"Die Depressionszahlen steigen weltweit"

Ines Geipel im Gespräch mit Ulrike Timm · 15.10.2010
Der "historische Unterboden" Deutschlands sorge dafür, dass besonders viele Menschen depressiv seien, sagt Schriftstellerin Ines Geipel, da man "noch immer sehr mit kumulativen Traumata zu kämpfen" habe. In ihrem Buch "Seelenriss" betrachtet sie den Suizid des früheren Fußballnationaltorhüters Robert Enke.
Ulrike Timm: "Seelenriss", so heißt das neue Buch der Schriftstellerin Ines Geipel, in dem sie sich mit Depression und Leistungsdruck beschäftigt, und zwar auch in zeithistorischem, in gesellschaftlichem Zusammenhang. Dass sie dabei von Sportlern ausgeht, die an Depressionen und Leistungsdruck zerbrachen, das liegt nahe.

Ines Geipel war eine Spitzenleichtathletin in der DDR, geriet ohne ihr Wissen ins staatliche Dopingprogramm, hat die Aufklärung des Zusammenhangs von Staat und Siegenmüssen zu einem ihrer großen Themen gemacht und ist die Einzige, die ihren Namen aus Weltrekordlisten hat löschen lassen, weil sie weiß, wie der Rekord zustande kam. Inzwischen aber ist Ines Geipel schon lange Professorin an einer Kunsthochschule, sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt eben "Seelenriss". Schönen guten Tag, Frau Geipel!

Ines Geipel: Guten Tag!

Timm: Frau Geipel, Sie beginnen Ihr Buch über die Depression mit der Geschichte des Fußballers Robert Enke, der sich vor einem knappen Jahr vor einen Zug warf. Ganz jenseits der Tatsache, dass der Selbstmord des früheren Nationaltorwarts ein Land bewegt hat und schon darum der prominenteste Fall in Ihrem Buch ist, warum ist Robert Enke in seinem Leiden für Sie besonders aufschlussreich?

Geipel: Naja, zum einen ohne Frage war es so, dass eine bisher intim gelebte Krankheit plötzlich zum Zeitzeichen wurde, zu einer Metapher für Gesellschaft im Sinne von Effizienzdruck, Leistungsdruck, und ich dächte schon, dass der Sport dahingehend nahe liegt als Metapher auch, was sozusagen mit Körpern und Seelen passiert, wenn sie dem Druck ein Stück weit erliegen. Und da ich selbst in Jena Sport gemacht habe, an derselben Schule mein Abitur gemacht habe, habe ich das Gefühl gehabt - über Robert Enke ist viel geschrieben worden als Hannoveraner, in dem Moment, als er, oder kurz danach, nachdem er am 10. November letzten Jahres starb - ich wollte ihm ein Stück weit Geschichte zurückgeben und noch mal die Anfänge anschauen.

Timm: Sie fügen Ihrer Draufsicht ja auch Bausteinchen zu, über die nicht viel gesprochen wurde, zum Beispiel eben die Erlebnisse des kleinen Jungen Robert Enke in der großen DDR-Sportstadt Jena oder die Tatsache, dass sich Robert Enke in der Bundesliga schon mal als Stasischwein hat beschimpfen lassen müssen, obwohl er aus einer sehr DDR-kritischen Familie stammt selber. Trotzdem, Robert Enke war 1989 ein Junge von zwölf Jahren – warum nehmen Sie ihm … halten Sie die DDR-Gesellschaft für ihn noch so prägend, er ist doch eher jemand aus einer Umbruchsgeneration?

Geipel: Ja, ich erzähle es ja auch als Umbruchsgeschichte beziehungsweise die Geschichte von Robert Enke als in dem Sinne Entwurzelungsdepression. Er war einer der Frühesten im Hochleistungssport, der vom Osten in den Westen gegangen ist, und mir selber hat das immer sehr Eindruck gemacht, ich fand das sehr mutig. Und nun habe ich noch mal versucht, natürlich mit sehr konkreter Recherche, mit viel Gesprächen, zum Beispiel mit dem Vater, aber auch mit Freunden, diese Herkunft noch einmal zusammenzutragen. Und es wurde schon sehr klar, dass er diese DDR ein Stück weit als inneres Muster behalten hat und es von daher nicht so sehr einfach hatte, im Westen durchzukommen mit dem ganzen Druck.

