Die Deponie und das Dorf

16.05.2012
Der neue Film von Fatih Akin, der den Kampf eines kleinen türkischen Dorfs gegen die Errichtung einer Mülldeponie beschreibt, gründet auf einem politischen Impuls: Am Anfang der Dreharbeiten habe nur eine "naive Idee" gestanden, sagt Akin.
Dieter Kassel: Çamburnu ist ein kleines, idyllisches Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste. Die knapp 2.000 Einwohner dieses Fleckchens Erde und auch ihr Bürgermeister haben jahrelang einen Kampf ausgetragen – einen Kampf gegen die Behörden, einen Kampf gegen die Errichtung einer gigantischen Mülldeponie in ihrem Dorf, einer Deponie, die den Abfall von über 50 Städten in der weiteren Umgebung entsorgt. Von diesem Kampf hätte wahrscheinlich außerhalb der Region kaum jemand erfahren, wäre dieses Dorf nicht zufällig der Heimatort des Großvaters von Fatih Akin. Der in Hamburg geborene Regisseur hat deshalb von der Sache erfahren und eine Langzeitdokumentation gedreht: "Müll im Garten Eden" heißt der Film, und auf den Filmfestspielen in Cannes hat er jetzt Weltpremiere. Kurz davor wollen wir jetzt mit Fatih Akin reden. Schönen guten Tag, Herr Akin!

Fatih Akin: Schönen guten Tag!

Kassel: Sie sind ja ein durch und durch Cannes-erprobter Filmmann: Sie waren 2005 in der Jury, 2007 gab es Auszeichnungen für Ihren Film "Auf der anderen Seite" – ist es trotzdem für Sie was besonderes, dass gerade "Müll im Garten Eden" jetzt in Cannes gezeigt wird?

Akin: Oh ja, weil ich nämlich schon so lange an dem Film arbeite. Ich arbeite seit über fünf Jahren an dem Film, und ich habe noch dieses Jahr im Februar gedreht. Und ich hätte nie gedacht, dass wir den Film rechtzeitig für die Filmfestspiele von Cannes fertig machen, und dass der auch in der Schnelle, in der Kürze der Postproduktion so gut wird, dass der halt auch angenommen wird. Das hätte ich nie gedacht, deswegen bin ich sehr, sehr froh.

Kassel: Fangen wir noch mal von vorne an: Wie haben Sie denn von den Plänen für diese Mülldeponie überhaupt erst mal erfahren damals?

Akin: ich war auf der Suche nach Drehorten für meinen Film "Auf der anderen Seite". Das war im Sommer 2005, und da "Auf der anderen Seite" von einer Vater-Sohn-Geschichte handelt und ich noch nie in Çamburnu war, also in dem Ort, wo mein Großvater herkommt, habe ich meinen Vater überredet, dass er mich dort mal hinbegleitet. Und dann habe ich das Dorf entdeckt und mich gleich in das Dorf verliebt, begeistert von der Schönheit, von der Natur, ja? Also ich bin ja ein Großstädter, und das Dorf ist selbst an einem Hang gebaut, und das sieht halt aus wie so ein Hobbitland oder irgendwie Kambodscha oder so was, also ganz verzaubert. Und die Dorfbewohner sagten mir aber, dass die Tage von dem Dorf gezählt seien, weil die Regierung beschlossen hat, eine Mülldeponie in das Dorf zu errichten, so eine wilde Mülldeponie. So habe ich davon erfahren, ja.

Kassel: Das ist ja schon mal was, was man sich bei uns gar nicht vorstellen kann: eine Mülldeponie zu errichten, beschließt die Regierung, jetzt haben Sie gesagt, eine wilde Mülldeponie. Das heißt, es ist die Kombination aus offiziell geplant und irgendwie trotzdem nicht in Ordnung.

Akin: Ja, offiziell gilt das auch nicht als wilde Mülldeponie, sondern als geordnete Mülldeponie, aber eine geordnete Mülldeponie trennt Müll, hat so Sicherheitsabstände zur Bevölkerung, sorgt dafür, dass Geruch und Abwässer nicht herausschießen können, und das alles ist nicht der Fall in Çamburnu.

Kassel: Wir sollten jetzt – das haben wir noch nicht deutlich gesagt – endlich verraten, dass die Proteste und auch Ihr Film nicht verhindern konnten, dass die Mülldeponie gebaut wurde. Als Sie angefangen haben, für diesen Film zu drehen, hatten Sie da noch die Hoffnung, dass es verhindert werden kann?

