Die De-facto-Abschaffung des Asylrechts

Von Annette Wilmes · 26.05.2013
Eine Zweidrittelmehrheit war notwendig, damit am 26. Mai 1993 der sogenannte Asylkompromiss den Deutschen Bundestag passieren konnte. Herausgekommen ist ein Gesetz, über das Kritiker sagen, dass in Deutschland kaum noch Asyl möglich ist.
Tausende von Demonstranten waren im Bonner Regierungsviertel zusammengekommen, als dort am 26. Mai 1993 der sogenannte Asylkompromiss verabschiedet werden sollte. Am 6. Dezember des Vorjahres hatten sich CDU/CSU, FDP und SPD nach heftigen Auseinandersetzungen auf eine Neufassung des Asylrechts geeinigt. Die Stimmen aus der Opposition waren notwendig, weil das Grundgesetz nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden kann.

Gegen dieses Vorhaben hatte es schon vorher zahlreiche Proteste und Kundgebungen gegeben, organisiert von Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden.

Bis in die 70er-Jahre kamen jährlich etwa 10.000 Flüchtlinge nach Deutschland, in den 80er-Jahren waren es schon 100.000. Dann ließen kriegerische Konflikte, Armut und der Zerfall des Ostblocks die Zahlen in die Höhe schnellen. Schließlich waren es Anfang der 90er-Jahre mehr als 400.000 jährlich, die hier Schutz suchten. Die Kommunen schafften es kaum mehr, die Menschen unterzubringen. In den Asylbewerberunterkünften herrschten teilweise menschenunwürdige Bedingungen.

"Wir haben alles unternommen, um gegenzusteuern. Aber bei der geltenden Rechts- und Verfassungslage können weder die Verwaltungen des Bundes und der Länder noch die Gerichte mit diesem immer stärker anschwellenden Zustrom fertig werden."

So CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters in der Bundestagsdebatte am 26. Mai 1993. Helfen sollte die Änderung des Asylrechts.

"Das waren äußerst dramatische Zeiten. Und es ging da an die Substanz","

erinnert sich Percy MacLean. Der inzwischen pensionierte Vorsitzende Richter am Berliner Verwaltungsgericht war viele Jahre zuständig für Asyl- und Ausländerverfahren.

""Es gab Fremdenfeindlichkeit, Fremdenhass, Attentate auf Asylbewerberwohnheime. Und die Frage war, was tut man, was kann die Situation angemessen berücksichtigen, ohne die Werte aufzugeben, die eben im Grundgesetz zu Recht verankert sind."

In Rostock, in Hoyerswerda und schließlich in Mölln waren Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte verübt worden, von Neonazis und Rechtsradikalen, teilweise unter dem Beifall der Bevölkerung. Es gab Tote und Verletzte. Manche Medien schürten den Fremdenhass, die Schutzsuchenden wurden als "Schein- oder Wirtschaftsasylanten" bezeichnet, als "Asylbetrüger und Sozialschmarotzer". Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom Staatsnotstand. Percy Maclean:

"Man war einfach in diesem wahnsinnigen Konflikt: Geht Deutschland unter, wenn zu viele Flüchtlinge kommen? Oder geht unsere Werteverfassung unter?"

Das Asylrecht wurde aus dem Artikel 16 des Grundgesetzes gestrichen. In dem neu eingeführten Artikel 16a steht nach wie vor der Satz: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Die vier weiteren ausführlichen Absätze kündigen dann allerdings drastische Einschränkungen an: Wer über sogenannte sichere Drittstaaten auf dem Landweg nach Deutschland einreist oder aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt, soll sofort an der Grenze zurückgeschickt werden können. Da alle Nachbarstaaten Deutschlands als sicher gelten und kaum ein Flüchtling die Möglichkeit hat, per Flugzeug herzukommen, bedeutet das de facto die Abschaffung des Asylrechts.

"Der neue Artikel 16a aus dem Kompromisskauderwelsch ins Deutsche übersetzt, lautet, politisch Verfolgte genießen Asylrecht, aber nicht in Deutschland."

Der frühere DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, bezeichnete den Asylkompromiss als "unwürdig". Er appellierte an seine Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, das Gesetz abzulehnen. Genauso, wie vor ihm Gregor Gysi, Abgeordneter der PDS/Linke Liste:

"Sagen Sie Nein zur Abschaffung des Asylrechts, sagen Sie Nein zur Liquidierung einer der wichtigsten Konsequenzen aus dem mörderischen Naziregime!"

Die Bundestagsdebatte am 26. Mai 1993 dauerte fast 14 Stunden. Die zweite und dritte Lesung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes endete mit der namentlichen Abstimmung der Abgeordneten. Gegen die Stimmen der Grünen, der Linken, eines Teils der SPD und der FDP erhielt das Gesetz die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Es trat am 1. Juli 1993 in Kraft.