"Die Gesellschaft gibt Türken keine Identität"

Moderation: Marie Sagenschneider · 14.02.2008
Nach Einschätzung des Islamexperten Bassam Tibi verstünden sich viele in Deutschland geborene Türken in erster Linie als Türken, seien aber eigentlich Deutsche türkischer Abstammung. Das liege aber nicht nur an mangelndem Integrationswillen, sondern auch daran, dass die Gesellschaft sie als Türken betrachtet. Zugleich betonte er den Unterschied zwischen Assimilation und Integration: Assimilierung bedeute die totale Aufgabe aller Herkunftsbezüge, also auch eine Teils der eigenen Identität. Integration hingegen lasse einem die eigene Identität, fordere aber zugleich, die Werte des Grundgesetzes zu akzeptieren und die Sprache des Gastlandes zu beherrschen.
Marie Sagenschneider: Türkischer Wahlkampf in Deutschland, das irritiert offenbar viele. Aber weshalb schlagen die Äußerungen des türkischen Premiers Erdogan solche Wellen? Er hat seine hier lebenden Landsleute davor gewarnt, sich zu assimilieren. Integration ja, aber Assimilation hält er für ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Im selben Atemzug fordert Erdogan die in Deutschland lebenden Türken auf, Deutsch zu lernen, sich zu bilden und so den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen in Deutschland. Wie passt das alles zusammen? Auch darüber wollen wir nun mit dem Politikwissenschaftler und Islam-Experten Bassam Tibi reden, der sich in seinem Buch "Mit dem Kopftuch nach Europa" auch genau mit diesen Fragen schon beschäftigt hat. Herr Tibi, ich grüße Sie!

Bassam Tibi: Ich grüße Sie auch!

Sagenschneider: Vielleicht, Herr Tibi, klären wir erst mal ein paar Begriffe. Was ist Integration, was ist Assimilation?

Tibi: Ich kann das am Beispiel Frankreich darstellen. Die Franzosen haben früher, bis Anfang der 90er Jahre, eine Politik der Assimilation betrieben, rein kulturelle Assimilation. Ein Afrikaner schwarzer Haut kann hundertprozentig Franzose werden, kann auch Mitglied vom Collège de France, das ist die höchste Stufe in Frankreich, werden, wenn er perfekt französisch ist und kulturell Franzose ist. Und das hat funktioniert im 19. Jahrhundert, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In den letzten Jahrzehnten hat das nicht mehr funktioniert, und ich war daran mitbeteiligt als Berater an diesem Prozess.

Die Franzosen haben den Begriff der Assimilation aufgebeben und dafür den Begriff der Integration übernommen. Assimilation heißt totale Anpassung, totale kulturelle Anpassung, einschließlich der Aufgabe der Muttersprache und der Normen und Werte, die dazugehören.

Integration ist beschränkt. Integration begrenzt sich auf die Annahme der Werte der Republik. Dazu gehören Trennung zwischen Religion und Politik, Zivilgesellschaft, Demokratie usw. Sie können in Ihrem Privatleben machen, was Sie wollen. Sie können neben französisch auch andere Sprachen sprechen, Sie können auch ihre Identität bewahren. Aber wenn es um die Werte der Republik geht, das heißt die zivilgesellschaftlichen Werte, dann müssen die Migranten Franzosen sein. Das ist der Unterschied zwischen Assimilation und Integration.

Bei uns, auf Deutschland angewandt, wenn ein Migrant nach Deutschland kommt, kann dieser Migrant oder Migrantin die eigene Kultur bewahren, die Religion, auch die Sprache, natürlich muss man deutsch sprechen. Aber die Werte, die im Grundgesetz stehen, in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes, die sind unverhandelbar. Und leider, bei uns in Deutschland sind die Deutschen nicht so stolz auf ihr Grundgesetz wie die Franzosen auf ihre Verfassung. Das ist der Unterschied.

Sagenschneider: Heißt dann Integration immer so was wie auch "noch nicht richtig angekommen"?

Tibi: In Deutschland gibt es Debatten, ob ein Migrant Ja oder Nein zum Grundgesetz sagt. Ein Deutscher, der das Grundgesetz nicht akzeptiert, gilt als rechtsradikal, mit Recht. Warum gilt das auch nicht für Ausländer, die das Grundgesetz nicht akzeptieren, den Begriff rechtsradikal zu benutzen?

