Die brodelnde Klangwelt der Großstadt

Von Albrecht Dümling · 13.04.2010
Kaum einem anderen Musiker des 20. Jahrhunderts glückte so sehr wie Leonard Bernstein die Verknüpfung von Kunst- und Volksmusik, von Ernst und Unterhaltung. Als Komponist, Dirigent, Pianist, Schriftsteller und Musikerzieher war er in beiden Welten zu Hause, er schuf ebenso Musicals wie Symphonien.
Sein Dirigierdebüt 1943 bei den New Yorker Philharmonikern wurde sogleich als "Debüt eines Genies" gefeiert. Wie George Gershwin stammte Bernstein von russischen Einwanderern ab. Dennoch fand er eine Musiksprache, die als typisch amerikanisch empfunden wird. Dies gilt nicht zuletzt für seine in New York spielenden Musicals "On the Town" und "West Side Story", die die brodelnde Klangwelt dieser pulsierenden Metropole aufgreifen.

In "West Side Story" übertrug Bernstein einen klassischen Stoff, Shakespeares Drama "Romeo und Julia", in den Dschungel der modernen Großstadt. Die Fehde zwischen den Adelsgeschlechtern der Capulets und Montagues verwandelte er dabei in den Kampf zwischen einheimischen und zugewanderten Jugendbanden. Dieses Musical, das Jugendkriminalität und Rassenprobleme ungeschminkt auf die Bühne bringt, war das bis dahin kühnste Werk des amerikanischen Musiktheaters.

Aus der Brisanz des Themas leitet sich die Vitalität und Brisanz von Bernsteins Musik her. So hoch sind ihre rein musikalischen Qualitäten, dass sie auch unabhängig von Text und Szene existieren kann. Noch 1957, im Jahr der triumphalen Uraufführung, beauftragte der Komponist den alten Freund Sid Ramin, seine Musical-Musik zu einer sinfonischen Suite zusammenzustellen.

Diese beginnt mit dem charakteristischen Tritonus-Motiv, auf dem viele der musikalischen Themen basieren, hält sich sonst aber kaum an die Reihenfolge im Stück. Da es sich durchweg um Ballettmusik handelt, konnte die Suite, ähnlich wie die letzte Komposition Rachmaninows, mit "Sinfonische Tänze" überschrieben werden. Sehnsuchtsvollen Liedern wie "Somewhere" und "Maria" stehen Stücke wie "Mambo", "Cha-cha" oder "Fugue" gegenüber, die ganz vom Rhythmus leben. Der Mambo, ein aus Kuba stammender Tanz, der sich in New York City mit Jazzrhythmen mischte, dient in der "West Side Story" ebenso wie der elegante Cha-Cha-Cha als Klangsymbol der aus Puerto Rico stammenden Jugendlichen.

Bernstein übertrug in seinem Mambo die Wildheit von Strawinskys "Sacre du Printemps" vom alten Russland in die Großstadt. Dieser nervös jagende Tanz stellt mit seinem rasenden Tempo und den scharfen Gegenakzenten höchste Anforderungen an das orchestrale Zusammenspiel. Auch die von massiven Unisono-Einwürfen aller Instrumente unterbrochene Fuge ist ein Meisterwerk. Das vielfältige und konfliktreiche Leben auf der Straße zog mit diesen "Sinfonischen Tänzen" wirklich in den Konzertsaal ein.