"Die Familien sitzen auf Schuldenbergen"

Sigridur Thorgeirsdottir im Gespräch mit Ute Welty · 27.04.2013
Die Isländer würden bei den Parlamentswahlen voraussichtlich die regierende rot-grüne Koalition abwählen, sagt die isländische Philosophieprofessorin Sigridur Thorgeirsdottir. Das Land stehe damit fünf Jahre nach der Bankenkrise erneut vor einem Machtwechsel.
Ute Welty: Die Tage der isländischen Regierung sind gezählt, wenn heute die rund 230.000 wahlberechtigten Isländer über ein neues Parlament abstimmen. Da muss die Koalition unter Führung der Sozialdemokraten mit herben Verlusten rechnen, und das, obwohl sogar die Opposition dem Mitte-Links-Bündnis nach dem Bankenkollaps ein gutes Zeugnis ausstellt: Islands Tourismus boomt, die Fischerei floriert, der Staatshaushalt ist schon fast wieder ausgeglichen und die Arbeitslosigkeit unter fünf Prozent gesunken.

Undank ist offenbar des Politikers Lohn. Warum das so ist, das können wir jetzt aus erster Hand erfahren, oder besser aus erstem Mund: Sigridur Thorgeisdottir ist nämlich Professorin für Philosophie an der Universität Island in Reykjavik. Guten Morgen!

Sigridur Thorgeisdottir: Guten Morgen!

Welty: Im Großen und Ganzen als dickes Lob für Island von der politischen Konkurrenz, aber auch vom Internationalen Währungsfonds. Was geht da vor in den Isländern und Isländerinnen, die sich dieser Meinung so wenig anschließen können?

Thorgeisdottir: Das klingt paradox auf den ersten Blick, weil diese Regierung hat uns sozusagen aus dieser Patsche rausgeholt, in der wir waren nach dem Kollaps. Aber es sind tieferliegende Gründe dafür, dass die Bürger jetzt sich doch gegen die Regierung entscheiden werden.

Welty: Welche sind das denn?

Thorgeisdottir: Die Gründe sind, glaube ich, die, dass die Sozialdemokraten und diese Mitte-Links-Regierung, die haben im Grunde sich nicht gegen die Mächte, die uns überfallen haben, das heißt, die Finanzmächte, gewehrt. Die haben im Prinzip dasselbe System aufrechterhalten.

Die haben kosmetische Korrekturen gemacht und versucht, eine neue Verfassung in die Gänge zu bringen, aber letzten Endes ist dieselbe Politik aufrechterhalten worden, die vor dem Kollaps vorherrschend war, obwohl es eine sozialdemokratisch geleitete Regierung war.

Welty: Zu lesen ist, man sei in Island verbittert über die soziale Ungerechtigkeit. Spiegelt sich das wieder in den Gesprächen, die Sie führen, und in den Erfahrungen, die Sie machen?

Thorgeisdottir: Ja. Das Neue auch bei diesen Wahlen heute wird wohl das sein, dass 25 Prozent der Stimmen an neue Parteien gehen werden. Das sind, glaube ich, fast zehn neue Parteien, und viele von diesen Parteien sprechen sich stark für die Familien.

Und diese Parteien äußern dann den Unmut von vielen Leuten - in Island ist das so, dass die Mehrzahl der Bevölkerung ihre Wohnungen selbst besitzt. Die Schulden, die Ratenzahlungen sind in die Höhe geschossen nach dem Kollaps, das heißt, die Familien sitzen auf den Schuldenbergen, und viele Leute glauben, dass die Regierung jetzt, selbst, wenn es eine links-sozialdemokratische Regierung gewesen ist, dass sie doch mehr für die Banken getan hat als für die Familien.

Welty: Mit dem Ende der sozialdemokratischen Regierung dürfte auch das Thema isländischer EU-Beitritt beendet sein. Ist das auch ein Aspekt der Stimmung in Island, der angesichts der Eurokrise eine Rolle spielt?