Integration hat drei Beine, das wirtschaftliche, wenn jemand von Sozialhilfe lebt, kann nicht integriert werden. Es gibt in Berlin, ich weiß das von dem Bürgermeister von Neukölln, Leute in dritter Generation, die leben von Sozialhilfe, das ist Integration am Arbeitsplatz. Zweitens, eine juristische Integration heißt, einen deutschen Pass bekommen, das ist nicht schwer. Und die das dritte Bein der Integration ist die kulturelle Integration oder zivilgesellschaftliche Integration. Man muss deutsch sprechen, und man muss die Werte des Grundgesetzes akzeptieren. Und ich bin der Auffassung, man kann guter Moslem sein und Ja zum Grundgesetz sagen. Es ist kein Widerspruch.

Sagenschneider: Kann man sich denn assimilieren und trotzdem die ursprüngliche kulturelle Identität wahren?

Tibi: Nein, das geht nicht. Das ist der Unterschied zwischen Integration und Assimilation. Assimilation heißt, Sie geben Ihre Identität auf. Hier in Amerika, wenn die assimilierten Amerikaner, das heißt, sie sind 100 percent american. Assimilation heißt totale Aufgabe.

Integration heißt, sie gliedern sich in das Gemeinwesen, in dem sie leben, aber sie bewahren ihre Identität oder, vielleicht noch besser formuliert: Es gibt den Begriff multiple identity, multiple Identität. Darf ich das an meiner Person darstellen: Ich bin deutscher Bürger, und ich bin stolz drauf, deutscher Bürger zu sein. Für mich ist der deutsche Pass nicht nur ein Stück Papier, sondern Identität.

Aber parallel, ich bin Moslem, ich spreche arabisch als Muttersprache, ich stamme aus Damaskus, aus einer aristokratischen Familie. Meine Herkunft aus Damaskus, meine religiöse Zugehörigkeit sind für mich sehr wichtig. Das ist auch Identität. Und ich verbinde diese islamische, Damaskus-bezogene Identität auch mit meiner deutschen Zugehörigkeit, mit der Zugehörigkeit zu der deutschen Gesellschaft als eine europäische Gesellschaft. Das ist Integration.

Assimilation heißt, ich werde total deutsch und vergesse alles, was früher war.

Sagenschneider: Integration ja, Assimilation nein. Über diese Forderung des türkischen Premiers Erdogan sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Islam-Experten Bassam Tibi. Jetzt haben Sie, Herr Tibi, ihre eigene Geschichte schon erzählt, und Sie haben vor zwei Jahren gesagt: Mir reicht es, ich wandere aus. Ich werde nach all den Jahren hier immer noch als Fremder behandelt. Deutschland gibt mir keine Identität. Ist das ein persönliches Fazit, das ist es natürlich auch, aber ist es mehr als ein persönliches Fazit? Sehen Sie sich da nicht als Einzelfall?

Tibi: Wenn Sie mir erlauben, noch einmal etwas über Erdogan zu sagen. Erdogan möchte, dass die Europa-Türken, die sind nicht nur in Deutschland, in Deutschland sind zweieinhalb Millionen Türken. Es gibt noch weitere anderthalb Millionen, die leben in Frankreich, in Niederlande, insgesamt vier Millionen. Die türkischen Politiker, ich bin Türkei-Experte, mein Großvater war General der osmanischen Armee, die türkischen Politiker möchten, dass die Türken Türken bleiben, in erster Linie Türken, und in zweiter Linie leben sie in Europa, und das ist keine Integration. Integration heißt, die Türken, meine türkischen Freunde, die in Berlin sind, die in Berlin geboren sind, die sagen, ich bin Türke. Ich sage, nein, du bist ein Deutscher. Du bist ein Deutscher türkischer Abstammung.

Um Ihre Frage zu beantworten, ich bin jetzt hier in Washington, und hier in Amerika gibt es 300.000 Türken. Ich habe noch nie einen Türken, noch nie, in Amerika getroffen, der sagt, ich bin Türke, selbst wenn dieser Türke keinen amerikanischen Pass hat. Die sagen: "I'm american of turkish background" - Ich bin Amerikaner türkischer Herkunft. In Deutschland, ich fahre sehr viel Taxi in Berlin und rede mit dem Taxifahrern, natürlich nicht nur mit denen. Ich habe viele türkische Freunde in Berlin, die sagen, ich bin Türke, selbst in dritter Generation. Und warum? Es ist nicht nur, weil sie sich nicht integrieren wollen, sondern auch, weil die Gesellschaft sie als Türken betrachtet.

