Die Geschichte der Familie Haurdic

Einmal Deutschland und zurück

Eldar, Senad, Tereza und Benjamin Haurdič auf dem Sofa
Eldar, Senad, Tereza und Benjamin Haurdič auf dem Sofa © Deutschlandradio / Thomas Franke
Von Thomas Franke · 25.03.2016
Seit fast 20 Jahren begleitet Thomas Franke die Familie Haurdic: Erst im Flüchtlingsheim in Berlin und später bei ihrer Rückkehr in der Heimat Bosnien-Herzegowina. Doch das Land, das die Haurdics kannten, gibt es nicht mehr.
Thomas Franke begleitet die Familie Haurdič seit annähernd 20 Jahren. Zunächst im Flüchtlingsheim in Berlin und bei der Rückkehr. Die Geschichte der Familie Haurdič ist eine Geschichte der Angst. Angst vor der Lethargie des Flüchtlingsdaseins ohne Arbeit, ohne Perspektive in Deutschland. Es ist die Angst vor der Rückkehr in ein Land, das es nicht mehr gibt, in eine zerstörte Stadt, in der sie nicht mehr willkommen sind. Denn in ihrer alten Heimat leben heute fast nur noch Serben.
Bosnien-Herzegowina ist ein tief von Flucht und Vertreibung geprägtes Land. Zwar liegt es nicht auf der Hauptstrecke der Balkanroute des aktuellen Flüchtlingsstroms, doch auch durch Bosnien ziehen heute Flüchtlinge. Und sie sind wieder auf dem Weg nach Norden, nach Deutschland. Wie einst auch Familie Haurdič.

"Als sich 1998 die Chance ergab, die bosnische Flüchtlingsfamilie Haurdic bei ihrer Rückkehr aus Berlin nach Hause zu begleiten, war ich gleich begeistert. 2001 hatten sie sich wieder eingelebt und ich habe sie aus den Augen verloren. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme, wollte ich wissen, wie schauen Haurdics zurück."

© privat

Manuskript der Reportage:

Thomas Franke: "Im Zentrum von Bihać ist eine Fußgängerzone. Als ich das letzte Mal hier war, da war noch alles voller Einschüsse. Das ist vorbei, die Fassaden sind renoviert, bis auf ein paar Kleinigkeiten, wo man sieht, dass Putz von den Mauern abgebröckelt ist, ist alles recht bunt, in Pastellfarben. Und auch Benjamin Haurdič hat sich verändert. Er ist 29 Jahre geworden und groß."
Benjamin: "Was? Und groß, ja."
Thomas Franke: "Gehen wir?"
Benjamin: "Ja."
Benjamin ist der älteste Sohn der Familie Haurdič. Kurze dunkle Haare, braune Augen, ein Lächeln. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war er 13 Jahre alt. Das war auch in Bihać.
Benjamin: "Hier, das haben sie vorheriges Jahr gebaut."
Thomas Franke: "Was ist das?"
Auf dem Boden ein großes Rechteck, gerahmt von Sitzbänken, Rohre in Schleifen bedecken den Boden.
Thomas Franke: "Eine Eisfläche. Aber sie wird nicht benutzt in diesem Jahr."
Benjamin: "Es ist zu warm. Aber sie wird benutzt."
Thomas Franke: "Wenn man hier so reinguckt und das vergleicht mit dem, wie es nach dem Krieg ausgesehen hat, dann sieht das alles wunderschön normal und renoviert aus, und hier wird gebaut. Hier kann man alles Mögliche kaufen zu halbwegs für europäische Verhältnisse normalen Preisen."
Benjamin: "Das ist nur die Fassade. Aber die Wände und das Innenleben der Häuser ist das Alte. Da wurde nichts renoviert. Oder nicht so viel. Aber, wie man so sagt, man muss nur das Äußerliche renovieren, um ein anderes Bild zu haben. So sind wir, die Menschen."

Die Bügersteige sind frisch geplastert

Bihać. Die Straßen sind vor ein paar Jahren frisch asphaltiert worden, die Bürgersteige gepflastert. Im Kreis Bihać leben etwa 60.000 Menschen. Bihać selbst hat etwa 40.000 Einwohner.


