Die Buch-Botschafterin

Von Eberhard Schade · 07.10.2007
Spätestens seit den verheerenden PISA-Ergebnissen geben sich Eltern und Institutionen notfalls auch mit Trash zufrieden. Hauptsache, das Kind liest. Dagegen kämpft Gabriele Hoffmann, Deutschlands bekannteste und engagierteste Kinderbuchhändlerin. Die Heidelbergerin liest sich alljährlich durch 400 bis 500 neu erschienene Kinderbücher, wirbt in Hunderten von Vorträgen und Seminaren bei Pädagogen und Eltern für ihre Idee vom guten Kinderbuch. Ihre Botschaft: Alle Kinder können lernen, Bücher zu lieben. Man muss ihnen nur die richtigen geben.
Heidelberg, Hauptstraße. Montagmorgen, kurz nach neun. Handwerker zimmern mitten auf der Fußgängerzone an Regalen für die Filiale eines Sportartikelherstellers. Erste Touristengruppen ziehen vorbei, Richtung Altstadt.

Geschäftiges Treiben auch im Innenhof einer schmalen Seitenstraße der Touristenmeile, der Märzgasse Nummer 6 - 8. Eine Tonne Bücher wird angeliefert, die zweite schon heute. Abgepackt in 16 großen Pappkartons, gestapelt auf einer Europalette.

Die Chefin öffnet die Hoftür. Zeigt dem Zusteller, wo die Palette noch hinpasst. Im Lager hinten und im Laden vorne sind drei ihrer Mitarbeiterinnen nur damit beschäftigt, die zuvor angelieferten Tonnen einzusortieren, auszupreisen.

Die Chefin, das ist Gabriele Hoffmann. Eine große Frau mit klaren, blauen Augen, die weißen langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengeklemmt. Hoffmann ist Deutschlands bekannteste Kinderbuchhändlerin. In ihrer Buchhandlung, "Leanders Leseladen", steht die größte Titelauswahl der Bundesrepublik.

20.000 Kinderbuch-Titel. Das ist absolute Spitze. Und darauf ist die Inhaberin auch stolz. "Es sind natürlich auch so viele, weil ich ganze Kisten in Schulen und Kindergärten mitnehme", sagt sie. Weil sie es sich nun mal in den Kopf gesetzt hat, Kinder süchtig zu machen – nach Büchern. Die Verlage ihr deshalb auch sämtliche neue Titel vorab schicken. Denn sie wissen: Hoffmanns Empfehlungen zählen etwas in der Branche.

Die 56-Jährige steht jetzt vorne im Laden, vor einer hüfthohen Ritterburg aus Hartpappe, auf der sich Bilderbücher türmen.

"Es gibt Bücher die sind so wichtig wie die Muttermilch, es gibt Bücher, die sind so wichtig wie Obst und Gemüse und es gibt Bücher, die sind so wichtig wie Himbeertörtchen und es gibt Bücher, bei denen wird einem schlecht."

90 Prozent Mist – so das erschreckende Urteil angesehener Kinderbuchkritiker. Auch Hoffmann urteilt so hart. Findet, dass der Buchhandel sich viel zu stark an Neuerscheinungen orientiert, die Klassiker mehr und mehr verdrängt werden.
"Bücher, bei denen einem schlecht wird, finden sie bei mir jedenfalls nicht", sagt sie, "Himbeertörtchen schon". Und zieht willkürlich eines der Hartpappe-Expemplare aus der Ritterburg.

"Das ist natürlich sehr nett hier dieses Törtchen. Sie sehen schon das Buch hat Löcher, das Buch heißt Kribbel-Krabbel und da geht es darum, dass man mit den Fingern die fehlenden Körperteile ergänzt. Also die Katze hat eine Pfote, mit denen sie einen streicheln kann, der Vogel braucht Flügel und ganz nett – da kommt der Zeh aus dem Loch im Strumpf hinaus."

Ein gutes Bilderbuch ist für sie elementar wichtig. Darf deshalb auch seinen Preis haben. Doch: wem nutzt das, wenn laut Statistik 70 Prozent der Deutschen keine Bilderbücher mehr kaufen? Hoffmann kennt die Zahlen, kontert sofort.

