"Die Fische von Berlin"

Rezensiert von Frank Meyer · 07.04.2005
Warum schläft der Großvater mit einem Messer unter dem Kissen? Warum heizt er die Öfen, bis es unerträglich heiß wird? Warum reagiert er panisch auf etwas so Banales wie Sauerkraut? Diese Fragen treiben die 11-jährige Alina um, deren Leben auch sonst schon schwierig genug ist.
Sie lebt in Kasachstan, für die anderen Kinder ist sie "die Deutsche" oder "die Faschistin", allein wegen ihres für uns wenig auffälligen Namens. Alinas Familie heißt Schmidt. In der Stadt, in Alina groß wird, ist der Name ein Stigma, ein langer Nachhall dessen, was hier passiert ist zwischen Russen und Deutschen. Der Name dieser kasachischen Stadt kündigt ganz am Anfang des Buches schon an, was geschehen ist. "Weißes Grab" heißt die Stadt mit den langen Wintern.

Deutschland ist der erhoffte und versperrte Ausweg für die Russlanddeutschen Schmidts. In der Gegenwartsebene erzählt das Buch von der Zeit um 1980, Alinas Vater führt schon seit Jahren einen Kleinkrieg mit den Behörden, die seine Ausreiseanträge zurückweisen, mal mehr, mal weniger harsch. Gefälligkeiten, kleine Bestechungen, Beziehungen, Schmidt führt alles ins Feld in diesem tragikomischen Kampf, um für seine Familie doch noch die Ausreise zu erreichen. Schließlich macht ihm die Geheimpolizei klar, dass er keine Anträge und Ansprüche mehr zu stellen hat. Der Familie bleibt nur noch ein Ausweg: es an einem anderen Ort im Sowjetreich von neuem zu versuchen. Sie ziehen um in den Nordkaukasus.

Ortswechsel, Flucht, Verbannung kehren immer wieder in dieser Familiengeschichte. Mit ihrem geduldigen Fragen gelingt es Alina, ihren verschlossenen Großvater nach und nach zum Reden zu bringen. Seine Geschichte beginnt mit Stalins großen "Säuberungen" in den 30er Jahren, als ganze Russlanddeutsche Dörfer abgeholt wurden. Der Großvater kommt selbst ins Gefängnis, viele seiner Bekannten kehren nie zurück. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg gibt es eine Atempause, wegen des Hitler-Stalin-Pakts schont der sowjetische Führer seine "Deutschen". Mit Beginn des Krieges ändert sich das, die Russlanddeutschen werden in die Trudarmija, in die sowjetische Arbeitsarmee gepresst. Dem Großvater gelingt die Flucht über die Front, von der vorrückenden Wehrmacht wird der junge Mann in seinem Heimatdorf als Bürgermeister eingesetzt. Ein Bürgermeister von deutschen Gnaden, als die Rote Armee kommt, flieht er mit der Wehrmacht nach Westen. Kurz nach Kriegsende wird er in Berlin gefasst und als Vaterlandsverräter verurteilt, 25 Jahren, Sibirien. Er hat noch Glück, dass er in diesem weißen Grab nur ein paar Zehen verliert. Und den Glauben an das Leben, und die Fähigkeit, seine Geschichte mit anderen zu teilen. Die findet er erst wieder, als seine Enkeltochter lang und beharrlich genug fragt.

Am Ende des Buches steht wieder ein Umzug, diesmal ein freiwilliger, der lange ersehnte nach Deutschland. Dass die Schmidts auch dort wieder die Fremden sein werden, ist schon lange vorher klar. Eine Schulfreundin, eine andere Russlanddeutsche erzählt Alina davon, ihre Mutter hatte das Leben in Deutschland nicht ertragen und war mit der Tochter zurückgekehrt, ihr Vater blieb in der neuen Heimat. Auch Alinas Familie wird getrennt, weil ihre ältere Schwester den Schritt in die noch größere Fremde nicht mitgehen will.

Eleonora Hummel erzählt all diese dramatischen Geschichten in einem ganz klaren, unpathetischen Ton. Das Groteske und das Miefige der sozialistischen Bürokratie findet in diesem Erzählen genauso selbstverständlich seinen Platz wie die Grausamkeit der Stalinschen Massenmorde. Zurückhaltend, bescheiden wird hier berichtet, gerade dass rückt einem die ungeheuerlichen Ereignisse nahe. Der Großvater, der sich schweigend an seinen ewig überheizten Ofen lehnt, erinnert still an die Kälte im sowjetischen Gulag.

In diesem Debüt erzählt Eleonora Hummel ihre eigene Geschichte. Sie wurde 1970 in Kasachstan geboren, 1982 kam ihre Familie nach Dresden, dort lebt Eleonora Hummel bis heute. Ihr erster Roman macht sich an ein Thema, das in unserer Literatur kaum aufgegriffen wird. Die Lyrikerin und Erzählerin Kathrin Schmidt hat vor einigen Jahren in ihrem Roman "Koenigs Kinder" von einer kasachischen Auswanderfamilie erzählt, das ist eine der Ausnahmen. Eleonora Hummels Buch hebt sich ab von vielen deutschen Erstlingen, durch seine Erfahrungstiefe, durch seine historische Bewusstheit, durch sein zwingend geradliniges Erzählen. Bei diesem Buch wird einem klar, warum es geschrieben werden musste.

Eleonora Hummel: "Die Fische von Berlin"
Steidl Verlag
224 Seiten
18 Euro