Thomas Franke: "Was macht man in Bihać, wenn man 29 Jahre ist oder 22? Was machst du am Wochenende?"
Benjamin: "Am Wochenende werde ich abends ausgehen mit meiner Freundin. Wir werden dann was Schönes essen, mal sehen, was trinken. Und das war's für den Abend."
Thomas Franke: "Viele junge Leute in Bihać?"
Die Fußgängerzone von Bihać: Die Fassaden sind fast vollständig renoviert.
Die Fußgängerzone von Bihać: Die Fassaden sind fast vollständig renoviert.© Deutschlandradio / Thomas Franke
Benjamin: "Ich würde mal sagen, es gab viele. Viele sind ausgewandert. 40 Prozent. Diese Statistik gibt es nirgendwo, aber es ist so. 40 Prozent. Es gibt hier viele junge Leute, aber die sind nicht aus Bihać, die sind aus anderen Städten. Die wohnen hier wegen der Uni oder wegen der Arbeit, die sie hier machen."
Benjamin hat Arbeit, er programmiert die Elektronik von Autos. Arbeitslosigkeit ist eines der größten Probleme in Bosnien-Herzegowina. Unter Jugendlichen erreicht sie in einigen Gegenden bis zu 60 Prozent.
Thomas Franke: Aus deiner Klasse, sind die Leute noch da oder auch weg?
Benjamin: "Die meisten sind weg. Die Meisten sind weg."
Hier gibt es wenig Perspektiven, eine gute Arbeit zu machen oder zu haben. Es gibt keine neuen Arbeitsplätze. Das ist das Problem. Einen Teil seiner Jugend hat Benjamin Haurdič in Berlin verbracht. In Flüchtlingsheimen. Das ist lange her. 1999 sind seine Eltern mit ihm und seinem Bruder von dort nach Bosnien zurückgekehrt.

Der Tag der Rückkehr nach Bosnien

Atemlos kommt Benjamin Haurdič die vier Stockwerke im Flüchtlingsheim in der Berliner Kastanienallee hinauf. Es ist der 5. August 1999. Der Tag, an dem für Haurdičs die Gegenwart beginnt. Der Tag, an dem sie Berlin verlassen und nach Bosnien zurückkehren.
Tereza, Benjamins Mutter, zeigt auf eine große Plastiktüte und einen ausgebeulten braunen Koffer. Die Türen der Sperrholzschränke stehen offen, die Bretter sind leer. Vier Eisenbetten, darauf durchgelegene Matratzen. Tereza zieht sich die Lippen nach. Senad, Benjamins Vater, raucht.
Tereza: "Ja, aber ich bin nicht nervös, ich gern geh zurück aus Deutschland. Deutschland ist keine Perspektive, das ist schwer, kein Arbeitsplatz."
Vier Jahre haben Haurdičs in diesem Zimmer gelebt. Eine Zweizimmerwohnung. Im Nachbarzimmer immer wieder andere Familien, meist Russlanddeutsche.
Senad: "Immer fünf Jahre Einzelzimmer ist..."
Tereza: "Kein Schlafzimmer, ein Zimmer. Keine Toiletten, keine Küche, keine Badezimmer, kein, nur Baustellencontainer. Oh, das ist schlimm."
Senad: "Zwei mal sechs Meter. Manchmal denke ich, ich bin verrückt oder blöd, manchmal überlege ich: Was ist Deutschland? Was ist Berlin? Was ist mit Leuten in Deutschland? Was ist gut, was ist schlecht? Wenn ist schlecht, gleich verschwindet von mir, wenn ist gut, ich packe in mein Koffer. Sozialhilfe ist eine ganz schlimme Sache für alle, alle Leute. Sozialhilfe ist Katastrophe. 15 Mall ich habe Post von Arbeitsamt, Arbeitsplatz gefunden. Kommt immer negative Antwort: Wissen Sie, in Deutschland sind fünf Millionen deutsche Männer ohne Arbeit und so und so... Gut, Tschüss."
Senad nimmt einen Zuckerwürfel und hält eine Ecke in den Kaffee. Zügig verfärbt sich der Quader. Er steckt ihn in den Mund. Seine Gesichtszüge entspannen sich. Dann trinkt er den Kaffee in einem Zug aus, steht auf, guckt sich noch einmal um, hebt schwere Kühltaschen hoch. Dann geht er, ohne sich umzudrehen. Im Treppenhaus liegen Schalen von Sonnenblumenkernen.
Draußen ist es mittlerweile dunkel. Die Tische auf dem Bürgersteig sind voll besetzt, die Leute trinken Bier und Wein. Benjamin und sein kleiner Bruder Eldar verteilen Luftballons an die anderen Kinder aus dem Flüchtlingsheim. Erstaunt betrachten die Biertrinker die Flüchtlinge. Das Theaterstück nebenan ist vorbei, die Zuschauer strömen auf die Kastanienallee. 1999 ist hier das Zentrum der Berlinparty. Tereza hat jetzt doch ein Tränchen im Auge.
Sieben Jahre haben sie auf diesen Moment gewartet. Haurdičs fahren nach Hause, nach Bosnien. 22 Stunden rechnet Senad. Etwa eine halbe Million Menschen vom Balkan haben während der Kriege in der Bundesrepublik Schutz gefunden, darunter 350.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina.