Thorgeisdottir: Eine gute Frage, und auch die hängt damit zusammen. Ich glaube, die Leute sind misstrauisch der EU jetzt gegenüber, die Mehrzahl der Bevölkerung, laut Umfragen, weil die Leute auch sehen, dass die EU eine Krise durchmacht, dass die EU auch eine Bankeretter-Gesellschaft geworden ist, und nicht eine EU für die Familien, für die Bürger.

Welty: Als Favoriten gehen die Liberalen ins Rennen, die dann wohl mit den Konservativen zusammen eine Regierung bilden werden, und die Konservativen gelten als die politisch Hauptverantwortlichen für die isländische Krise. Es gab sogar ein Verfahren und eine Verurteilung gegen den damaligen Regierungschef. Greift das kollektive Gedächtnis tatsächlich so kurz?

Thorgeisdottir: Ich glaube, das Gedächtnis ist nicht zu kurz. Da ist sehr viel Zorn, und die haben das nicht vergessen, aber es gab einen Vorfall hier in den letzten Jahren, und zwar wegen Schulden der isländischen Banken im Ausland, und hauptsächlich in England, Holland und Deutschland, und das nannte sich die Ice-Safe-Debatte.

Und da wollte die Regierung, dass wir sozusagen diese Schulden bezahlen, dass die Bürger das auf sich nehmen. Der Präsident hat sich dagegen gewehrt, und die Mehrzahl der Bürger hat sich hinter ihn gestellt in der Hinsicht. Die Partei der Liberalen hat auch sich stark mit den Bürgern da zusammengestellt, und ich glaube, die Liberalen werden jetzt dafür belohnt.

Welty: Und die Rolle der Konservativen? Wer garantiert denn, wenn die wieder an der Macht sind, dass nicht dieselben Fehler gemacht werden wie vor vier, fünf Jahren?

Thorgeisdottir: Die Sozialdemokraten und die Linken haben viel Erfahrung als Opposition, und die werden eine starke Opposition machen. Viele Bürger werden das auch machen - die Isländer sind wie so viele andere kritisch, was Parteipolitik angeht.

Die traditionellen Parteien werden sozusagen letzten Endes, selbst, wenn viele sie jetzt wählen würden nur um der Veränderung willen, dann glauben viele, dass die Parteien ... letzten Endes geht es ihnen nur um eins, und das ist, ihre eigene Macht zu erhalten. Und dass letzten Endes ... man sagt, man spricht jetzt nicht mehr im Plural von vier Parteien, man sagt, die Vierparteienpartei.

Das heißt, das wird häufig, und gerade von diesen neuen Parteien, die 25 Prozent der Stimmen, wenn nicht mehr, kriegen werden, dass man sozusagen sieht, dass hier ist eine politische Elite, die irgendwie sich vor der Bevölkerung schützt, um nur ihre eigene Macht zu erhalten. Und das ist sozusagen, ich glaube, da herrscht viel Unmut im Land deshalb.

Welty: In Island kandidiert wie in Italien die Partei eines Komikers, mit Jón Gnarr an der Spitze, dem Bürgermeister von Reykjavik. Was finden Sie denn zurzeit eher zum Lachen in Island und was eher zum Weinen?

Thorgeisdottir: Das ist sozusagen eine Erscheinungsform einer Parteipolitik in Auflösung. Das heißt, da kommen solche Parteien auf, und die versuchen sozusagen, den Stil der Politiker und die ganzen Lügengebäude, die da sind, zu dekonstruieren, zu entlarven - und mit Witz.

Und das ist sozusagen ein Auflösungsphänomen und ein Übergangsphänomen. Ich kann darüber lachen, weil es witzig ist, aber seufzen, weil sie keine neuen Ideen haben, und letzten Endes die Partei des Komikers, der Komiker ist jetzt Bürgermeister, das heißt, seine Partei ist nicht so witzig wie er ist, also in dem Sinne gibt es nicht so viel zu lachen.

Welty: Island wählt heute ein neues Parlament, so auch die Philosophieprofessorin Sigridur Thorgeisdottir, trotzdem hat sie noch Zeit gehabt, mit uns zu reden. Herzlichen Dank also nach Reykjavik!

Thorgeisdottir: Danke!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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