"Die Distanz zwischen mir und den anderen"

Von Tobias Wenzel · 08.11.2011
Seit die Verfilmung ihrer Erzählung "Brokeback Mountain" über die Liebe zweier Cowboys drei Oscars erhielt, haben viele Menschen den Namen Annie Proulx schon mal gehört. Jetzt hat die 76-jährige Autorin nach mehr als 20 Jahren wieder ein Sachbuch geschrieben. "Ein Haus in der Wildnis" heißt es.
Drei Löcher und einige Sprünge hat die verstaubte Windschutzscheibe von Annie Proulxs Geländewagen. Wer wie sie im Bundesstaat Wyoming lebt, dem springen die Kiesel täglich auf die Scheibe.

"Die Straßengräben haben die gleiche graue Unfarbe wie der Staub, der Beifuß und Goldastern überzieht, die Bankette sind bröckelnde Böschungen aus krümeliger Erde, die sagen: 'Nicht weit von hier gab es einst Vulkane.' (...) Warum sollte hier jemand leben wollen, denke ich. Ich lebe hier."

Schreibt Annie Proulx in ihrem Essay- und Erinnerungsbuch "Ein Haus in der Wildnis" über ihre Wahlheimat Wyoming. Gerade aber ist die 76-jährige Schriftstellerin im Grenzgebiet von Colorado und Utah unterwegs, um ihrem Gast aus Deutschland eine nicht minder karge und beeindruckende Gegend des Mittleren Westens zu zeigen: eine unter Naturschutz stehende Landschaft mit wuchtigen Bergen. Hier kamen einst Dinosaurier bei einer schweren Flut ums Leben.

"Sie liegen irgendwo in den Felsen begraben. Hätten wir jetzt Presslufthammer und Meißel dabei, könnten wir ganz sicher ein oder zwei Dinosaurier herausholen. Vorausgesetzt, wir wissen, wo wir bohren müssen."

Annie Proulx hat kurze, leicht gelockte graue Haare. Sie trägt eine beigefarbene Schirmmütze, eine Sonnenbrille und eine violett-schwarze Bluse im Zebra-Look. Als wollte sie auf eine Safari gehen. Tatsächlich ist die Autorin auf der Jagd: allerdings nach uralten Felszeichnungen. Indianer habe sie einst in den Sandstein geritzt. Annie Proulx fährt einen steilen Abhang hinunter und deutet auf einen hohen, gelblichen Felsen:

"Da oben! Da klettern einige Menschen. Mit einem Kind! Wie unvernünftig!"

An derselben schroffen Felswand: tausend Jahre alte Zeichnungen. Das Geschlecht einer Figur ist mit einem langen Strich zwischen den Beinen gekennzeichnet.

"Da oben ist die Zeichnung einer Eidechse! Eine schöne Eidechse! Die Eidechse läuft in diese Richtung da."

Für Tiere und die Natur hat Annie Proulx ein besonderes Auge. Erst recht, seit sie sich mit über 70 Jahren ihr Traumhaus in der Wildnis von Wyoming gebaut hat, 150 Meilen entfernt vom nächsten großen Supermarkt - dort, wo sich der North Platte River an einem schroffen Felsen vorbeischlängelt und Pelikane, Antilopen und Murmeltiere leben, an einem Ort mit besonders starken tektonischen Verschiebungen:

"Den geologischen Wandel spürt man mit der Zeit. Da er sich aber so langsam vollzieht, denken die meisten von uns im Alltag nicht darüber nach. Ich denke jeden Tag daran. Dieses Aufbrechen und Auseinanderdriften der Erde, die Verschiebungen in einem Flussbett - all das passiert! Belege dafür kann man jeden Tag beobachten."

In Millionen von Jahren würden sich neue Kontinente gebildet haben, schreibt Annie Proulx in ihrem neuen Buch. Dann werde es wohl keine Menschen mehr geben. Bedauert sie das?

"Nein! Möge der Tag endlich kommen! [Lacht.] Ich mag die Vorstellung einer Welt ohne Menschen!"

Immer wieder ärgert sich Annie Proulx, dass sie nicht allein in der bergigen Landschaft im Grenzgebiet von Colorado und Utah ist. Nur hier und da steht ein Auto in der sonst menschenleeren Weite, geht mal ein Paar mit Kindern spazieren. Aber für die eigensinnige Einzelgängerin ist jeder weitere Mensch einer zu viel. Annie Proulx ist sichtlich gestresst. Also flüchten wir ans stille Ufer des Green River. Die Autorin von "Brokeback Mountain" hat aus dem Auto Stofftragetaschen als Sitzunterlagen mitgebracht:

"Diese Steine sind sehr spitz und tun richtig weh. Der Stein hier hat das Gesicht eines Aliens. Oder vielleicht einer Katze. Haben Sie Katzen?"

Hier, in der ungestörten Stille, am leise rauschenden Fluss, mit Blick auf einen steilen Felsen, ganz so wie zu Hause in Wyoming, entspannt sich Annie Proulx langsam aber sicher:

"Ich rede nicht viel. Haben Sie vielleicht schon gemerkt."

"Ich habe so viel Zeit allein verbracht. Ich bin kein sozialer Mensch. Deshalb hänge ich nicht so sehr an den meisten Menschen. Es gibt eine Distanz zwischen mir und den meisten anderen. Das war schon mein ganzes Leben über so."

Würde Annie Proulx von hier aus den tatsächlich grünen Green River immer weiter flussaufwärts laufen, käme sie irgendwann nach Wyoming und damit in den Bundesstaat, in dem sie sich ihr Traumhaus gebaut hat. An allen vorigen Häusern, in denen Annie Proulx lebte, hatte sie irgendetwas auszusetzen: in ästhetischer und funktionaler Hinsicht.

So war ihr kein Raum groß genug, um darin gleich mehrere Tische aufzustellen. Die braucht die Autorin aber, um ihr Recherchematerial auszubreiten. Die Lösung konnte nur ein präzise geplanter Neubau sein. Das einzige Problem: der Schnee im Winter, der das Haus in der Wildnis von der Außenwelt abschneidet:

"Das Haus selbst ist perfekt. Nur die extremen Klimaschwankungen erlauben es nicht, dort das ganze Jahr über zu leben. Aber das Haus ist ideal. Alles passt. Alle Türen sind von Hand gefertigt, aus Walnussholz. Die Griffe an allen Schränken sind aus poliertem Hirschgeweih und fühlen sich so angenehm an. Es ist einfach ein wunderbares Haus."


Annie Proulx: Ein Haus in der Wildnis. Erinnerungen
Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz
Luchterhand Verlag 2011
283 Seiten, 17,99 Euro