Die Außenwelt als Seelenspiegel

16.04.2010
"Unter der Sonne" war das zweite Buch von Star-Autor Daniel Kehlmann. Nun kann man die Erzählungen auch als CD nachhören - hochkarätig besetzt mit Burghart Klaußner, Matthias Brandt, Ulrich Pleitgen und dem Autor selbst als Sprecher.
"Langeweile ist ein warmes, graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgestattet ist.", schrieb Walter Benjamin einmal. Dass es manchmal allerdings auch mit Nitroglyzerin beschichtet und hochexplosiv sein kann, erzählt Daniel Kehlmann in der Geschichte "Töten":

"Am Schlimmsten waren die Sommerferien. Wenn das Gras gelbe Hitze ausströmte und der Himmel nahe und schwer war wie aus warmem Metall und die Zeit nicht verging und sich nichts rührte – nirgendwo in der Welt."

Ein ödes Straßendorf irgendwo in Deutschland: Die Mutter hantiert in der Küche, die ältere Schwester blättert lustlos in einer Zeitschrift, die Katzen erlegen einen roten Schmetterling. Im Garten nebenan liegt ein Schäferhund auf der Lauer:

"Vor drei Jahren hatte es ihn schon gegeben, auch vor fünf und sogar vor zehn. Immer hatte er hinter dem Zaun gestanden und einen angestarrt und dann langsam die Zähne entblößt mit einem leisen, dunklen Vibrieren in seiner Kehle. Das hatte einen Schatten geworfen, auf jeden Tag, auf jede Nacht."

Ein Schatten auf dem Leben eines halbwüchsigen Jungen, mehr nicht. Aber dieser Schatten fließt zusammen mit der brütenden Ereignislosigkeit seiner Tage, mit seiner Angst, dass einfach nie wieder etwas passieren könnte. Als sei er tot. Und allmählich verengt sich alles in ihm auf einen Punkt: Es muss etwas geschehen. Etwas, das ihm Geltung verschafft. "Töten", vorgelesen von Matthias Brandt, handelt von einem dramatischen Wendepunkt in der Geschichte des öden Straßendorfs und im Leben des Halbwüchsigen. Brandts Stimme scheint es genauso an Luft zu fehlen, wie dem Leben seiner Hauptfigur. Es ist eine Stimme, wie kurz vor dem Ersticken oder eben wie kurz vor der Explosion.

Das Leben, wie es einen Schwenk ins dramatisch-surreale nimmt, ist auch das Thema der Erzählung mit dem Titel "Schnee". Der altgediente Manager Lessing beendet ein Firmen-Meeting spät in der Nacht. Draußen tobt ein Schneesturm und die Sekretärin warnt noch, man solle besser im Büro kampieren. Aber Lessing hat Kopfweh und das Gefühl, Mühlheim, Hansen und Frau Dr. Köhler keine Sekunde länger ertragen zu können. Er setzt sich ins Auto, fährt los, aber sein üblicher Heimweg ist wegen eines Unfalls versperrt. Bei der Suche nach einer anderen Route fährt er in einen Graben und muss zu Fuß weiter.

"Der Wind schien jetzt aus keiner bestimmten Richtung mehr zu kommen, sondern von überallher auf ihn einzustürzen. Es gab nichts mehr außer tosender, weiß durchtränkter Dunkelheit. Ein Ende seines Schals hatte sich gelöst und flatterte hinter ihm her wie eine ärmliche kleine Fahne. Als er danach griff, war es schon hart gefroren."

An Daniel Kehlmanns Stimme mag das Schrille, bisweilen Stechende unangenehm sein, er fällt doch ein wenig gegenüber den professionellen Sprechern ab. Aber dafür ist es halt der Autor selbst, der einem hier vorliest. Einer, der mit Worten für seine Figuren geizt, verschwenderisch nur ist bei der Beschreibung der Außenwelt, die er als Seelenspiegel benutzt. Und der weiß, wie er durch geschickt gesetzte Lücken die Fantasie des Hörers in Fahrt bringen kann.

"Die Universität war voll von Leuten, würdevollen Älteren und bissig dreinschauenden Jungen, die Aufsätze verfassten und in ernstem, knorrigem Ton allerlei von der Literatur forderten, ein Wort, das in ihrem Mund eine Färbung von Langweiligkeit, etwas sandkuchen- und knäckebrothaftes annahm."

... heißt es in der Titelgeschichte "Unter der Sonne" über das Fach, das auch Kehlmann einmal studiert hat. Burghart Klaußner liest die Geschichte des Germanistik-Dozenten Kramer, der sich gerade über Henri Bonvard habilitiert hat, einem von ihm glühend verehrten französischen Starschriftsteller. Bonvard seinerseits will mit Kramer allerdings nichts zu tun haben. Klaußner gibt dieser wie geduckt lebenden Figur Kramer eine resignierte Stimme. Eines Tages stirbt Bonvard. Und Kramers Verlag will auf den Einband des neuen Sekundärwerks das Foto von Bonvards Grabsteins drucken. Also macht sich Kramer auf nach Frankreich:

"Der Gedanke an Bonvards Grab zu stehen, war merkwürdig erregend. Zuletzt also doch. Dort war Bonvard. Er selbst! Und er würde Kramer nicht mehr von sich fernhalten können. Ja, in gewisser Weise war es ein Sieg. Er würde dort sein und sein Foto machen, und niemand würde ihn daran hindern. Dort, wo Bonvards Leben seinen Endpunkt gefunden hatte. Also doch. Zuletzt also doch!"

Aber was sich Kramer schon als finalen Triumph ausmalt, wird zur endgültigen Demütigung. Und nun weiß er sicher, dass er seine Laufbahn bei der Sandkuchen- und Knäckebrotfraktion bis zum bitteren Ende durchstehen muss.

Daniel Kehlmann erzählt hier davon, wie schön die Welt eigentlich ist. Dass Literatur diese Schönheit birgt, in Worte fasst; dass Literatur aber auch ein schillerndes Paralleluniversum ist, das Wünsche wecken kann, die das Leben verfinstern. Seine 1998 erschienenen Erzählungen "Unter der Sonne" sind brillant, geradlinig und von nicht allzu hohem Tempo, sodass man sie mit Gewinn hören kann – eine wichtige Wiederentdeckung.

Besprochen von Brigitte Neumann

Daniel Kehlmann: Unter der Sonne
Gelesen vom Autor sowie von Matthias Brandt, Burghart Klaußner und Ulrich Pleitgen
Hörbuch Hamburg, 2 CDs
117 Minuten, 19,95 Euro