Sechzehneinhalb Jahre später

Januar 2016. Sechzehneinhalb Jahre später.
Thomas Franke: "Dobar Dan."
Tereza: "Dobro."
Thomas Franke: "Da."
Tereza kommt aus dem Haus. Das Haus hat sich stark verändert. Senad Haurdič zeigt den Garten.
Senad: "Das ist meine Werkstatt."
Thomas Franke: Wir sehen hier so ein paar Beete, alter Kürbis, Kartoffelschalen, 'n Schuppen. Der Schuppen, ist alt oder neu?
Senad: "Neu, neu. Altes Material von einer anderen Baustelle."
Senad hat die alten Bretter abgeholt und mit seinen Söhnen neu zusammengenagelt.
Senad: "Hühner. 10 Stück."
Thomas Franke: "Zum Essen?"
Senad: "Nein. Zum Eierlegen zu jung. Ein, zwei Monate und dann kommen viel Eier. Das ist eine große Qualitätssorte. Grau."
Neben dem Haus ist eine kleine katholische Kirche. Hinten graue Felder, dahinter hohe Hügelketten. Während der Belagerung waren dort serbische Stellungen.
Senad: "Hm. Da. Ganz nach vorn alle Positionen der serbischen Artillerie."
Bihać war vier Jahre belagert und eine UN-Sonderzone. Nur knapp entging der Ort einem Massenmord, wie dem in Srebrenica. Dort wurden in wenigen Tagen mehr als 8.000 muslimische Männer von serbischen Militärs systematisch umgebracht.

In Dervanta begann der Alptraum

Haurdičs sind Bosniaken, bosnische Muslime. Senads Frau ist Kroatin und katholisch. Haurdičs kommen nicht aus Bihać, sie stammen aus Derventa. Dort begann 1992 ihr Alptraum.
Vor dem Krieg lebten in Derventa mehr Bosniaken als Serben oder Kroaten. Aber das schien egal. Senad unterrichtete Maschinenbau und hatte einen Feinkostladen mit ein paar Angestellten. Haurdičs gehörten zu den ältesten Familien im Ort; es gab viele von ihnen. Heute leben in Derventa überwiegend Serben.
Senads jüngerer Bruder hat in Derventa bis zum Ende des Krieges gegen Serben gekämpft. Er kann nicht zurück und ist nach dem Krieg nach Bihać gezogen, hat die Mutter zu sich genommen. Deshalb sind Haurdičs von Berlin aus nach Bihać gegangen, vorrübergehend, wie sie dachten. Das kleine Haus hat Senad damals schnell gefunden. Es waren nur drei Räume im Erdgeschoss bewohnbar - ein Provisorium.
Senad: "Ja, reparieren vier oder fünf Jahre Teil um Teil, Teil um Teil. Macht Dach und Mauer macht so, ein Meter, ein Meter fünfzig."
Jetzt sind die Mauern neu verputzt, neue Fenster.
Senad: "Und das Dach ist ganz neu."
Thomas Franke: "Ist grün. Warum?"
Senad: "Ich liebe diese Farbe. Aber es ist schön. Es macht frei, diese Farbe. Für das Auge ist diese Farbe sehr, sehr gut."
Thomas Franke: "War das teuer?"
Senad: "Ja, aber meine Frau arbeitet. Und alle Sachen von meinem Geld sparen, sparen."
Tereza arbeitet als Lehrerin im Nachbarort.
Thomas Franke: "Ich muss gestehen, ich bewundere das sehr, was sie in der kurzen Zeit alles geschafft haben."
Haurdičs haben sich eingerichtet mit Sofas und Sesseln, einer Einbauküche, Schlafzimmern.

