Die Erinnerung an 9/11 "ist ein relativ dünnes Band"

Mischa Honeck im Gespräch mit Andreas Müller · 05.09.2011
Laut Mischa Honeck bestehen Kontinuitäten im Umgang mit 9/11 zwischen George W. Bush und seinem Nachfolger Barak Obama. An jedem 11. September werde die Einheit der amerikanischen Nation beschworen - trotzdem brächen "die Erinnerungskonflikte" regelmäßig wieder auf.
Andreas Müller: Rings um Ground Zero in Manhattan, dort, wo bis zum 11. September 2001 die Twin Towers des World Trade Centers standen, wachsen neue Hochhausriesen in den Himmel. Am früheren Standort der Türme ist das 700 Millionen Dollar teure 9/11-Memorial so gut wie fertig. Das Areal gleicht jetzt bereits einem Wallfahrtsort, und der Ort dokumentiert einen patriotischen Trotz des Erinnerns – überall wehen Fahnen, auf einem Schriftband steht "Never forget", "Niemals vergessen". Auch wenn sich die Wunde an der Südspitze Manhattans langsam schließt, das Trauma des Terrorangriffes ist längst nicht verarbeitet. Zehn Jahre nach 9/11 gibt es noch immer unterschiedliche Auffassungen darüber, was die richtige Form des Gedenkens und damit auch die Interpretation des Terrorangriffes vom 11. September sein soll. Über die Art des Gedenkens, die Erinnerungskultur der Amerikaner will ich jetzt mit dem Historiker Mischa Honeck reden, der zurzeit am deutschen historischen Institut in Washington forscht. Schönen guten Tag!

Mischa Honeck: Schönen guten Tag, Herr Müller!

Müller: Es hat viel Streit und viele Diskussionen um die Gestaltung zum Beispiel des Memorials gegeben. Was ist da die Gemengelage? Welche Erinnerungskulturen rivalisieren hier?

Honeck: Ja, Herr Müller, ich denke, es ist ganz wichtig, dass Sie hier den Plural nehmen, Erinnerungskulturen, denn eines ist ja im Umfeld der Diskussionen um die Entwicklung eines Denkmals deutlich geworden, dass hier mehrere Interessensgruppierungen aufeinanderprallen, die alle eine bestimmte Form der Erinnerungskultur reklamieren und diese auch versuchen zu nationalisieren, also sprich: der Nation eine bestimmte Form des Erinnerns aufzudrängen. Bei Ground Zero haben wir das wirklich sehr, sehr schön gesehen. Letztes Jahr, 2010, als es diese doch sehr dramatische Kontroverse gab um die Errichtung einer Gebetsstätte für Muslime nahe Ground Zero – da prallten konservative gegen liberale Amerikaner zusammen, Multikulturalisten gegen Isolationisten, die zum Teil mit Spruchbändern auftauchten – Wir wollen hier kein Clubhaus für Dschihadisten haben, eine Moschee auf Ground Zero spuckt auf die Gräber unserer Helden –, während die andere Seite dagegenhielt mit: Nein, gegen Rassismus und Angst und für die Freiheit des Glaubens. Wir sehen, das war neun Jahre nach dem Ereignis, und vieles deutet darauf hin, dass wir dieses Jahr trotz dem Versuch, ein einendes Band zu knüpfen, dass wir ähnliche Kontroversen wieder sehen werden.

Müller: Also die politische Linie, die sozusagen den Clash der Kulturen heraufbeschwören möchte, die dominiert nach wie vor, also nach wie vor Islam versus Westen?

Honeck: In bestimmten Bereichen der amerikanischen Psyche. Man muss natürlich sehr vorsichtig sein. Es gibt natürlich auch in der Tat Versuche, das Thema zu entspannen – gerade Menschen und US-Bürger, die der Demokratischen Partei nahe stehen –, aber insgesamt kann man natürlich sehen, dass die Erinnerung um 9/11 sich inzwischen vermengt mit anderen Krisenerscheinungen der amerikanischen Demokratie. Wir müssen natürlich an die sehr, sehr dramatische Debatte um die Erhöhung der Schuldenobergrenze denken, wir müssen an die Dysfunktionalität von Regierungsinstitutionen denken, an die Immobilien- und Wirtschaftskrise, an die Staatsverschuldung, also all diese Dinge vermengen sich zurzeit zu einem Krisengebräu, das in dem Ausdruck oder in der Debatte um einen "American Decline", denke ich, einen klassischen Ausdruck gefunden hat.

