"Die Bibel nicht wortwörtlich nehmen, aber beim Wort"

Klaus Sturm im Gespräch mit Kirsten Westhuis · 15.09.2012
Das nächste Projekt der Deutschen Bibelgesellschaft ist die "Basisbibel". Generalsekretär Klaus Sturm nennt sie die erste Bibel für die Internetgeneration: nah beim Urtext, auf dem iPhone lesbar, crossmedial vernetzt. Kein Satz darf länger als 16 Wörter sein.
Kirsten Westhuis: Nach Musik und bildender Kunst kommen wir zur Literatur in der heutigen Ausgabe von Religionen. Und da gibt es im Christentum natürlich einen absoluten Bestseller, das Buch der Bücher: die Bibel. Die Bibel im 21. Jahrhundert ist bunt, sie hat pinke Einbände oder wahlweise auch grün oder blau, es gibt sie als Online-Ausgabe und eine App fürs Smartphone ist natürlich auch schon da. Das Buch der Bücher spielt in Deutschland eine ganz besondere Rolle, im Land der Reformation, dort, wo Martin Luther den fremden Text zum ersten Mal in die Sprache der Menschen übersetzte, ins Deutsch des 16. Jahrhunderts.

In Deutschland gibt es auf protestantischer Seite die Deutsche Bibelgesellschaft, die nicht nur Bibeln verlegt, sondern auch die wissenschaftliche Forschung rund um die Bibel unterstützt und sich weltweit für ihre Verbreitung einsetzt. Vorgänger der Deutschen Bibelgesellschaft war die Württembergische Bibelanstalt und die wurde im September 1812 gegründet. Unter dem Motto "200 Jahre Bibelkompetenz" wird jetzt also mit Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen, Publikationen und sogar mit einer Sonderbriefmarke die Gründung der Württembergischen Bibelanstalt gefeiert. Ich habe vor der Sendung mit Klaus Sturm gesprochen, dem Generalsekretär der Deutschen Bibelgesellschaft und ihn gefragt, was es denn nach knapp 2000 Jahren bei der Bibel eigentlich noch Neues zu sagen oder, vor allem, zu schreiben gibt?

Klaus Sturm: Die Bibel ist ein Buch, das immer aktuell bleibt, auch immer wieder neu übersetzt werden muss. Und von daher ist die Arbeit auch eine kontinuierliche. So wie die Sprache sich verändert, verändert sich auch die Ausdrucksform der Bibel. Wenn auch der Inhalt derselbe bleiben soll.

Westhuis: Aber die Bibel ist ja, aus Sicht der Christen, das Wort Gottes, von Menschenhand aufgeschrieben, aber doch vom Heiligen Geist begleitet – kann man das überhaupt neu schreiben, neu verändern, in neue Worte fassen?

Sturm: Das ist genau die Kunst, dass wir das Wort Gottes lesen und dass wir es bewahren wollen, dass wir aber wegen der Sprachentwicklung immer wieder neu die Bibel interpretieren und zu den Menschen bringen wollen. Das ist die feine und delikate Aufgabe auch einer Bibelgesellschaft.

Westhuis: Fein und delikat, sagen Sie. Und Interpretation, das Wort ist auch schon gefallen. Also Sie gucken doch, was Sie da neu sagen wollen. Wer bestimmt denn, was ausgelegt wird, wie was ausgelegt wird?

Sturm: Da müssen wir unterscheiden zwischen der Übersetzung aus den Ursprachen und einer Auslegung. Da ist ganz wichtig, dass wir unterscheiden. Aufgabe der Bibelgesellschaft ist die Texttreue. Das heißt also, die biblischen Ursprachen Hebräisch und Griechisch wirklich so ins Deutsche zu bringen oder in die entsprechende Sprache, dass sie treu zu dem ist, was in den Texten steht.

Westhuis: Treu zu den Texten. Einer Ihrer ganz großen Klassiker ist die Luther-Bibel. Ist das wirklich der Text, den Martin Luther damals geschrieben hat?

Sturm: Er hatte sie übersetzt. Es begann ja damals auf der Wartburg. Das berühmte September-Testament entstand dort, als er als Junker Jörg, verfolgt vom deutschen Kaiser, die Bibel übersetzte. Und er hat selber Wert darauf gelegt, dass es nicht eine Interpretation ist, sondern original aus den Texten ins Deutsche gebracht wird. Damit hat er ja auch die deutsche Sprachentwicklung entscheidend beeinflusst.

