nach dem das dritte Buch benannt ist. In ihm verliebt sich der bisexuelle Kristóf glücklich in Klára, und so kreuzen sich dank der Grenzüberschreitungen beider dieses eine Mal die Parallelen im Endlichen.

Den anderen Figuren des Buches, auch hierin sind ihre Lebensgeschichten Parallelgeschichten, bleibt nur das Sehnen. Immer wieder werden sie übermannt von Erinnerungen an versäumte Lieben, und so treten in spannungsreichen, genau kalkulierten Collagen zu den Lebenden viele Abwesende und Tote. Das Buch verzweigt sich mit ihnen wie ein Rhizom in das 20. Jahrhundert, erstaunlicherweise, ohne dass der Leser die Orientierung verliert. Die meisten Figuren sind über ein paar Ecken miteinander verbunden, und Nádas findet mit nicht nachlassender Intensität und philosophischem Feingefühl Situationen, in denen sich äußere und innere, physische und psychische Prozesse gegenseitig erhellen.

Manche Drastik rund ums männliche Geschlechtsorgan oder während eines viertägigen, 70 Seiten langen Beischlafes lassen auch den Leser leiden. Doch diese ungemein präzisen, nicht pornographischen Szenen erweisen sich als notwendig: Der Körper birgt für Nádas hoch nuancierte Erfahrungen, die das begrenzte gesellschaftliche Ich überschreiten, er ist der Ort von Erinnerungen und Sehnsüchten, die den Ideologien widersprechen, vor allem den Rassentheorien, deren Erforschung im Nationalsozialismus als Parallelgeschichte des alltäglichen Antisemitismus in Ungarn erzählt wird.

Dennoch überwindet niemand außer Kristóf und Klára, was den Menschen unter den Kommunisten und den Faschisten als rettende Zuflucht erscheint und zugleich ihr Unglück besiegelt: das Doppelleben zwischen heuchlerischer Anpassung und wahren Gefühlen, die Trennung von Eigenem und Fremdem, sei es das andere Geschlecht, die Juden oder die Zigeuner. Nie ist die Unterwerfung des Körpers und der Seele durch die Gewalt des 20. Jahrhunderts so subtil, so überzeugend und so zartfühlend dargestellt worden. Péter Nádas nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Nacht des 20. Jahrhunderts - und aus ihr heraus.

Besprochen von Jörg Plath

Péter Nádas: Parallelgeschichten
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012
1728 Seiten, 39,95 Euro
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