Die Demokratie kommt auf den Hund

15.10.2012
Arabellion in den USA? Geht es nach dem Nobelpreisträger und Ökonomen Joseph Stiglitz, kann das passieren. Denn die Ungleichverteilung habe in den USA schlimme Zustände erreicht. Und wer trägt Schuld? Die Politik!
Joseph Stiglitz ist einer der bekanntesten amerikanischen Ökonomen. Er hat den Nobelpreis in seinem Fach, war Wirtschaftsberater der Regierung Clinton und Chefvolkswirt der Weltbank. Einen Antikapitalisten wird man ihn nicht nennen können. Und dennoch stellt er seinem eigenen Land Umbrüche in Aussicht, die ihr Vorbild in der sogenannten "Arabellion" in Tunesien, Ägypten und Libyen haben könnten.

Denn auch in den Vereinigten Staaten habe die Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich unerträgliche Zustände erreicht. 93 Prozent der Einkommenszuwächse, die zwischen 2009 und 2010 dort erzielt wurden, fielen dem einen Prozent der Amerikaner mit dem höchsten Einkommen zu. Das Vermögen sei noch ungleicher verteilt. Davon, dass auch die Armen und die Mitte davon profitierten, wenn andere reich werden, weil das Wachstumseffekte habe, könne nicht die Rede sein. Die Behauptung, wer gegen drastische Ungleichheit sei, den bewege "Sozialneid", sei mithin falsch.

Die Pointe der sehr ausführlichen Argumentation von Stiglitz: Die Verarmung der meisten und die Aushöhlung der Mittelschicht liegen nicht an der Marktwirtschaft als solcher. Denn im Kapitalismus leben die Leute schon länger. Sie liege vielmehr an einer veränderten Politik, die ein hemmungsloses "Rent-Seeking" erlaube. Unter "Renten-Erzielung" versteht Stiglitz Aktivitäten, die nicht dazu dienen, sich Wohlstand durch Produktivität zu sichern, sondern die einzig und allein der Wegnahme des Wohlstandes anderer gelten.

Man sichert sich Monopole, nutzt Marktmacht aus, besticht Politiker, treibt Lobbyismus, um Subventionen zu bekommen, zweigt Gewinne aus Unternehmen ab und verteilt sie als Prämien unter seinesgleichen. Der Einfluss großer Vermögen und Firmen auf die Politik führt Stiglitz zufolge dazu, dass manche Spieler nicht nur die Regeln festlegen, sondern zugleich den Schiedsrichter aussuchen.

Stiglitz führt diese These von der Umverteilungsökonomie an vielen Beispielen aus, von der Finanzmarktliberalisierung über die Steuerpolitik bis zum Insolvenzrecht. Er zeigt, welche Folgen es für die Produktivität einer Wirtschaft hat, wenn es keine faire Entlohnung gibt, oder wenn jedem nur noch ein schlaumeierisches Verhalten nahegelegt wird. Dass die Demokratie auf den Hund kommt, wenn Parlamente und Regierungen sowie Wahlkämpfe in erster Linie Schauplätze der Renten-Aneignung sind, ist ohnehin klar. Ein weiteres Kapitel beschreibt den Kampf der Umverteiler von unten nach oben, um die öffentliche Meinung: durch Marketing, Massenmedien und mittels politischer Schlagworte, zum Beispiel dem von der "Systemrelevanz" einzelner Banken oder vom "Sozialneid".

Was tun? Stiglitz' Antworten lauten: Die Monopolmacht begrenzen durch mehr Wettbewerb und schärfere Aufsicht, insbesondere im Bankensektor. Unbegrenzte Schadenshaftung. Echte Steuerprogression, ohne Schlupflöcher. Freier Zugang zu Bildung, Krankenversicherung für alle. So scheint das Buch darauf hinauszulaufen, Amerika Europa zu empfehlen. Und den Rückbau seiner eigenen Geschichte zu den Lehren der fünfziger und sechziger Jahre, als der Keynesianismus noch geholfen hat. Dass uns mehr Gleichheit auch etwas kosten würde, will er nicht aussprechen. Und dass sich die Bürger mit ihrem eisernen Willen, den eigenen Lebensstandard zu verteidigen, den Verführungen des "rent-seeking" öffneten, auch nicht.

Besprochen von Jürgen Kaube

Joseph Stiglitz: Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
Siedler Verlag, Berlin 2012
509 Seiten, 24,99 Euro
Mehr zum Thema