Westhuis: Aber ebensogut wie die Luther-Bibel ist bei Ihnen der Bestseller "Die gute Nachricht"-Bibel. Herr Sturm, "Gute Nachricht" hat ja schon diesen positiven Titel. Was steckt denn da für ein Ansatz dahinter, für eine Theologie auch?

Sturm: Das ist sozusagen die erste der modernen oder auch kommunikativen Bibelübersetzungen gewesen, wie wir es nennen. Und das war der Ansatz, dass viele Menschen eben es schwierig finden, in den klassischen Übersetzungen, vor allem auch in der Luther-Bibel, zunächst mal zu erfassen, was da steht. Und damals war das eine ökumenisch gestartete Initiative. Mittlerweile hat sie ja auch schon über 40 Jahre auf dem Buckel. 1968 kam das erste Neue Testament heraus, damals noch in der Württembergischen Bibelanstalt, und diese kommunikativen Übersetzungen sind erschließend für die klassischen Bibelübersetzungen. Also als Beispiel die Luther-Bibelübersetzung.

Westhuis: Aber kommunikativer Ansatz, das bedeutet zum Beispiel auch, dass Sie schreiben für eine mehr und mehr entkirchlichte Gesellschaft, für Menschen geschrieben mit wenig Vorwissen. Und der Sinn ist wichtiger als die Form.

Sturm: Ja, ich meine, es ist ja so: Die Bibelgesellschaften haben sich immer zum Ziel gesetzt, dass wir Hilfen geben zum Verstehen. Und das ist einer der Ansätze, die wir gewählt haben. Und eine ganz wichtige neue Initiative ist ja die Basisbibel. Das ist unser neues, großes Projekt, die wir übersetzen zur Zeit. Die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die erste Bibel für die Internetgeneration ist. Also sie hat drei Merkmale: Erstens die Nähe zum Urtext, zweitens eine lesefreundliche Sprachstruktur, also dass sie sogar auf dem iPhone oder iPad oder ähnlichen Medien gelesen werden kann, und schließlich und drittens die crossmediale Vernetzung. Das ist also Verbindung von Buch und Internet.

Westhuis: Die Basisbibel hat aber auch die Besonderheit, dass die Sätze nicht länger sind als 16 Wort, ganz konsequent ziehen Sie das durch. Trauen Sie der jungen Generation nicht mehr zu?

Sturm: Also wir trauen der jungen Generation mehr zu. Es ist nur festzustellen, dass die Lesepraxis sich verändert hat. Und zwar sehr, sehr radikal. In der Regel ist ja das Ganze auch, wenn Sie ein normales Smartphone nehmen, ist ja auch die Textstruktur eine ganz andere. Und die Basisbibel ist auch schon im Satz ganz darauf abgerichtet, dass sie darauf Rücksicht nimmt, dass Texte oft kurz und prägnant informieren müssen. Das nimmt die Basisbibel auf. Sie verfolgt damit das Ziel, dass viele Nutzer, die bisher Schwierigkeiten mit der Luther-Bibel haben oder anderen klassischen Übersetzungen, hier einen Einstieg finden. Das muss also nicht mit der Intelligenz zusammenhängen, sondern einfach mit dem Rezeptionsverhalten der heutigen Zeit. Da sind die Einheiten kürzer. Wenn Sie an die Taktung im Fernsehen und auch im Rundfunk denken, da geht dann auch diese Übersetzung darauf ein.

Westhuis: Manche Dinge in der Bibel sind ja auch einfach wirklich für uns heute schwer zu begreifen. Manche Sachen sind, ja, schwierig zu lesen. Die Psalmen zum Beispiel, da geht es auch oft ganz schön kriegslüstern zu mit Sachen, die wirklich aggressiv klingen und auch schwer zu verstehen sind. Können Sie das mal als konkretes Beispiel nehmen? Wie editieren Sie so was? Wie gehen Sie da ran, und wie machen Sie das?

Sturm: Also wir scheuen uns nicht, das einfach so abzudrucken, wie es damals geschrieben wurde. In der heutigen Sprache. Aber ich sehe das, und wir sehen das Buch der Bibel als ein Lebens- und Weisheitsbuch, das heißt, das ganze praktische Leben wird abgebildet. Mit allen Höhen und Tiefen, vor allem, also auch Gewalt und Krieg und Bedrückung, Depression – und deswegen sind zum Beispiel auch in den Klagepsalmen die Worte oft recht drastisch. Aber man kann es natürlich auch so sehen, dass dadurch die Aktion, also zum Beispiel, aggressiv zu werden, in einen Text, in ein Gebet verwandelt wird und Gott anheim gestellt wird. Das ist eine ganz neue Perspektive, und das war damals ein ganz großer Fortschritt. Man hat normalerweise gleich zugeschlagen, und die Sublimierung sozusagen dieser Aggressionsbereitschaft, die geschieht in den Psalmen. Von daher sind sie auch heute noch eine hervorragende Möglichkeit, mit Klagen und Gewalterfahrungen umzugehen.