"Theoretisch haben wir diese Kundschaft auch nicht. Es ist heutzutage einfach so, dass es dieses Publikum in ganz kleinen Refugien gibt, aber man kann die Leute auch nach wie vor – sage jetzt ganz bewusst – erziehen."

Genau das tut sie. Seit über 20 Jahren. Wirbt in Hunderten von Vorträgen und Seminaren bei Pädagogen, Eltern und Buchhändlerinnen für ihre Idee vom guten Kinderbuch.

"Manche meiner Zuhörerinnen sagen: sie wickeln uns regelrecht ein. Und dann mach ich das eben auch. Mit allem Charme, der mir zur Verfügung steht. Es gibt ganz, ganz viele Leute, die sich eben anstecken lassen …"

500 Kilometer weiter. Ein lichtdurchfluteter Raum im dritten Stock des Panorama-Hotels in Hamburg-Harburg. An fünf langen Tischreihen sitzen 39, meist jüngere Buchhändlerinnen. Vor ihnen: Gabriele Hoffmann.

"Seien Sie mir willkommen. Zunächst mal bin ich wie immer überwältigt, dass sie alle da sind. Ich finde, dass immer wieder sehr schön, dass sie zu mir kommen und sag das ganz bewusst, weil ich weiß, dass einige ganz bewusst kommen, um meine Interpretationen zu hören …"

Die Frau ist selbstbewusst. Das drückt schon ihre Körperhaltung aus. Kerzengerade steht sie da, wirkt dabei völlig entspannt. In schwarzer Leinenhose, langer weißer Leinenbluse, die Hände vor dem Oberkörper verschränkt, den Kopf leicht zur Seite gekippt. Ihr Lächeln: entwaffnend.

"Wir haben heute eine Person hier in diesem Raum, das ist mir eine ganz besondere Ehre, das sie da ist. Das ist die für mich lebende wichtigste deutsche Autorin und das ist Kirsten Boie – herzlich willkommen."

Genug der Ehre. Boie winkt ab. Hoffmann lässt sie, wendet sich wieder ihren Seminar-Teilnehmerinnen zu.

"Ich will ihnen zeigen, wie die Verlage Bücher gestalten, seit Lilifee."

Hält jetzt ein mit rosa Samt beschlagenes Buch hoch: Prinzessin Lillifee. Warum, will sie wissen, verkauft sich das ganz ohne Werbung fast so gut wie Harry Potter? Möchte aber, dass die jungen Buchhändlerinnen selbst drauf kommen. Fragt deshalb erstmal in die Runde, was eigentlich eine richtige Prinzessin ist?

"Sie wartet auf ihren Prinzen. Aha! Was muss sie leisten? Einen Prinzen gebären."

Als sie dann noch fragt, wer die wichtigste Prinzessin der Neuzeit ist – ahnen die ersten, worauf Hoffmann hinaus will.

"… und jetzt gucken sie sich mal dieses Cover an. Das ist auch die Königin der Herzen geworden."

Lilifee ist Lady Di! Buchgestalter haben mit der hässlichen kleinen Mischung aus Mädchen und Puppe in rosa einen Nerv getroffen.

"… diese Schrift, die dafür gewählt wurde – das stimmt hier einfach alles. Unmittelbar auf einer unbewussten Ebene seine Kunden zu erreichen.
Und dann der Plüsch, und Glimmer, die Doppelung, sie ist nicht nur Prinzessin und ist auch noch Fee."

Hoffmann zieht das Samtbüchlein an ihre Brust, rollt die Augen. Und holt zur Schlusspointe aus.

"… Tatsache ist, dass sie ganz sicher nicht hochmütig ist, sondern karitativ im besten Sinne. Sie sorgt für alle. Das ist ein unglaubliches Frauenbild eigentlich, Eva Herman hätte ihre große Freude …"

Spätestens jetzt ist das Eis gebrochen. Hoffmann hat die Seminar-Teilnehmerinnen auf ihrer Seite. Und kann ihre eigentliche Botschaft loswerden. Aus der Flut der Neuerscheinungen die Bücher vorstellen, die es sich in ihren Augen lohnt, zu lesen. Zu verkaufen.