Müller: Also einen amerikanischen Niedergang, zu Deutsch. Was signalisiert nun zum Beispiel hier das Memorial? Ist das dann ein Ort der Trauer oder ein Ort, der Stärke vermitteln will?

Honeck: Beides. Ich denke, man muss beides zusammen sehen. Die wichtige Frage bei Erinnerung oder Erinnerungskultur ist immer: Wer erinnert sich an wen, wozu? An wen wird gedacht? Es gibt Menschen, die trauern um die Polizisten, um Feuerwehrleute, um Amerikaner, um Nicht-Amerikaner, Opfer und Täter – all das sind Themen, die natürlich an diesem Ort verhandelt werden, und darüber wird zum Teil heftig gestritten. Wir sehen an jedem 11. September den Versuch, eine offizielle Erinnerung zu etablieren, die die Einheit der amerikanischen Nation beschwört, aber das ist ein relativ dünnes Band, und die Erinnerungskonflikte brechen regelmäßig auf. Nicht nur an Ground Zero, aber auch an anderen interessanten Denkmalstätten.

Müller: Was bricht da genau auf?

Honeck: Es bricht im Prinzip eine Diskussion um die US-amerikanische Identität auf. Was ist die Rolle der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert? Wie gehen die USA mit der veränderten weltpolitischen Lage um? Heißt 9/11, dass man sich mehr mit der Welt engagieren muss, oder dass man sich zurückziehen muss, dass man sich abschotten muss? Denken Sie an die restriktiven emigrationspolitischen Entscheidungen der letzten Jahre, an eine latente Zunahme der Islamophobie, denken Sie an den Sicherheitsstaat, an den "War on Terror", all diese Dinge werden dort verhandelt.

Müller:Eröffnet wird ja die Gedenkstätte am kommenden Samstag von Präsident Obama. Das ist jemand, der bei uns wenigstens immer noch sehr positiv besetzt ist, jemand, der nach vorne will, der "Yes, we can" gesagt hat. Die Arbeiten begannen unter einem anderen Präsidenten, dem Kreuzfahrer, dem Rächer, dem düsteren George W. Bush. Hat sich das offizielle Gedenken in den vergangenen zehn Jahren verändert?

Honeck: Ich bin da ein bisschen skeptisch, ob es eine rasante Veränderung gab. Ich denke, manchmal sind sogar die Kontraste zwischen George W. Bush und Obama gar nicht so scharf, wie man in Deutschland gerne sieht. Obama verhält sich in den letzten Jahren seiner Amtszeit eigentlich als ein sehr zentristischer Politiker und nicht so sehr als liberaler Gegenentwurf. Denken Sie daran, dass die USA immer noch im Krieg sind, und Obama hat den Afghanistankonflikt sogar verschärft, trotz des Abzugs der Truppen aus Irak, Guantanamo ist noch nicht geschlossen, und ich sehe auch eigentlich eher Kontinuitäten im Umgang mit 9/11 vonseiten der US-Regierung als einen Bruch mit dem, was George W. Bush vertreten hat. Und das wird ja auch daran deutlich, dass George W. Bush ja auch eingeladen worden ist zu den Gedenkveranstaltungen an Ground Zero an 9/11, um eben auch diese Kontinuität sichtbar zu machen.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Historiker Mischa Honeck über die US-amerikanische Erinnerungskultur, die Anschläge vom 11. September 2001. Die Auseinandersetzungen über die Inhalte der Gedenkstätte werden mitunter sehr hitzig geführt, etwa, ob Überreste von Stahlträgern, die die Form eines Kreuzes haben, im Memorial Museum gezeigt werden sollen oder die um den Entwurf eines Denkmals für Flug 93 in Pennsylvania, der die Form eines Halbmondes hat und "Halbmond der Umarmung" heißt – wie wirkt sich diese Rivalität um das richtige Gedenken aus? Spaltet Sie die Gesellschaft oder ist sie eher Dokument einer tiefen Spaltung?