Plötzlich trugen alle Männer Uniformen

Als 1992 die Kämpfe mit den Serben begannen, waren die Söhne von Tereza und Senad fünf und knapp zwei Jahre alt. Plötzlich trugen alle Männer Uniformen, auch Senad und seine Brüder. Granaten flogen, ein Panzer schoss.
Senad Haurdič und seine zwei Brüder brachten ihre Familien mit dem Auto nach Norden, nach Zagreb in Kroatien. Tereza kam dort mit den beiden Jungs bei ihrer Schwester unter. Dann kehrte Senad zurück nach Derventa, um zu kämpfen. Augenzeugen berichten von brutalen Morden. An die hundert Tage hielt er aus. Dann folgte Senad der Familie nach Zagreb. Die Hauptstadt Kroatiens quoll in der Zeit über mit Flüchtlingen und war auch schon das Ziel von Angriffen gewesen. Haurdičs zogen weiter, stiegen in einen Bus nach Norden, nach Deutschland. Bis Berlin, da stiegen sie aus dem Bus, bekamen einen Wohncontainer zugewiesen und fühlten sich in Sicherheit, endlich.
Senad: "Aber das Problem kam, als ich in Berlin war. Ich will Arbeit, aber keine Arbeitserlaubnis. Muss auf Soziale, zwei, drei Mark pro Stunde. Warum? Meine Adresse ist Bosnien, nicht Deutschland."
Nicht einmal Senads Führerschein wurde anerkannt. 18 Monate blieben sie in dem Container, dann mussten sie in eine Montagebaracke umziehen. Da saßen sie, sicher zwar, aber ohne Arbeit, ohne Aufgabe. Nach zweieinhalb Jahren bekamen sie das Zimmer im Flüchtlingsheim in der Kastanienallee.

Thomas Franke: "War es ein Fehler, nach Berlin zu gehen?"
Senad: "Nein, nein!"
Tereza: "Nee, nee!"
Senad: "Aber ich habe ein Rezept für Leben. Für mich, für meine Kinder, für meine Frau, für meine Familie. Immer Arbeit, Arbeit, Arbeit und gucken und überlegen."
Thereza Haurdič in der Küche: Zu einem starken Essen gehört starker Schnaps.
Thereza Haurdič in der Küche: Zu einem starken Essen gehört starker Schnaps.© Deutschlandradio / Thomas Franke

Schockierende Reise ins zerstörte Derventa

Die Haurdics hatten alles verloren. Das wurde Senad richtig klar, als er zum ersten Mal noch von Berlin aus im Rahmen einer Orientierungsreise seine Heimatstadt Derventa besuchte.
Es ist der 16. März 1999. Senad ist zum ersten Mal nach dem Krieg in Derventa, um zu gucken. Wie in Trance taumelt Senad durch die Reste seines Besitzes in Derventa. Eine Ruine. Das Dach ist zerstört, es gibt weder Fenster noch Türen. Der Boden ist über und über mit Schutt bedeckt. Überreste der Waschmaschine stehen herum, Kinderschuhe, der Untersatz einer Rührmaschine. Er tritt auf den Balkon, schaut hinunter ins Tal. Die Brüstung fehlt.
Senad sucht nach sicherem Stand. Dann entdeckt ihn die Nachbarin. "Wo lebst jetzt?", fragt sie, und "willst du das Haus wiederaufbauen?" "Mal sehen", meint Senad. Auf dem Dachboden liegen das Getriebe seines Autos - und ein beiger Damenstiefel.
Senad: "Von meiner Frau, 300 Mark, ganz Leder, gekauft bei Centrotextil Beograd. Das ist Getriebe von meinem Fiat Militreschento. Das ist auch aus der Garage, aber ich weiß nicht, wie das nach oben gekommen ist."
Hinter dem Haus erstrecken sich Gärten, dahinter eine Hügelkette. Die Nachmittagssonne sorgt für leicht oranges Licht. Senad fährt weiter in den Ortskern, ins Zentrum. Ein ganzer Straßenzug fehlt. Schwungvoll biegt Senad in den Innenhof eines fünfstöckigen gelbgeklinkerten Neubaukarrees ein. Unten ein Laden für Damenkleidung: Hosenanzüge, Röcke, Blusen. Alles recht flott und farbenfroh. Haurdičs Laden, in dem sie vor dem Krieg Lebensmittel verkauft haben. Zwei Verkäuferinnen sitzen an der Kasse und rauchen. Senad geht hinein, fragt nach Preisen. Die Jüngere guckt hoch und stutzt: "Sie sind der Besitzer." Sofort ruft sie den Geschäftsführer. Der bringt seine Frau mit, führt seinen nagelneuen Mercedes vor und lädt Senad ins Café nebenan ein.
Generös bietet er Senad einen Job an, sollte er nach Derventa zurückkehren. Bisher zahle er die Miete an die Stadtverwaltung in Derventa, erzählt er, in Zukunft könne er an Senad zahlen. Die Zeit drängt. Senad möchte nicht im Dunkeln durch den serbischen Teil Bosniens fahren. Und er hat recht. In den Straßengräben liegen bewaffnete Soldaten.
Am nächsten Tag hat Senad Kopfschmerzen. Der Ausflug nach Derventa setzt ihm zu. Er hat schlecht geträumt und schlecht geschlafen. Wieder ging er durch seine Ruine:
"Weiß nicht, was ist passiert mit mir. Von einer Million Mark, habe ich 50 Pfennig gefunden. Aber ich bin traurig, ich vergessen Geschenk für meine Frau. Stiefel von da."
Tereza ist damals mit den Jungs in Berlin geblieben.