Zurück in Heidelberg, in Hoffmanns Buchhandlung. Gabriele Hoffmann gibt Anweisungen, was wie wo im Laden präsentiert werden soll.
Leanders Leseladen ist eine Institution in der Altstadt, es gibt ihn seit fast 20 Jahren. Jede Mutter, jeder Vater hier kennt ihn. Und mindestens genauso viele Kinder kennen sie, Gabriele Hoffmann. Weil sie bei ihr – einmal infiziert – in all die Welten eintauchen können, die sie so faszinieren.
So wie Johannes, ein Fantasy-Fan, der mit seine schulterlangen Locken selbst ein bisschen aussieht wie der Herr der Ringe. Der 13-Jährige steht plötzlich hinten im Laden, bringt Gabriele Hoffmann ein Buch zurück, aus dessen Deckel eine Din-A4-Seite herausguckt. Seine ganz persönliche Buchkritik mit Note.

"Die Rückkehr des Mumienherzes. Da hab ich eine Eins Minus drauf gegeben. Ich finde das Buch sehr spannend und finde es gut, dass man viel über die ägyptische Mythologie und über das Leben in New York lernt. Auch ist das Ende sehr plötzlich und am Schluss ziemlich viel ungeklärt, sodass man unbedingt den zweiten Teil lesen will."

Hoffmann nickt, legt Buch und Kritik auf einen Extra-Stapel. Bedankt sich bei Johannes, der gleich wieder los muss. Er ist einer eines Kids, die einen 700-Seiten dicken Harry-Potter Roman in wenigen Tagen verschlingen, so auch Hoffmann von dessen Qualität überzeugen. Von Johannes und anderen Schülern will sie aber später noch erzählen. Bleibt jetzt erstmal demonstrativ vor einem Regal stehen, in dem Atlanten, Kunstbücher und Lexika stehen.

"Jetzt kommen wir zu den vier Regalen, die der ganze Stolz meiner Arbeit sind, denn das sind unsere Sachbücher …"

"Viel Stoff für angehende Ingenieure", sagt Hoffmann und lacht. Direkt daneben: ein Regal mit dem passenden Spielzeug. Fischertechnik, Flaschenzüge zum Selberbauen, ein ganzer Stapel tomatengroßer Glaskugeln, einzeln verpackt.

"Mit diesem kleinen Teil können sie alle Grundlagen des zukünftigen Physikunterrichtes begreifen. Das ist dann wirklich tolles Geschenk für die Schultüte statt der Tafel Schokolade."

Hoffmann ist optimistisch. Glaubt, dass es trotz PISA-(Schock) noch Lehrer und Eltern gibt, die wollen, dass ihre Kinder spielerisch lernen. "Gegen den kleinen chinesischen Wunderpianist, der 16 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche übt – können wir nicht anstinken", sagt sie, aber …

" … die Chinesen haben noch keinen Mozart gehabt und die Chinesen haben noch keine Stradivari-Geige gebaut – das können wir anbieten über diese Methoden, wie wir traditionell Kinder erziehen und das dürfen wir nicht abschaffen, sondern das müssen wir erhalten."

Dann will sie los. An ihren Lese-, ihren Lieblingsplatz, nur 150 Schritt von der Buchhandlung entfernt. Das ist ihr vier Quadratmeter kleiner, sonniger Küchenbalkon mit großem Kirschbaum drunter. Fast so schön wie bei Astrid Lindgren. Hier liest sie sich jedes Jahr durch 400 bis 500 neue Kinderbücher. Mit Kater auf dem Schoß, einer Tasse Tee und Butterbrezeln.

Hoffmann setzt Wasser auf, zieht einen Ordner aus dem Bücherregal im Flur, legt ihn auf den Balkontisch. Darin: lauter Buchbesprechungen von Kindern und Schülern wie Johannes. Eine, die sie sucht, findet sie sofort. In kindlicher Schrift steht dort mit Großbuchstaben geschrieben: Für Frau Hoffmann, dahinter vier Kreuze und ein Smiley.