Honeck: Sie ist Dokument, aber hat natürlich auch die latente Gefahr, Spaltungstendenzen zu verstärken. Ich denke, das Urteil der Historiker muss da noch ein bisschen warten, weil zehn Jahre nach dem Gedenken die Geschichtswissenschaft ja erst anfängt, das Ereignis zu historisieren. Sie haben natürlich zu Recht auch auf das Beispiel Shanksville in Pennsylvania verwiesen, um auf die Gestaltung eines Denkmals in Form eines Halbmonds, das natürlich auch vom rechten Amerika hart kritisiert ist, weil es an den islamischen Halbmond erinnert und damit ein religiöses Symbol aufwirft, das in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft natürlich auch böse Erinnerungen weckt. Aber ich denke, insgesamt muss man schauen, inwieweit sich eben das Gedenken um 9/11 vermischt und inwiefern es auch weiterhin instrumentalisiert wird von den verschiedenen Parteien, von den politischen Gruppierungen. Wir haben ja jetzt auch gerade den Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes 2012. Die Republikaner bringen sich in Stellung und Politiker wie Michelle Bachmann oder auch Rick Perry, der Gouverneur von Texas, sind nicht verlegen, auch ein solches Ereignis zu nutzen, um dementsprechend ihre Gefolgsleute zu mobilisieren.

Müller: Ich habe eben schon diesen Wallfahrtsort erwähnt, es gibt viele Artefakte oder wird viele Artefakte zu sehen geben im Memorial, ganz konkrete Gegenstände, einen Feuerwehrwagen zum Beispiel, dessen gesamte Besatzung damals ums Leben kam. In der Nähe von Ground Zero gibt es eine Kapelle, in der sich damals Feuerwehrleute während ihres Einsatzes ausruhten. Dort ist heute alles noch so wie am 11. September: Man sieht Uniformabzeichen, Beschädigungen auf den Bänken, auf denen die sich ausgeruht haben – das ist alles extrem emotional aufgeladen, soll an die Nieren gehen. Das ist sehr weit entfernt von mitunter sehr abstrakten Denkmälern, wie wir sie bei uns oft finden. Wie erklärt sich diese sehr emotionale Form des Gedenkens der Amerikaner, und wie weit ist das mit ihrer Geschichte auch zusammenhängend?

Honeck: Es hängt sehr, sehr eng mit ihrer Geschichte zusammen. Europäer werden lange ein Problem damit haben, amerikanisch zu erinnern, amerikanische Kultur zu verstehen, wenn sie mit einem – verzeihen Sie mir den Fachausdruck – einem Habermas'schem Konzept von Öffentlichkeit an die USA herantreten. Die amerikanische Debatte um Demokratie, um das richtige Erinnern, ist in der Tat hochemotional und nicht rational. Und es wird heftig darüber gestritten. Aber trotzdem, die wichtige identitätsstiftende Funktion von solchen Erinnerungspraktiken ist sehr wichtig. Sie erfüllen eine immens wichtige soziale Aufgabe, sie verringern die Komplexität von Wirklichkeit auf der einen Seite, stiften aber Sinn im Hier und Jetzt und vereinen die Menschen einer Gemeinschaft. Und diese Gemeinschaft ist nicht immer national, sondern unter dem Dach der Nation finden auch viele kleinere Gemeinschaften, Gruppierungen ihren Halt und ihre Orientierung.

Müller: Wir haben eben schon drüber gesprochen, den USA geht es nicht gut: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, die schmutzigen Kriegsschauplätze et cetera. Das Erinnern mag bei der Bewältigung des Traumas helfen, kann es aber auch jetzt zehn Jahre danach als Nation Building dienen, also als Kraftquelle eines amerikanischen Patriotismus, und das Land vielleicht, und sei es auch nur für eine kurze Zeit, einen, insbesondere jetzt auch vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Präsidentschaftswahlkampfes?

Honeck: Daran habe ich meine Zweifel. Denn wir haben natürlich auch unmittelbar nach dem Fall der Twin Towers 2001 gesehen, dass es in der Tat einen kurzen Moment eines Versuches gab, die Nation zu einen, ein patriotisches Band zwischen den verschiedenen Menschen und Interessengruppierungen zu knüpfen, aber das brach ja relativ schnell wieder auf, als sich dann die Bush-Regierung zu einem konfrontativen Kurs entschieden hat, und mein Eindruck ist, dass wir aufgrund der verschärften Krisenlage innen- wie außenpolitisch in den USA – die einzelnen Punkte habe ich ja bereits genannt – dass 9/11 wohl nicht diese Kraft entfalten kann, so etwas wie Nation Building im klassischen Sinne zu betreiben. Aber auf der anderen Seite ist die amerikanische Nation immer dadurch definiert worden, dass es einen Ausgleich oder einen Interessenkonflikt gegeben hat zwischen verschiedenen parteilichen Richtungen. Ich denke, das gehört zur Normalität der amerikanischen Demokratie, und daraus schöpft sie ja auch ihre Vitalität. Das darf man nicht vergessen!

Müller: Vielen Dank, Mischa Honeck.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.