Neustart in einem Provisorium

Januar 2000. Knapp zwei Jahre später. Haurdičs leben seit 5 Monaten in Bihać. In Bihać ist die Temperatur über Nacht auf minus 27 Grad gesunken. Es liegt knapp ein Meter Schnee. Jungs spielen Fußball, wälzen sich im Schnee. Die Menschen gehen zu Fuß, langsam stapfen sie die schmalen Fahrspuren entlang, die ein paar vereinzelte Autos gegen Morgen in die wachsende Schneemasse gezogen haben. Silbrig glänzen die reifüberzogenen Bäume in der Sonne. Der Fluss Una dampft.
Senad und Benjamin schippen mit zwei improvisierten Schaufeln den Eingang zu ihrem Haus frei. Die Eine ist von den Nachbarn geliehen, die Zweite aus einem Backblech und einem Knüppel selbstgebaut. Senad hat einen Job in einer Tütenfabrik, überwacht die Maschinen und die Folienqualität. Die Familie richtet sich im Provisorium ein.
Drinnen kocht Tereza Huhn, Kartoffeln, Pilzmus. Eisblumen glitzern an den Fenstern. Eigentlich wollte Senad in diesen Tagen erneut nach Derventa fahren. Aber der Schnee macht die Fahrt unmöglich.
Senad redet über die Rückkehr in die Heimatstadt Derventa:
"Ich habe Energie. Aber ich denke, nicht mit Feuer. In Derventa auch Fabrik kaputt. Und 15.000 auch Flüchtlinge aus anderen Städten, Serben. Und jeden Tag Leute persönlich hat seine Fragezeichen. Wo ist mein Sohn? Gestorben, für Ideale, für welche Ideale? Wo ist mein Mann? Viele gestorben, viel verloren auch serbische Leute. Und was macht weiter."
Senad denkt nach, sucht nach Worten, wie sie in Zukunft wieder mit den Serben leben können. Im Hintergrund bollert der Holzofen.
Senad: "Ich habe zwei Sachen, aber weiß nicht genau deutsche Termin. Oprostite, ne zaboravitj."
Benjamin: "Aha. Verzeihen, nicht vergessen. Tak."
Senad: "Ja, das ist mein richtiger Weg."
Senad und Benjamin gleichzeitig: "Verzeihen, nicht vergessen."
Nichts ist vergessen.