"… dann der Titel des Buches: Abenteuer im alten Rom und drunter steht gefahlen – also es hat ihm gefallen. 1. Die Geschichte außen herum. 2. Ja, ich wird öfter drin lesen, es sofort kaufen."

Rafael, der Verfasser, ist gerade mal fünf Jahre alt, als ihm Gabriele Hoffmann das Buch, ein Comic über das alte Rom mit Sach-Innenteil, in die Hand drückt. Lesen kann er da schon. Schreiben noch nicht.

"Das Interessante ist, dass er sozusagen über diesen Auftrag mir zu berichten, wie ihm dieses Buch gefallen hat, schreiben gelernt hat. Er wollte nämlich nicht warten bis seine Mutter Zeit hat ihm das aufzuschreiben. Das ist natürlich grandios und das sind Sternstunden meiner Arbeit, wo ich dann denke Pfft – das ist es, ne?"

Das Teewasser kocht. Rafael und Johannes, erzählt Hoffmann auf dem Weg in die Küche, sind nur zwei von rund 100 Mädchen und Jungen, die Bücher testlesen. Aufschreiben, was ihnen gefällt, was nicht und dem Buch eine Note geben. Viel wichtiger aber: fast alle kommen wieder und wieder in Leanders Leseladen.
Weil es hier immer spannende und neue Bücher gibt, die sie so lange sie möchten ausleihen können – und nicht gleich kaufen müssen.

Hoffmann geht wieder zurück zu ihrem Ordner mit den Buchbesprechungen. Das Thema Testleser ist ihr wichtig. Weil sie damit Kinder aller Schichten erreicht. Ihre Theorie: Kinder, die mit Büchern aufwachsen, sind einfach besser gewappnet fürs Leben. Weil Bücher, gerade bei ganz jungen Lesern, oft tief wirken, manchmal das ganze Leben beeinflussen können. So auch bei ihr.
Gabriele Hofmann wächst als Kind in Pflegefamilien auf, verbringt viel Zeit bei ihren Großeltern.

"Vielleicht habe auch ich meine Lebenstherapie über die Kinderbücher gemacht. Das ist ja schon ´ne Geschichte, wenn man fünf Elternhäuser hatte, ich hab´ fünf Mütter gehabt und zwei davon sind gestorben. So was alles aufzuarbeiten das war mir alles mit den Kinderbüchern möglich."

Buchhändlerin wird sie eher durch Zufall. Weil sie die Lehrstelle einer Freundin annimmt, die die mittlere Reife nicht schafft. Irgendwann später sagt ihr eine Kollegin: Sie haben Seele – müssen für Kinder arbeiten. Und auch wenn sie das nicht wirklich plant – tut sie es bald. Macht Abitur nach, studiert Pädagogik, wird Assistentin bei Jochen Gelberg, Deutschlands wohl bekanntesten Verleger von Kinder- und Jugendliteratur. 1980 eröffnet sie ihren ersten Buchladen.

"Mein Blick hat mir dann gezeigt, dass es immer nur das Beste sein muss, was man für Kinder anbietet."

Um sie weg zu kriegen vom Fernseher, vom Computer. Hin zu Sprache, zu Büchern.

"Es ist tatsächlich so dass es bis vor zehn Jahren leicht war Kindern zu klug und schön geschriebenen Büchern zu verführen. Das ist jetzt doppelt bis dreifach so schwer geworden. Das heißt, dass das Thema Sprachentwicklung so elementar wichtig geworden ist. Wenn man in den ersten Jahren in ihrem Kopf den Kirschbaum mobilisiert hat, dann haben sie das als Potenzial und können darauf aufbauen."