Timm: Sie finden auch ein Bild, Robert Enke geht als kleiner Junge immer über eine wacklige Brücke ins Stadion, und Sie nehmen dieses Bild ein bisschen als Metapher für sein ganzes Leben, für die Umstürze, für die Brüche, die er im Beruf hat, für die privaten Katastrophen, etwa den Tod seiner Tochter, den er verkraften muss und dann doch nicht verkraftet. Trotzdem ist ja Depression, so damit zu reagieren, etwas sehr Persönliches, mitunter Tragisches, aber kann man da wirklich so gesellschaftliche Bezüge herstellen für doch sehr private traurige Reaktionen?

Geipel: Also ob diese Lektüre überzeugt, das hängt natürlich am Leser letztendlich, aber ich habe mir sehr viel Literatur angeschaut und mich hat nicht so sehr die Biomarker-Version interessiert, sondern meine Bücher handeln immer an dieser Nahtstelle zwischen einzelnem Leben, konkretem Schicksal und Geschichte und Gegenwart, Gesellschaft. Das interessiert mich, und ich dächte schon, dass Robert Enke hier, ja, auch ein Stück symbolischen Wert hat für eine Generation.

Da haben Sie völlig recht, wenn Sie sagen, die haben in dem Sinne ja nicht Diktatur in sich, eben nicht Erfahrung in sich, aber sie haben vielleicht sehr viele Muster dennoch in sich. Und das zeigen ja aktuelle Studien auch ganz stark, dass wir sehr vorsichtig anschauen könnten diese spezielle Trauerarbeit dieser sogenannten Zonenkinder und sehr Auge auch darauf halten sollten, sehr vorsichtig, ja, gibt es hier nicht womöglich auch eine Schädigung einer Generation durch dieses Unbehaustsein, durch diese massiven Umbrüche nach 89.

Timm: Was mir beim Lesen aufgefallen ist, Ihr Buch ist ja voller Fragen, manchmal eine halbe Seite lang voller Fragen: Was fühlt ein Wendekind, wie geht es einem Jungen, der aus dem DDR-Leistungssport in die Bundesliga regelrecht plumpst? Es liest sich ein bisschen wie eine Streitschrift, als wollten Sie die Fragen stellen in der Hoffnung, dass der Leser die Antworten selber sucht.

Geipel: Ja, klar, also ich stelle mich ja nicht hin und sage, das ist Depression und Robert Enke, meinetwegen der Vater hat sich scheiden lassen und deshalb musste der Sohn eine Depression bekommen, ich glaube, das wäre alles eine sehr reduzierte Anlage des Buches, sondern Depression ist für mich in dem Sinne ein Endstück sehr vieler verschiedener Anfänge, verschiedenster Sollbruchstellen, und insofern lege ich meine Lektüre nahe. Wie gesagt, es bleibt dem Leser dann unbenommen, das anzunehmen, sich zu sagen, ja, das hat mir Aufschluss gegeben, das sind Bilder, die mich überzeugen, das ist eine Art des Umgangs, die mich überzeugt, oder es abzuwehren – das ist nicht in meiner Hand.

Timm: Sie stammen ja selber auch aus Jena, wie Robert Enke, sind andere Generation, sind älter als er, haben aber in Jena viel recherchiert. Haben Sie da noch Spuren gefunden?

Geipel: Spuren von Robert Enke?

Timm: Oder Spuren von dem System, von dem Sie meinen, dass es Robert Enke geprägt hat.

Geipel: Na ja, ich habe das, glaube ich, auch in diesen 50 Seiten ein bisschen versucht festzuhalten, der Umgang des Sports, der Vereine mit Vergangenheit ist mitunter etwas salopp, und ich erzähle ja diese Geschichte natürlich eines 13-, 14-, 15-Jährigen, der in einem bestimmten Feld, in einem bestimmten Bereich sich bewegt und natürlich das spezielle Hinterland wenig kennt, aber eine Atmosphäre mitbekommt. Und die Atmosphäre ist natürlich verunsichernd.

Timm: Diese Draufsicht ist auch umstritten, es gibt eine zweite Biografie von Robert Enke, bei Ihnen macht er nur 50 Seiten des ganzen Buches aus, es gibt eine ganze Biografie von ihm, vom Sportjournalisten Ronald Reng, ganz anderer Ansatz als Ihrer, die beiden waren Freunde, Reng hatte Zugang zum Tagebuch, das ja auch nicht jeder Fußballspieler führt. Jetzt werden diese beiden Ansätze ein wenig gegeneinander ausgespielt. Ich habe mich so ein bisschen gefragt, wozu eigentlich, jeder hat so seinen Part.

