Die Bretterbohrer

Von Wolfgang Labuhn · 16.04.2009
Es war eine kurze Premiere mit langem Anlauf. Nur dreieinhalb Stunden dauerte die 33. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages in Berlin, die nächste Sitzung fand dann schon wieder am gewohnten Ort in Bonn statt. Und doch war der 19. April 1999 eine Zäsur, denn er vermerkt die erste Sitzung des Parlaments im neuen Berliner Reichstagsgebäude.
Die Umbauphase des Hauses war nun Geschichte, die Geschichte des Bundestages im neuen Hause konnte beginnen. Fast zehn Jahre nach dem Mauerfall kam die Bundespolitik endgültig in Berlin an und mit ihr der Tross der Lobbyisten. Über 2000 Verbände haben sich allein beim Bundestag registrieren lassen, um dort ihre Interessen vorzubringen - und zwar eher selten in der Lobby.

Berlin, Ende März 2009, ein kalter, regnerischer Tag in der Hauptstadt. Auf den Gehwegen am chic gewordenen Hackeschen Markt drängen sich dennoch Besucher aus aller Welt, während Straßenbahnen vorbeirumpeln und sich vor jeder Ampel die Autos stauen – Alltag in Berlin-Mitte 20 Jahre nach dem Mauerfall.
Mitten auf dem Hackeschen Markt, zwischen S-Bahnhof und den luxussanierten Hackeschen Höfen das große Sparkassengebäude mit diversen Seiteneingängen.

Im Hauseingang mit der Doppelanschrift "Hackescher Markt 4 / Große Präsidentenstraße 10" steht Ulrich Müller vom Verein LobbyControl – Initiative für Transparenz und Demokratie und blickt auf das stattliche Arsenal von Schildern, die Auskunft über die Mieter geben. Die Deutsche Umwelthilfe residiert hier, aber auch das Institut für Verteidigungstechnologie, Streitkräfteökonomik und Geopolitik e.V., die Petro Carbo Chem GmbH, die indecon consulting GmbH, der Bundesverband Neuer Energieanbieter BNE und andere mehr:

"Aber insgesamt kann man sagen, das ist natürlich so eine ganz interessante Mischung, die man in Berlin noch häufiger findet. Wenn man noch ein Stück weiter Richtung Bundestag geht, wird es zum Teil noch wirtschaftslastiger, weil da noch die Mieten anders sind, wo man eben Verbände sitzen hat, aber auch Lobbyagenturen, Consulting-Büros und dann auch Institute, die dann häufig auch durchaus – zumindest teilweise - Wirtschaftsinteressen vertreten und hier alle versuchen, in der politischen Landschaft Einfluss zu nehmen."

Der in Köln ansässige Verein LobbyControl hat es sich zum Ziel gesetzt, Licht in den Lobbydschungel zu bringen und gibt deshalb einen Reiseführer ganz besonderer Art heraus. "LobbyPlanet Berlin" heißt das handliche Werk, mit dem interessierte Zeitgenossen nun durch Berlin-Mitte schlendern können, wobei der Reiseführer alle wichtigen Lobbyadressen entlang des Weges erläutert, Hauptstadtrepräsentanzen wichtiger Unternehmen ebenso wie die Standorte von Verbänden aus allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, als Stiftungen verkleidete Interessenverbände und jene Cafes und Restaurants, in denen man sich typischerweise trifft, um Kontakte zu knüpfen, um Netzwerke aufzubauen, um gegenüber der Politik Interessen geltend zu machen. Auf den Einwand, dass es in einer Demokratie zweifellos legitim ist, für die Durchsetzung bestimmter Interessen parlamentarische Mehrheiten zu bekommen, antwortet Ulrich Müller von LobbyControl:

"Eine Demokratie oder Politik, die sich darauf verlässt, dass ihr von Lobbyisten ein Großteil der Arbeit sozusagen ‚vorgearbeitet’ wird, führt dazu, dass eben die großen, einflussreichen gesellschaftlichen Interessen, also vor allem Wirtschaftsinteressen überwiegend dominieren. Und dann kommt dann das Problem, dass man häufig nicht weiß, wer hinter einzelnen Interessen steht, dass es intransparent ist, wer dort arbeitet, dass zum Teil mit sehr problematischen Methoden gearbeitet wird, dass sowohl irreführende Organisationen aufgebaut werden, die nach außen etwas anderes darstellen, als sie real sind, aber auch dass es Verflechtungen gibt, dass Politiker von einem Tag auf den anderen von zum Beispiel der Deutschen Bank, der Energielobby usw. abgeworben werden und dann auf einmal mit ihren ganzen Insiderkenntnissen für diese finanzstarken Lobbygruppen tätig sind. Und das sind schon Entwicklungen, die eine Demokratie in dem Sinne, dass alle Bürgerinnen und Bürger eigentlich gleichberechtigt mitentscheiden, gefährden."