Gabriele Hoffmann hat acht Neffen, selbst keine Kinder. Lebt zusammen mit ihrem Mann, einem Philosophie-Dozenten, und ihrem Kater in einer Fünf-Zimmer-Altbauwohnung. Alle Räume sind mindestens dreieinhalb Meter hoch. Und in allen so wie in den Fluren – sind Bücher. Mal im Regalen, mal gestapelt auf dem Fußboden. An den Wänden dazwischen hängen schlichte Bilder in Öl, Illustrationen, Widmungen.
200 Rezensionen schreibt sie Jahr für Jahr, stellt daraus einen Katalog zusammen, den ein Buchgroßhändler als Arbeitsgrundlage an rund 5000 Buchhandlungen verschickt. Darin steht dann, welche Bücher sie empfiehlt, für welches Alter sich die Lektüre eignet und über welches Gefühl Kinder in den Büchern etwas lernen können. Abschied, Mut, Eifersucht, Toleranz sind dabei typische Hoffmannsche Kategorien.
Seit 40 Jahren immer nur Bären, Prinzen, Feen und Zauberlehrlinge. Wird man da nicht irgendwann verrückt, braucht mal etwas Abwechslung?

"Es ist so, dass ich jedes Jahr fluche ich will nicht mehr. Ich lese immer wieder noch mal meine Madame Bovary, ich brauche einmal im Jahr ein Schnitzler-Roman und ich brauche ab und zu japanische Literatur und da reizt mich dann ganz besonders Sprache."

Die Japaner, Schnitzler, Madame Bovary und ein paar Österreicher stehen im Regal direkt über ihrem Lesesessel im großen Wohnzimmer. Das in ihren Augen mit wichtigste Buch für Kinder hat sie immer griffbereit im Flur. Herders großes Bilderlexikon. Hoffmann zieht es hinaus, tippt mit dem Finger blind auf ein Wort ziemlich weit vorne.

"Stichwort Angst taucht in keinem andern Lexikon auf, aber das will man wissen, was das ist, denn das erlebt man und dann wird hier erzählt: ein kleiner Junge … beginnt zu schwitzen. Sein Herz schlägt schneller und im Magen kribbelt es. Da steht er auf und legt sich zu seiner großen Schwester. Die fürchtet sich nicht, denn die weiß woher das Geräusch kommt und jetzt hat er keine Angst mehr. Was wollen sie besser machen? Das kann ich überhaupt nicht besser machen und deshalb ist es besser, dass die Klassiker erhalten bleiben und dafür kämpfe ich."

Und das immer auch in ihren Seminaren.

"Ich sage immer, die alten Kinderlieder. Auf einem Baum ein Kuckuck saß – simsalabimbambasaladusaladim …"

In Hamburg hält sie ein Din-A-4 großes Buch mit dem nüchternen Titel "Sprachspiele für Kinder" hoch.

"Dieses doofe Buch hier beinhaltet die gesamte Lust- und Lachwonne, die sie mit Kindern einfach erleben können. Ich finde das ist ein Betrug an Kindern, wenn man das alles nicht kennt."

Einige Buchhändlerinnen nicken, kennen das Buch offenbar. Andere zucken mit der Schulter. Wenig später entlässt Gabriele Hoffmann ihre Zuhörerinnen in die Mittagspause.

Die meisten bleiben noch einen Moment sitzen, diskutieren. So wie Renate Krall aus Hannover, eine Mitsechzigerin mit Kurzhaarschnitt. Sie ist schon zum zweiten Mal in einem Seminar bei Gabriele Hoffmann. Ihr gefällt nicht nur die Art, wie sie vorträgt. Sondern auch ihr Standpunkt.

"Wie sie sich gibt, wie sie es rüber bringt. Sie bringt eigene Überzeugung rein, das ist klar und versucht auch, ein bisschen zu überzeugen – aber bitte man kann ja da seine Abstriche machen. Wer singt heute noch? Wer spielt heute noch? Wer spielt Kaspertheater? Die ganzen Sprachspiele, das ganze Miteinander ist nicht mehr vorhanden. Und da müssen wir dran arbeiten."

Ihre Schwiegertochter Michaela schüttelt den Kopf, ist da anderer Meinung.