Von der Fabrik in die Kreisverwaltung

Januar 2016. Das ist Bild von Derventa vor dem Krieg. Senad bei der Arbeit. Ein schmaler Raum. Zwei Schreibtische, drei Stühle. Akten. Aus dem Job in der Fabrik wurde eine Stelle in der Kreisverwaltung.
Senad: "Meine Arbeit ist Kontrolle: Mittelschulen in 8 Städten. Diese Arbeit ist prima für mich. Ich habe Qualifikation. Vor dem Krieg vor 20 Jahren war ich Lehrer in Derventa. Technische Schule. In Jugoslawien. Große Schule. 300 Lehrer und 4.260 Schüler. Und als ich nach Berlin kam, brauchte ich Sozialhilfe. Besoffen. Besoffen. Aber egal."
Thomas Franke: "Aber Sie glauben, Sie wären in Berlin geblieben, wenn Sie gute Arbeit bekommen hätten?"
Senad: "Ja, ja. Natürlich."
Senad hat Zeit für eine Kaffeepause. Sein jüngerer Sohn Eldar ist gekommen und hat seinen Cousin Vedo mitgebracht, um für Senad zu übersetzen. Eldar ist mittlerweile 23 Jahre alt und studiert.
Thomas Franke: "Senad, ist Bihać eine Heimat geworden oder nur ein Zuhause?"
Senad: "Nein."
Vedo: "Nur Zuhause, ja."
Senad: "Besser ist. Zuhause. Derventa."
Vedo: "Derventa ist Derventa."
Senad: "Derventa ist an Numero eins. Bihać ist Reserve. Geld für Leben, für Kinder, für Haus. Aber Derventa ist da."
Vedo: "Im Herzen."
Senad: "Herzen."
Eldar zückt sein Mobiltelefon. Ein großer Aufkleber vom FC Bayern-München ist auf der Rückseite.
Eldar: "Bayern ist mein Verein."
Doch dann zeigt er auf eine blau-gelbe Fahne auf der Autoablage.
Eldar: "Aber hier: Bosnien Herzegowina. Ich hab kein Gefühl für Derventa. Ich bin nur geboren. Hatte zwei Jahre, dann waren wir schon geflüchtet. Ich bin hier groß geworden und Schule absolviert. Ich bin hier schon 16, 17 Jahre. Gute Jahre."

In der Praxis funktioniert das Friedensabkommen nicht

Das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina sieht vor, dass jeder an seinen Wohnort zurückkehren kann und dafür Aufbauhilfe bekommt.
Thomas Franke: "Warum können Sie nicht nach Derventa zurück?"
Senad: "Keine Arbeit. Keine Wohnung. Wohnung ist kaputt. Keine Fakultät. Momentan keine Perspektive."
Vedo: "Die meisten Einwohner sind Serben dort."
Senad: "Ganz wenig muslimische Leute kamen zurück nach Derventa. Und keine Arbeit."
Thomas Franke: "Das heißt, auch alle Pläne der internationalen Politik sind gescheitert?"
Senad: "Nur auf dem Papier. Aber in der Praxis geht es nicht."
Thomas Franke: "Bosnien ist kein normales Land, Bosnien ist ein tief gespaltenes Land. In Bihać zum Beispiel wohnen fast nur noch Moslems. Serben leben hier so gut wie gar nicht mehr. Es gibt ein paar katholische Kroaten. Es gab eine kurze Phase, in der ... die Stadt religiöser wurde, in der gerade junge Frauen im Straßenbild mit Kopftuch zu sehen waren, aber das scheint vorbei zu sein. Man sieht eigentlich kaum religiöse Symbole. Und eben beim Gebetsruf in der Moschee, da ist genau ein Mensch zum Gebet gegangen. Bosnien ist, zumindest hier in Bihać, ein säkulares Land geworden. Religion spielt hier keine größere Rolle, als in Deutschland."
Senad schiebt das Gartentor auf.
Thomas Franke: "Senad, müde von der Arbeit?"
Senad: "Nein. Leicht, babyleicht."
Es ist fünf Uhr Nachmittag. Tereza kocht aufwendig. Immerhin haben wir uns 15 Jahre nicht gesehen.
Tereza: "Hähnchen, Schnitzel und Pommes Frites. Eine Begola Ciorba. Bosnische Spezialität Banja. Salat."
Der Tisch ist gedeckt. An jedem Platz steht ein großes Glas für Wasser und ein kleines.
Senad: "Willkommen bei mir."
Tereza: "Prost, willkommen bei mir."
Thomas Franke: "Vielen Dank."
Senad: "Prost, Thomas."
Thomas Franke: "Prost, vielen Dank."
Tereza: "Ich habe alles vergessen. Ich schaue kein Fernsehen. Nicht sprechen, nicht hören. Alles vergessen."
Senad zieht um auf das Sofa. Tereza kocht Kaffee und serviert Schokoladencreme-Kuchen. Gut, dass es Schnaps gibt.
Senad: "Aber das ist, Thomas, das ist Medikament. Ja. Prost!"
Thomas Franke: "Jivili."
Eldar: "Das ist Medikament."
Senad: "45 Grad."
Thomas Franke: "45 Grad ist gut."
Eldar: "Der Schnaps ist stark. Aber das Essen ist auch stark."
Thomas Franke: "Starke Familie, starkes Essen, starker Schnaps."
Der Schnaps ist selbst gebrannt von Eldar. Apfelschnaps.
Eldar: "Meine Eltern waren in Jugoslawien echt reiche Leute und hatten alles über Technik, über Autos, über guten Job. Und als sie in Deutschland waren, haben sie alle Deutsche sieunterschätzt."