Wir haben zum Beispiel jetzt in Amerika, wir haben Wahlkampf, und Obama hat einen kenianischen Vater, einen afrikanischen Vater. Aber er ist in Amerika, er ist Amerikaner. Und niemand würde auf die Idee kommen, der ist kein Amerikaner, obwohl, er ist in erster Generation. Die Türken in Deutschland sind in dritter Generation. Die Gesellschaft gibt ihnen keine Identität. Mein Problem in Deutschland war, und ich bin noch hin- und hergerissen, ich bin jetzt in Washington, aber ich bin nicht hundertprozentig sicher, ob ich Europa verlassen will, weil ich liebe Europa. Aber Europa gibt einem keine Identität. Ich bin in Deutschland zu Hause, ich habe in Damaskus nur 18 Jahre gelebt, in Deutschland 46 Jahre. Und die Leute sagen zu mir, du bist Syrer mit einem deutschen Pass. Das ist aber nicht nur dieser Pass. Der Pass muss doch Identität sein.

Sagenschneider: Dieses Nicht-heimisch-Werden-Können, die Vorbehalte auch auf deutscher Seite: Trifft das vor allem Menschen, die sich dem Islam zugehörig fühlen?

Tibi: Ja, das ist ein Problem. Wir müssen ehrlich sein, ich kritisiere die Deutschen, aber auch andere Europäer, dass sie uns Muslimen keine Identität geben, und das wird vielleicht kommen, vielleicht in 100 Jahren, weil Europa jetzt ist ein Migrationskontinent, noch mehr als in Amerika. Aber es ist falsch, die Schuld nur bei den Deutschen, bei den Europäern zu suchen. Die Schuld ist teilweise auch bei uns.

Und ich muss auch offen sagen, dass mögen einige Muslime nicht hören, das hängt auch mit unserer Religion. In unserer Religion, die Identität eines Moslem, ist Zugehörigkeit zu der Ummah. Ummah ist Weltgemeinde des Islam. Und das ist die wichtigste Identität. Und ein Moslem, der in Europa lebt, der sagt, ich gehöre zum Haus des Islam in Europa, und ich bin fremd in der deutschen oder in der europäischen Gesellschaft.

Und Muslime müssen lernen, diese Identitätsfrage offen zu besprechen, dass man sagt, ein Moslem, der in Europa lebt, ist Europäer islamischen Glaubens. Aber nicht umgekehrt, dass ein Moslem, der in Europa lebt, ist nicht ein Moslem, der in Europa lebt, sondern ein Europäer islamischen Glaubens. Und leider, viele Muslime akzeptieren diese Definition nicht.

Sagenschneider: Aber es gibt ja auch Muslime, die sagen, ich hab mittlerweile, weil ich eben schon so lange in Europa lebe, eine europäische Identität. Das ist das Stichwort Euroislam. Oder würden Sie sagen, so ausgeprägt ist der gar nicht?

Tibi: Euroislam ist eine Idee. Und wenn Sie mir erlauben, ich hoffe, dass das nicht als Angeberei gilt, ich habe den Begriff geprägt, und zwar in Frankreich. Und Sie erinnern sich, am Anfang unseres Gespräches habe ich Ihnen erzählt, dass die Franzosen, zumindest in der Politik haben sie den Begriff der Assimilation aufgegeben, und sie reden von Intégration, Integration. Und ich war an dieser Politik mitbeteiligt und hab den Begriff Euroislam in Paris 1992 in einem Papier vorgelegt.

Und Euroislam ist eine Idee, ist noch keine Realität. Leider, mein Freund Faruk Shen vom Zentrum für Türkei-Studien sagt, es gibt in Deutschland jetzt vier Millionen Muslime, also es gibt einen Euroislam. Das ist ein falsches Denken. Muslime in Europa oder islamische Präsenz in Europa ist nicht identisch mit Euroislam.

Euroislam ist ein Reform-Islam, ein Islam ohne Scharia, ohne Jihad und ohne einige Lehren vom Islam, zum Beispiel Ungleichheit von Mann und Frau. Das gehört zu den islamischen Lehren. Das ist in Europa nicht zu halten. Und Euroislam bedeutet ein Islam, der europäisiert ist, und dazu gehören Reformen.

Es gibt Beispiele dafür in Frankreich, zum Beispiel die Großmoschee in Paris. Die wird geleitet von Imam Dalil Boubakeur, mein Freund. Dalil Boubakeur ist ein Symbol des europäischen Islam in Europa. Er sagt, Islam, est la laïcité, la laïcité heißt Trennung zwischen Religion und Politik, Islam ohne Scharia, oder Scharia ist nur als eine Moral, islamische Moral, nicht als Recht. Das Recht, was in Frankreich gilt, ist das französische Recht. Diese Sprache müssen Muslime reden. Wenn sie die nicht reden, gibt es keinen Euroislam.