"Schön, was sie erzählt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu einer jungen Mutter gehe und der ein Buch über Sprachspiele in die Hand drücke. Die haut mir das um die Ohren. Die sagt: was unterstellen sie mir? Ich spiele mit meinem Kind."

Neben den beiden sitzt Kirsten Boie. Die Kinderbuchautorin. Sie kennt Gabriele Hoffmann seit einem halben Jahr. Ist zufrieden, sagt sie. Bekommt selbst als Profi von ihr noch viele Anregungen.

"Was ist Kindern angemessen, was bringt ihnen auf der jeweiligen Entwicklungsstufe ein Buch. Und das finde ich tatsächlich auf der der jeweiligen Entwicklungsstufe eine zentrale Frage. Man muss sich da nicht immer einig sein, aber ich finde die Fragestellung einfach klug."

Dass vor ihr jemand steht, der mit darüber entscheidet, ob auch eines ihrer Bücher sich gut oder weniger gut verkauft – das glaubt sie nicht. Und deutet nur lächelnd auf die beiden Buchhändlerinnen aus Hannover.

"Die kommen ja hier schon her als Expertinnen her. Und das heißt, die sich schon im Vorfeld ganz intensiv mit Kinderbüchern auseinandergesetzt hat und insofern denke ich ist diese Gefahr, dass Frau Hoffmann Entscheidungen trifft, die deutschlandweit zu Hits oder Flops führt - die ist wahrscheinlich gar nicht so groß."

Hoffmann will weitermachen. Mit Märchen. Schleicht suchend um den Bücherstapel, den sie selbst mitgebracht hat, zieht einen Klassiker heraus: Der kleine Hävelmann von Theodor Storm. Die Geschichte des kleinen Jungen, der immer mehr will. Bis er es schließlich übertreibt.

Denn das lässt sich der Mond nicht gefallen, der kleine Hävelmann stürzt ins Meer. Gerechte Strafe, will man meinen. "Nicht bei Storm", sagt Hoffmann und schlägt die letzte Seite des Buches auf.

"Es gibt bei Storm ein Ende, das sie alle kennen. Er ist also nun ins Meer gefallen. Und dann? Wenn du und ich nicht gekommen wären und den kleinen Hävelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können."

Eine zweite Chance quasi für den kleinen Hävelmann, sagt Hoffmann. Und hält dann ein Buch hoch, auf dessen Cover ein Mädchen mit Federschmuck im Haar auf einem Floß sitzt – gefesselt. Königin Gisela heißt das Buch. Und ist nominiert für den Deutschen Bilderbuchpreis.

Hoffmann zeigt den Buchhändlerinnen Seite für Seite, fasst dabei kurz die Geschichte zusammen. Die der von Storm auf den ersten Blick sehr ähnelt.

"Auch hier geht es um ein Kind, das immer mehr mehr mehr will. … "

Und am Ende verflucht wird. Schluss. Aus. Vorbei. Die Kinder müssen sehen, wie sie damit klar kommen. "Schwarze Pädagogik" schimpft Hoffmann. Und lächelt jetzt nicht mehr.

"Des ist halt kein Buch für eine Fünfjährige, bloß weil es den Bilderbuchpreis bekommen hat, was man der alleine in die Hand drückt. Das ist ein Buch in dem man mit Kindern reden muss."

Zurück in Heidelberg, in Hoffmanns Wohnung. Die Buchhändlerin lehnt an einem Stehpult in ihrem Wohnzimmer, klemmt ein paar lockere Strähnen in ihre Haarspange. Studiert dabei ihren Kalender.

"Dann bin ich in Zürich, dann Libri Bad Hersfeld. Dann bin ich in Elmau. Dann geht es los – jeden Abend Vortrag. vier mal die Woche abends, gnadenlos. Kindergarten, Kindergarten, Schule."

Wieder steht ein Termin, auf dem sie für ihre Idee vom guten Kinder buch werben kann. "Etwas Missionarisches ist schon an mir", sagt sie einmal. Obwohl sie das Wort eigentlich nicht mag. Botschafterin gefällt ihr besser. Buch-Botschafterin.