Benjamin kommt von der Arbeit, nimmt sich einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Er war 13, als sie in Bihać angekommen sind.
Benjamin ist der älteste Sohn der Familie Haurdič.
Benjamin ist der älteste Sohn der Familie Haurdič.© Deutschlandradio / Thomas Franke
Benjamin: "Als ich 99 nach Bosnien zurückgekehrt habe. Ich hatte Schwierigkeiten, sehr große Schwierigkeiten mit der bosnischen Sprache."
Während Benjamins Mitschüler um ihr Leben bangten, Väter, Brüder, Onkel und Freunde die Enklave Bihać während der Belagerung verteidigten, war Benjamin im sicheren Berlin.
Benjamin: "Es gab, ich würde so sagen, ein paar schlechte, ein paar schlechte so Momente. Wenn dich andere Kinder so anschauen, als ob du ein Außerirdischer wärst. Oder was weiß ich, ja Weichei. Sie haben alle gewusst, ich bin nicht aus Bihać. Ich bin nach Bihać als Flüchtling gekommen."

Immer mehr Flüchtlinge kehrten zurück

Es wurde eng, denn immer mehr Flüchtlinge kamen zurück nach Bosnien. Sie kamen in ein zerstörtes Land, in dem Menschen teils in Kiosken überlebten. Alles, was ein Dach über dem Kopf bot, war bewohnt.
Benjamin: "Die Schlägereien waren immer Flüchtlinge, die nach Bihać gekommen sind. Und die, die die Belagerung. Das waren zwei Parteien. Ich bin immer ein bisschen neutral geblieben. Wenn jemand mir was sagt oder, es gab auch Wörter, Beschimpfe oder sowas. Und die Jahre vergingen und als ich 18, 19 Jahre geworden bin, gibt es keine Situation mehr. Weil ich, man kann mich auch jetzt einen Bihaćer nennen oder einen Berliner."
Thomas Franke: "Bist Du das denn, Bihaćer?"
Benjamin: "Ich bin jetzt seit 99 hier und das sind 16, 17 Jahre. Da kann man doch sagen."
Thomas Franke: "Und Derventa?"
Benjamin: "An Derventa kann ich mich kaum noch erinnern. Weil ich da nur vier, fünf Jahre verbracht habe. Keine Beziehung. Ich war dort drei Mal. Habe zerstörte Häuser gesehen, traurige Leute. Leute, die überhaupt keine Zukunft in den Augen haben. Das kann man nicht verstehen. Aber das sind Serben. Die dort geblieben sind. Sie haben keine Zukunft im Visier oder eine lächelnde positive Aura im Gesicht."
Es ist sieben Uhr abends.
Thomas Franke: "Wie hat die Flucht ihren Charakter verändert?"
Senad: "Ganz, ganz schwere Frage. Traurig. Ich bin traurig. Aber als ich wieder Arbeit bekommen habe, wurde es normaler. Zufrieden."
Eldar: "Wir haben keine Zeit…"
Senad: "...für traurig."
Benjamin: "Mein Herz hat zwei Teile. Ein Teil ist in den Farben schwarz, gelb und rot. Der zweite Teil ist mit den bosnischen Farben blau und gelb markiert."
Bereits vor dem Krieg waren viele Arbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland. Zu viele, fanden viele Deutsche. Selbst Jugendliche, die fließend Deutsch sprachen, Schulabschlüsse und Ausbildungsplätze hatten, durften nicht bleiben. Statt Bosnien-Herzegowina noch enger an die Bundesrepublik zu binden, tobte eine Debatte darum, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei.
Benjamin: "Wir aus Jugoslawien und die Deutschen sind fast dieselben Menschen. Wir sehen auch gleich aus. Wir essen alles gleich."
Senad: "Traditionell ist in Bosnien der Mix der Leute gut."
Tereza: "Mix. Serbische, bosnische, kroatische: Alle Leute sind gut. Und alle leben gut zusammen."
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