Vom Hackeschen Markt kommt man am besten mit der S-Bahn dorthin, wo Gesetze gemacht und damit Interessen gefördert oder gebremst werden können.

Vom Bahnhof Friedrichstraße sind es nur ein paar Schritte entlang der Spree bis zum Bundestag mit seinen diversen Nebengebäuden, in denen die Ausschüsse tagen und die Abgeordneten ihre Büros haben. Im ersten Stock des Paul-Löbe-Hauses ist der SPD-Abgeordnete Michael Hartmann anzutreffen. Er gehört dem Innenausschuss des Bundestages an und hat sich mit anderen innenpolitischen Experten der großen Koalition auf den Entwurf eines Entschließungsantrages verständigt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, für mehr Transparenz beim Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung zu sorgen.

"Ich repräsentiere hier einen Wahlkreis, der indirekt auch betroffen ist vom Ausbau des Frankfurter Flughafens. Es wird über meiner Heimatstadt Mainz und der Umgebung viel mehr Fluglärm geben. Und da befasst man sich dann auch als Fachfremder – ich bin Innen- und nicht Verkehrspolitiker – mit solchen Fragestellungen und stellt plötzlich fest, dass Fraport selbst die Feder geschwungen hat beim Fluglärmgesetz. Das kann nicht angehen!"

Hartmann meint damit den Einsatz sogenannter "externer Experten" wie jener Mitarbeiter der Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport in den Bundesministerien, wo man das Fachwissen solcher Experten schätzt, deren Gehälter oft andere zahlen.

Im März vergangenen Jahres kam der Bundesrechnungshof zu dem Ergebnis, dass immerhin 16 Prozent der in Bundesministerien eingesetzten "externen Experten" aus Privatunternehmen und Verbänden stammen. Zuvor hatte das ARD-Fernsehmagazin Monitor 2006 in mehreren Beiträgen nachgewiesen, dass Lobbyisten aus Industrie und Wirtschaft als sogenannte "externe Experten" zum Teil sogar an der Formulierung von Gesetzestexten mitwirkten.

"Ich will nicht nur aufmerksam machen durch den Antrag, sondern ich will durch Transparenz auch eine ungute Praxis unterbinden und eine gute Praxis fördern, das heißt beispielsweise durch einen jährlich dem Bundestag vorzulegenden und zu debattierenden Bericht muss angegeben werden, wer wo an welcher Stelle wie tief mitarbeitet in den Bundesministerien."

Die Enthüllungen der Monitor-Redaktion, die zu parlamentarischen Anfragen der Opposition an die Bundesregierung führten, hatten schließlich den Bericht des Bundesrechnungshofes für den Haushaltsausschuss des Bundestages zur Folge, ferner im Juli 2008 eine "Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Einsatz von außerhalb des öffentlichen Dienstes Beschäftigten (externen Personen) in der Bundesverwaltung", die genauere Regeln für die Tätigkeit externer Experten enthält.
Parlamentariern wie Michael Hartmann genügt das nicht:

"Wenn ein guter Beamter in die gewerbliche Wirtschaft wechselt, ist es ja ein Beweis dafür, dass er gut sein muss. Dann soll er das aber bitte nicht sofort tun. Ich erwarte also, dass wir im Deutschen Bundestag so etwas wie ‚Abkühlregeln’, die es ja beispielsweise im Bereich des Verteidigungsministeriums gibt, auch auf andere Sektoren übertragen."

