Die Dekadenz der Utopien

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 06.09.2005
Es hat – neben George Orwells "1984" – im 20. Jahrhundert wohl keinen politischen Roman gegeben, der derart hohe Wellen geschlagen hätte. Arthur Koestlers "Sonnenfinsternis", die Abrechnung des Autors mit dem Staatskommunismus stalinscher Prägung, ist ein intensiver, weil tief erlittener Text.
Seinen Kern hat der Autor selbst formuliert, als er 1938 seine sieben Jahre währende Liaison mit der Kommunistischen Partei Deutschlands beendete. In seiner Austrittserklärung mahnte er die Genossen:

"Es gibt keine Unfehlbarkeit einer Person, einer Bewegung oder einer Partei. Toleranz dem Feind gegenüber ist ebenso selbstmörderisch wie Intoleranz dem Freund gegenüber, der das gleiche Ziel auf einem abweichenden Weg verfolgt."

Da lagen – nach der Faszination durch den Marxismus – zwei wesentliche Erfahrungen hinter dem 33-Jährigen: eine ausgedehnte Reise durch die Sowjetunion und die desillusionierenden Ränke, mit denen die Abgesandten der Kommunistischen Internationale (also Stalins) die Ideologie und Praxis der politischen "Säuberungen" in den Spanischen Bürgerkrieg auf die Seite der Republikaner exportierten.

Der geradezu gottgleiche Anspruch auf politische Unfehlbarkeit, den Stalin – selbst Zögling eines Priesterseminars – mit Unbarmherzigkeit für sich geltend machte, hatte die Moskauer Schauprozesse der 30er Jahre hervorgebracht. Die dazugehörigen Verhaftungswellen, noch mehr aber die Prozesse selbst waren ein grausiges, die Weltöffentlichkeit schockierendes Spektakel: Wie kamen eben noch an höchster Stelle positionierte und altgediente Revolutionäre, Mitstreiter des Staatengründers Lenin die meisten, dazu, sich zu den absurdesten Mordverschwörungen gegen Stalin, zu Staatsstreichen und Oppositionsbewegungen zu bekennen?

"Sonnenfinsternis" ist ein Roman, den man einen Versuch über politische Psychologie nennen könnte. Am Beispiel des ehemaligen Volkskommissars Rubaschow, der in die Mühlen des Stalinschen Terrors gerät und in einer Einzelzelle gezwungen ist, über seine politische Biographie nachzudenken, legt Koestler das Innenleben der Akteure des Systems frei.

Dass dies gelingt, liegt vor allem an der geschickt gewählten Perspektive. Rubaschow erinnert sich – mit der Schonungslosigkeit, die die Nähe des Todes nahe legt – an jene Episoden, die ihn selbst in der Rolle des Exekutors der richtigen "Linie" vorführen. Das Bewusstsein, die Maschinerie der Unbarmherzigkeit selbst entscheidend mit befeuert zu haben, um der politischen Ziele willen Menschen in den Abgrund gestoßen zu haben, führt ihn zur Annahme seines Schicksals: Jetzt muss bezahlt werden. Diese empfundene "Zahlungspflicht" in einem Moment, da er sich in der Rolle wieder findet, die sonst anderen zugedacht war, schafft die Distanz zu seinem früheren Tun.

Die selbstkritische Reflexion Rubaschows zielt dabei nicht auf Reue, sondern auf die Analyse des Geschehenen. Und aus dieser Analyse leitet Koestler die eigentliche Dimension des Romans her: "Sonnenfinsternis" handelt vor allem von der Dekadenz der Utopien, sobald sie zu Machtfundamenten geworden sind.

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis
Roman. Rückübertragung aus dem Englischen von Arthur Koestler.
Mit einem Nachwort des Autors.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2005. 272 Seiten.