Geipel: Finde ich auch. Also beide Texte könnten sich doch auf gute Weise auch ergänzen und erweitern gegenseitig, es ist im Grunde fast wie ein Dialog. Ich möchte mich nicht in diesen Streitring begeben, ich finde das fast ein bisschen eigentümlich, denn die Sache als solche ist ja doch schon auch traurig genug. Es ist ein junger, hochbegabter Mann, der praktisch für diese Depression, für diese massive Krankheit oder auch Störung, offenbar ja keinen Weg mehr gefunden hat. Und ich dächte, da ist eher Trauer angesagt als Streit.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Im Studio zu Gast ist Ines Geipel, sie hat ein Buch geschrieben "Seelenriss: Depression und Leistungsdruck", ein Buch, das ständig auf der Nahtstelle von Einzelschicksal und Psychohistorie balanciert, also auch gesellschaftliche Ursachen für die Depression dingfest machen will. Nicht nur Sportlerschicksale werden beschrieben, sondern auch Manager, Studenten, leistungsorientierte Menschen, die ihr Hirn dopen wie manche Sportler mittels Doping ihre Beine. Sehen Sie da wirklich eine direkte Linie – immer schneller, immer höher, immer weiter, sich immer fit machen und dann abstürzen vom Sport in die gesamte Gesellschaft hinein?

Geipel: Naja, zumindest sagen es ja die Zahlen sehr eindeutig, dass wir in den letzten 15, 20 Jahren mit dieser Chemisierung sehr zu tun haben. Diese Chemisierung hat sich verstrahlt vom Sport in die Gesellschaft hinein, und es ist ganz klar: Wenn wir mit diesen hohen Zahlen umgehen, ob es nun Antidepressiva sind oder in den Fitnessstudios männliche Sexualhormone, auf dieses Anästhesieren des Körpers folgt der raue Kater, also folgt das psychische Loch, das liegt auf der Hand, dass das zusammengehört. Und dass wir in nächster Zeit sehr viel damit noch zu tun bekommen haben werden, das sagt die WHO – die Depressionszahlen steigen weltweit, es ist sozusagen ein globales Phänomen.

Ich habe versucht, ein bisschen herauszuarbeiten, herauszuschälen, dass in Deutschland das Depressionsbarometer deshalb doppelt so stark ausschlägt, weil wir diesen historischen Unterboden haben, noch immer sehr mit kumulativen Traumata zu kämpfen haben, auch in den Generationen, die heute heranwachsen, die also diese reale Erfahrung von Krieg und Diktatur nicht haben, und gleichzeitig auf diese unaufgelöste, unerlöste Geschichte legt sich in dem Sinne, legen sich diese rabiaten Flexibilisierungsprozesse der Gegenwart, also eine unverstandene Gegenwart, und da kollidiert. Also dieser Kollaps der Psyche hat eine ganz spezielle Ausprägung in Deutschland.

Timm: Der Titel "Seelenriss", der impliziert ja zugleich, dass man da einiges kitten könnte, wenn man das rechtzeitig, wenn es rechtzeitig geschehe. Einen Riss kriegt man ja noch wieder zusammengebackt. Wie optimistisch schauen Sie denn in die Zukunft?

Geipel: Ja absolut optimistisch, wenn wir uns tatsächlich dieser Art von Schmerz auch stellen, ja. Ein Riss erzählt von einem Schmerz, und gleichzeitig könnte man das ja auch gut lesen und sagen, dass so viele Menschen die Reißleine ziehen, so viele auch in ihrem Beruf sagen, Moment, ich kann wirklich nicht weiter, sagt ja etwas, dass sie ein Verhältnis zu sich haben, sagt etwas zu einem Schutzbedürfnis auch der Psyche und der Seele. Und das würde ich zunächst mal – auch wenn die Zahl dramatisch hoch ist, acht Millionen in Deutschland leiden an Depression – würde ich das zunächst gar nicht als nur ein schlechtes Signal sehen, sondern als einen möglichen Zugang zu sich selbst. Nun muss man schauen, was man daraus macht, also was wir gesellschaftlich … Ich lese dieses Buch vor allen Dingen als ein politisches Buch.

Timm: Ines Geipel über ihr Buch "Seelenriss: Depression und Leistungsdruck". Ausgehend vom Sport schreibt sie über die Gesamtgesellschaft. Im Klett-Cotta-Verlag ist das Buch erschienen. Frau Geipel, herzlichen Dank für Ihren Besuch im Studio!

Geipel: Ich danke auch!
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