Akin: Ja, das war ein bisschen die naive Idee, die Nachricht und die Bestätigung von der Regierung, dass die tatsächlich diese Mülldeponie dort errichten wollen, hat natürlich bei mir so einen Aktivismus ausgelöst. Ich dachte, ach, ich drehe hier eine Dokumentation darüber und mache das auch publik, dass ich das tue, und vielleicht kann man ja so ein großes Medieninteresse auf die Geschehnisse lenken innerhalb und außerhalb der Türkei, dass die Verantwortlichen vielleicht eingeschüchtert werden und sich andere Pläne überlegen, wie sie mit dem Müll umgehen. Also man muss sich das so vorstellen, dass die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die wollte einst einen Kredit gewähren, um diese Mülldeponie zu errichten. Und als das Dorf dann protestiert hat und die Proteste immer lauter wurden, haben die sich zurückgezogen, ja? Und deswegen war so ein bisschen die Idee, dass, wenn wir laut genug trommeln und diesen Film laut genug ankündigen, dass wir das halt verhindern können, aber das haben wir leider nicht geschafft. Und die Regierung hat einfach mit den Maßnahmen begonnen zu bauen und auch den Müll zu deponieren, den ersten, und ich musste halt weiter und weiter und weiter und weiter drehen, bis ich halt einen fertigen Film hatte.

Kassel: Wie haben Sie denn das praktisch gemacht? Sie leben überwiegend in Hamburg, Sie haben, wenn ich richtig geguckt habe, ja mindestens einen oder anderthalb normale Spielfilme noch gedreht in dieser Zeit. Wie konnten Sie denn ständig dann in Çamburnu sein und da drehen, wenn was passiert ist?

Akin: Ja, in Çamburnu gibt es einen Dorffotografen, ein Fotograf, der – wenn Leute heiraten, dann macht der Fotos, oder wenn Passfotos benötigt werden, dann hat er so ein kleines Studio, eher so ein Hobbyfotograf, der halt auch ganz eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen bei sich im Studio hatte, und auch ansonsten ein recht fitter, intelligenter Typ war, Bünyamin. Und mein Kameramann hat ihm dann so im Crashkurs vermittelt, wie man mit einer Filmkamera umzugehen hat, also mit einer Digitalkamera, mit der Kamera, mit der wir gedreht haben. Und dann hat Bünyamin quasi für uns vor Ort gedreht. Denn immer wenn eine Katastrophe passiert in dem Dorf, bin ich ja nicht schnell genug, sofort ein Team zu mobilisieren und da hinzukommen. Das dauert ja mindestens eine Woche, so von der Logistik, ein Team zu organisieren und da eins, zwei, drei da hinzureisen. Aber er lebt dort und hat dann die Kamera, und er kann dann gleich vor Ort sein und das Material quasi sichern. Und das hat er dann all die Jahre auch getan.

Kassel: Was waren denn das für einzelne Dinge, wo es für Sie wichtig war, dass der vor Ort – Sie haben es gerade so genannt – die Katastrophen festhält, zum Beispiel?

Akin: Also, da ist mal ein Abwasserbecken eingestürzt, so eine Außenwand von einem Abwasserbecken, wo es dann so zu einer Überflutung von Abwasser im Dorf kam, das hat er festgehalten, Proteste oder heftige Regenfälle, die dann dafür gesorgt haben, dass die Mülldeponie einfach überschwemmt ist, dass der Müll herausgeflossen ist und den Hang hinab ins Dorf. Das konnte er dann alles sofort drehen und per Luftpost denn das Material zuschicken.

Kassel: Wie haben Sie eigentlich entschieden, wann Sie aufhören? Denn diese Geschichte ist ja im Prinzip nie zu Ende. Die Deponie ist jetzt gebaut, das Dorf hat sich verändert. Sie haben gerade gesagt, im Februar die letzten Bilder gedreht, theoretisch könnten Sie ja noch fünf Jahre weiterdrehen. Wie entscheidet man sich, wann Schluss ist, und wann dann der Film gemacht werden muss?

Akin: Na ja, irgendwann sagt einem das Leben auch so im Gefühl: Na, jetzt arbeite ich seit fünf Jahren dran, ich sollte das jetzt mal beenden und mich anderen Dingen weiter widmen. Und es wurde eine Mauer errichtet, also die Deponie – man muss sich vorstellen, die Deponie ist eine große Grube, und diese Grube ist jetzt voll mit Müll. Eigentlich kann man da nicht mehr weiter Müll entsorgen. Jetzt haben die Verantwortlichen beschlossen, eine Mauer zu errichten, um das Areal weiter zu nutzen. Und eine Mauer ist ja immer ein Symbol, und ich dachte mir, na ja, das könnte vielleicht, mit der Entscheidung, diese Mauer zu bauen und diese Deponie zu verlängern, damit könnte ich dann eine Zäsur setzen und den Film beenden.