Westhuis: Herr Sturm, es gibt Menschen überall auf der Welt, die lesen die Bibel so, wie sie ist. Die gehen wortwörtlich vom Text aus, sie betreiben Biblizismus und glauben eins zu eins das, was da steht. Sie gehen damit auf die Straße, verteilen Bibeln und wollen auch missionieren. Wie gehen Sie damit um? Wie beobachten Sie das?

Sturm: Also es ist immer so, dass in jeder Religion das wortwörtliche, also biblizistische Verständnis, auch im Islam, dazu führt, dass eben dann Falsches herauskommt. Wir sehen das so, dass wir immer auch das Gespräch brauchen und den Austausch über den Sinn. Das heißt, man soll die Bibel nicht wortwörtlich nehmen, aber beim Wort. Und diese feine Unterscheidung, das macht dann auch lebendigen Glauben aus.

Westhuis: Ganz feine Unterscheidung wird auch in der Wissenschaft betrieben, ganz genau hingeschaut, es gibt Bibelwissenschaft, und die Deutsche Bibelgesellschaft hat das auch als wichtigen Schwerpunkt, diese Verknüpfung mit der Wissenschaft. Herr Sturm, vielleicht können Sie da noch ein bisschen berichten – was sind da aktuelle Projekte?

Sturm: Also ganz aktuell ist die Neuauflage des Nestle/Aland, das ist eine Handausgabe, die 1898 zum ersten Mal erschienen ist, auch in Stuttgart, durch einen engagierten Griechischlehrer, Nestle, der damals im Seminar Maulbronn Griechischlehrer war, und er hat die erste dieser Handausgaben herausgebracht, und mittlerweile sind gerade diese griechischen und auch die hebräischen Ausgaben weltweit das Handwerkszeug aller Theologinnen und Theologen.

Westhuis: Und ist das Handwerkszeug katholischer Theologen sowie protestantischer Theologen. Wie steht es denn mit der Ökumene? Wann kommt denn die erste ökumenische Bibel raus?

Sturm: Ich meine, die "Gute-Nachricht"-Bibel ist ja eine ökumenisch erarbeitete Bibel. Es ist nun so, dass wir in Deutschland hervorragend zusammenarbeiten. Es gibt das Katholische Bibelwerk, das auch hier in Stuttgart ansässig ist. Und ich sage immer so: Zwischen uns passt da kein Blatt Papier. Wir arbeiten zusammen, wir editieren auch gemeinsame Materialien, und wir haben auch einen fast wöchentlichen und täglichen Kontakt.

Westhuis: Aber trotzdem gibt es diese Unterscheidung. Katholisches Bibelwerk und Deutsche Bibelgesellschaft – im Land der Reformation eine besonders schwierige Situation?

Sturm: Ich denke, das ist genau die deutsche Spezialität, weltweit, der weltweit 146 Bibelgesellschaften sind diese Organisationen die ökumenischsten überhaupt. Alle und sämtliche Konfessionen sind immer dabei. Und in Deutschland ist es eben geschichtlich bedingt, dass wir hier noch getrennt marschieren, aber gemeinsam dann auch sozusagen "schlagen", in Anführungszeichen.

Westhuis: Herr Sturm, welche Bibel haben Sie persönlich auf dem Nachtschränkchen liegen?

Sturm: Also ich bin ein Fan der Luther-Bibel und habe sie auch schon einmal ganz durchgelesen, als Jugendlicher – das war prägend. Und ich sehe die Bibel auch als Reiseführer durchs Leben – zur Gottesbeziehung, die mich immer wieder neu, dann dadurch gestärkt, hervorgeht, und meiner Frau lese ich auch jeden Morgen einen Abschnitt, und das ist die Morgenandacht, das kurze Innehalten vor dem Frühstück. Und das stärkt für den Alltag.

Westhuis: Geben Sie uns noch eine Stelle mit auf den Weg. Welche ist Ihnen gerade besonders präsent?

Sturm: Ich halte es da mit meinem Konfirmationsspruch aus dem Jahr 1973. Der stammt aus dem Propheten Jeremia und heißt: "Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte." Das gibt mir jeden Tag Halt und Mut.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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