Denn die Liste der Politiker, die ohne die von Hartmann geforderte "Abkühlzeit" in die Wirtschaft wechselten, ist lang. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde nach seiner Abwahl 2005 u.a. Aufsichtsratschef des vom russischen Gazprom-Konzern kontrollierten Konsortiums, das eine Erdgas-Pipeline von Russland durch die Ostsee nach Deutschland bauen will – ein politisch brisantes Projekt, das gegen den erklärten Widerstand Polens realisiert werden soll. Schröders Superminister Wolfgang Clement, von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, übernahm nach dem Regierungswechsel mehrere Aufsichtsratsposten, darunter im Energieunternehmen RWE Power. Schröders Sprecher Bela Anda ging in ähnlicher Funktion zum Finanzdienstleister AWD. Der Diplomat Martin Jäger, bis 2008 Sprecher des Auswärtigen Amtes, wurde Leiter des Bereichs Global External Affairs und Public Policy der Daimler AG und damit so etwas wie der Chef-Lobbyist des Konzerns.

Das sind nur einige Beispiele für den raschen und durchweg lukrativen Wechsel politischer Funktionsträger in die Wirtschaft, wo sie nun ihr Insiderwissen nutzen können – für den SPD-Abgeordneten Michael Hartmann eine bedenkliche Entwicklung:

"Ich bin der Meinung, wir haben einen viel zu geringen Austausch zwischen Wirtschaft und Politik und zwischen Administration und Wirtschaft. Das kann ruhig mehr und besser werden. Aber es muss transparent sein. Ich als Parlamentarier habe einen Anspruch darauf, dass mir eine neutrale Verwaltung Vorlagen macht oder ich genau ableiten kann, wer denn nun wirklich die Feder geführt hat. Das scheint mir nicht immer und überall und ausreichend gewährleistet zu sein."

Dabei gibt es schon seit 1972 die "Öffentliche Liste über die beim Deutschen Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter", in die sich jeder eintragen lassen muss, der als Interessenvertreter einen Hausausweis für den Bundestag haben möchte, um zum Beispiel Abgeordnete treffen oder in Ausschüssen gehört werden zu können. Das Verzeichnis umfasst derzeit über 2000 Einträge, darunter riesige Organisationen wie den DGB ebenso wie Kleinstverbände mit nur wenigen Dutzend Mitgliedern. Zur Verärgerung des Abgeordneten Hartmann aber enthält das Verbändeverzeichnis des Bundestages weder Informationen über die Finanzierung der eingetragenen Verbände, Stiftungen usw. noch die Namen all jener Anwaltskanzleien, PR-Agenturen und Einzelpersonen, die ebenfalls als Lobbyisten tätig sind:

"Ich möchte gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen deshalb ein ausgeweitetes Lobbyistenregister, weil zu Anhörungen des Deutschen Bundestages viele Verbände, Vereinigungen, Institutionen geladen werden, die scheinbar edelste Zwecke verfolge. Dahinter verbirgt sich aber zumindest in der Finanzierung oft knallharte Interessenpolitik. Das soll offengelegt werden über ein solches Lobbyistenregister."

In den USA gibt es ein solches Lobbyistenregister bereits seit 1995, die Berliner Republik ist davon noch weit entfernt. Eine anonyme, wenn auch freundliche Stimme weist den Abgeordneten Hartmann an jenem Tag in seinem Büro unterdessen über die interne Kommunikationsanlage des Bundestages zunächst einmal auf seine aktuellen Pflichten hin:

Und es war naturgemäß keine gewöhnliche Aktuelle Stunde, zu der die Abgeordneten dann in den Plenarsaal strömten, noch ganz unter dem Eindruck der Tragödie in der schwäbischen Provinz.

Und wieder ging es auch in dieser Parlamentsdebatte um die Frage, ob es in Deutschland nicht ganz legal viel zu viele Waffen in privater Hand gebe, ob nicht das Waffenrecht in diesem Punkt zu verschärfen sei. Und wieder konnten die Befürworter einer solchen Politik getrost davon ausgehen, dass die Waffenlobby darauf unmittelbar reagieren würde – wie schon nach dem Amoklauf von Erfurt 2002, als der 19-jährige Sportschütze Robert Steinhäuser 16 Schüler und Lehrer seines früheren Gymnasiums erschoss. Danach wollte Bundesinnenminister Otto Schily die Schützenvereine strengeren Regeln unterwerfen, wollte sein bayerischer Amtskollege Günther Beckstein die Altersgrenze für den legalen Kauf großkalibriger Waffen auf 25 Jahre anheben. Beide Vorstöße scheiterten nicht zuletzt am Widerstand der Schützen- und Jägerlobby – wie auch der Versuch der Bündnisgrünen, die Waffenflut in deutschen Privathaushalten einzudämmen:

"Wir wollten schon damals den Besitz von Schusswaffen in Privatwohnungen etwas reglementieren und etwas reduzieren. Wir haben uns mit unseren grünen Vorschlägen nur wenig durchsetzen können","

erinnert sich Silke Stokar von Neuforn, die innenpolitische Sprecherin der bündnisgrünen Bundestagsfraktion in ihrem Büro im Jakob-Kaiser-Haus gegenüber vom Reichstagsgebäude:

" "Wir haben uns damit gleichzeitig angelegt mit all den Schützenvereinen, mit den Schützen, die zu Hause Waffen haben, auch mit den Jägern, die nicht aktiv die Jagd ausüben, aber aufgrund ihres Jagdscheins auch fast automatisch einen Waffenbesitzschein haben und dann dazu noch mit den Erben und Sammlern von Waffen."

Und sie blieben nicht ruhig. Silke Stokar und ihre Parteifreunde waren in jener Zeit vielmehr einem massiven Störfeuer der Waffenlobby ausgesetzt:

"Die Lobbyarbeit ist dann immer eine Arbeit, die massenhaft das Büro erreicht und dann natürlich dazu führt, dass ein MdB-Büro mit zwei Mitarbeiterinnen schnell völlig überlastet ist, wenn man über 100 Mails pro Tag bekommt, wenn man eine Flut von Bürgerbriefen bekommt, wenn das Telefon nicht mehr stillsteht und alle die Abgeordnete persönlich sprechen wollen. Wenn man dann bemüht ist, auch die eigene Position inhaltlich und sachlich darzustellen, folgt noch am gleichen Tag eine Nachfrage und auf die Antwort wieder eine Nachfrage, so dass da schon ein System dahintersteckt zu sagen, wir setzen das Büro matt, wenn Sie nicht mit solchen Vorschlägen aufhören, und ich finde schon, das ist schon eine Form von Lobbyarbeit, die dann in den Bereich der Nötigung reingeht."

Lobbyismus in Form von solchem Mobbing würden die meisten Interessenvertreter im politischen Berlin allerdings ablehnen. Es gibt subtilere Methoden, Politiker auf sich aufmerksam und womöglich zu seinen Verbündeten zu machen: Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Empfänge, Preisverleihungen – der organisatorischen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Am 23. März dieses Jahres überraschte die Berliner "taz" mit einer ungewöhnlichen Sonderbeilage. Gratis mitgeliefert wurde eine Ausgabe der Hamburger "ZEIT" im handlichen Boulevardblatt-Format mit erstaunlichen Artikeln wie "Abschied von Atom und Kohle. Die Bundesregierung will eine Energiewende-Agentur gründen" und auch "Ohne Lobby. Neues Gesetzespaket soll Einfluss von Lobbyisten beschränken und Demokratie fördern".

Erst ein genauerer Blick auf das Erscheinungsdatum dieser ZEIT-Ausgabe – 01. Mai 2010 – und in das Impressum verschafft Klarheit. Es handelte sich um eine 2010 neu gegründete ZEIT, herausgegeben vom Attac-Bundesbüro in Frankfurt, das einen melancholischen Blick in eine noch vor uns liegende schöne neue Zeit warf. Da hat etwa ein Untersuchungsausschuss des Bundestages bereits seinen Abschlußbericht zur Rolle der Finanzlobby beim Entstehen der Wirtschaftskrise vorgelegt. Der Bericht kommt zum Schluss, dass die Finanzlobby über Jahre hinweg erheblichen direkten Einfluss auf die Politik hatte:

""So kritisiert der Bericht zum einen die Rolle der Finanzlobby bei der Entstehung der Krise, zum Beispiel durch die Mitarbeit von Lobbyisten mit Schreibtischen im Finanzministerium an wichtigen Deregulierungen wie der Zulassung von Hedgefonds in Deutschland. Andererseits habe die Lobby übergroßen Einfluss auf die ersten Maßnahmen zur Überwindung der Krise gehabt. Die Bundesregierung habe Expertengruppen wie die Gruppe 'Neue Finanzarchitektur' einseitig besetzt, ausdrücklich wird dabei die problematische Berufung von Otmar Issing hervorgehoben, der zugleich als Berater von GoldmanSachs arbeitete."

Doch hier bleibt die Realität im politischen Berlin zehn Jahre nach dem Zuzug von Parlament und Regierung noch weit hinter der Satire zurück.