Kassel: Wir reden heute Nachmittag hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Regisseur Fatih Akin über seinen neuen Film "Müll im Garten Eden", der am Freitag in Cannes außerhalb der Competition in einer Sondervorführung die Premiere erleben wird. Und Sie haben gesagt, Herr Akin, dass sie eben auch Aufmerksamkeit erregen wollten bei den Medien – in Deutschland auch, aber eben auch in der Türkei. Ich weiß, dass in Cannes, wenn Sie dort vor Ort Interviews geben, relativ viel Zeit für türkische Journalisten reserviert ist, nun sind Sie aber auch in Cannes, und es ist ein großes Ereignis. Wie war denn das in den Jahren davor, hatte die türkische Presse Interesse an Ihrer Arbeit in diesem Dorf?

Akin: Oh ja, es gibt auch ein grünes Bewusstsein in der Türkei, gerade so im Hochfeuilleton, und es gab doch viele Journalisten von verschiedenen Zeitungen, die uns ermutigt haben und die dem Dorf geholfen haben, die immer wieder davon berichtet haben – NTV ist ein türkischer Nachrichtensender, die haben mehrere Male ein Kamerateam da hingeschickt. Also es gibt auch eine Opposition. Nur wenn sich die Regierung mal was in den Kopf setzt, dann ist es sehr, sehr schwer, die aufzuhalten. Aber zumindest können wir sie kritisieren mit der Medienaufmerksamkeit. Ja, Kritik ist die einzige Macht der Beherrschten eben.

Kassel: Wie geht es denn inzwischen den Einwohnern in Çamburnu, denen, die protestiert haben? Haben die jetzt das Gefühl, so ein Protest bringt einfach nichts?

Akin: Nein, also ganz beeindruckend ist, dass die Hoffnung bei diesen Menschen zuletzt stirbt, dass die bei jedem kleinsten Verstoß, die da ja immer noch passieren, melden die sich an die verantwortlichen Ämter, klagen die weiter auch an, auch wenn sie meistens Verfahren verlieren, aber sie haben natürlich noch Hoffnung, dass der Film und die Aufmerksamkeit um den Film noch etwas bewirken kann, und dass selbst, wenn sie schon geopfert worden sind für so eine sinnlose Umweltpolitik, dass in Zukunft anderen Dörfern oder anderen Gemeinden so ein Schicksal eben nicht blüht.

Kassel: Der Film kommt irgendwann im Spätherbst oder Anfang Winter in Deutschland in die Kinos, es gibt noch keinen Termin. Aber wenn man ihn in Deutschland sieht, kann man dann auch so ein bisschen was lernen über die türkische Provinz? Man hat ja von Deutschland aus auch dieses Vorurteil – gut, Istanbul, relativ moderne Stadt, aber dann weiter hinten in der Provinz, da leben die Leute hinterm Mond. Ich habe so den Eindruck, in Çamburnu leben die eigentlich nicht hinterm Mond.

Akin: Überhaupt nicht. Ich war doch sehr erleichtert und beruhigt und fasziniert, wie pragmatisch, aufgeschlossen, modern diese Menschen dort sind, wie gebildet die auch sind. Gut, die Bildung geht dann so weit, dass die jungen Leute natürlich alle wegziehen. Die jungen Leute, die die Schule dort beenden, die ziehen natürlich alle in die Großstädte, um dort zu studieren, aber es sind gerade die Älteren, die mich mit ihrem Widerstand fasziniert haben. Ich weiß nicht, vielleicht, weil es ein Dorf ist, das in Küstennähe ist, da sind die Leute halt sehr aufgeschlossen, sehr weitsichtig, haben immer Horizonte vor sich.

Kassel: Fatih Akin, der Regisseur des Films "Müll im Garten Eden", dieser Film über den Kampf der Bewohner des Schwarzmeerdorfes Çamburnu in der Türkei gegen den Bau einer Mülldeponie in ihrem Dorf wird in Cannes seine Weltpremiere erleben übermorgen, und ist dann, wie gesagt, im späten Herbst auch in Deutschland regulär in den Kinos. Dann wünsche ich Ihnen, Herr Akin, erst mal viel Spaß und viel Erfolg in Cannes.

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