Die Aufzeichnungen des ewigen Kronprinzen

Rezensiert von Oliver Hilmes · 28.05.2012
Kaiser Friedrich III. hat über sich selbst buchgeführt. Der Mainzer Historiker Winfried Baumgart hat diese Aufzeichnungen nun überarbeitet und diese Edition mustergültig besorgt. Allerdings musste er dabei eine Auswahl treffen, um die Ausgabe nicht ins Grenzenlose anwachsen zu lassen.
Kaiser Wilhelm I. war im Wortsinne noch ein Mann des 18. Jahrhunderts: im März 1797 geboren, feierte er 1887 seinen 90. Geburtstag. Seit 1861 war er König von Preußen, seit 1871 zudem Deutscher Kaiser. Der alte Herr erfreute sich rüstiger Gesundheit.

Zwar erlitt er in seinem Jubeljahr hin und wieder Ohnmachtsanfälle, auf den Thron verzichten mochte er aber nicht. Sein ältester Sohn Friedrich Wilhelm, obschon selbst im vorgerückten Alter, musste mit der Regierungsübernahme also noch warten. Am 18. Februar 1887 notierte der 55-jährige Kronprinz in sein Tagebuch:

"Durfte nicht aus wegen meiner andauernden Heiserkeit; muss 2 Mal täglich Emser Wasser inhaliren."

Mit dieser beiläufigen Erwähnung begann ganz unerwartet das letzte Kapitel seines Lebens. Anfang März entdeckte ein Arzt eine Verdickung am Kehlkopf, die mit einem glühenden Draht verödet wurde. Die Besserung war nur von kurzer Dauer, denn das Geschwür kam zurück. Der preußische Kronprinz wurde selbstverständlich von den besten Ärzten seiner Zeit behandelt.

Geld spielte keine Rolle, und so schickte man ihn im Frühjahr und Sommer 1887 durch halb Europa. Mit wachsender Beklommenheit liest man Friedrich Wilhelms Tagebuchaufzeichnungen über Bäderkuren in Bad Ems, dem österreichischen Toblach und den schottischen Highlands sowie über medizinische Behandlungen in Berlin und London. Am 11. November 1887 erhielt er in San Remo die Diagnose: Kehlkopfkrebs. Der Patient wusste, was das bedeutete; in sein Journal schrieb er:

"Somit werde ich wohl mein Haus bestellen müssen."

Der Rest der Geschichte ist bekannt: Kaiser Wilhelm I. starb am 9. März 1888, sein schwer kranker Sohn bestieg als Kaiser Friedrich III. den Thron und sollte ihm bereits 99 Tage später folgen.

Das Alles kann man nachlesen in den gerade veröffentlichten Tagebüchern Kaiser Friedrichs III. Seit seinem 16. Lebensjahr hatte er Tagebuch geführt. Die Aufzeichnungen der Jahre 1848 bis 1866 sind bereits 1929 veröffentlich worden, nun folgen die Notizen von 1866 bis zum Tod des Kaisers am 15. Juni 1888.

Der Mainzer Historiker Winfried Baumgart hat diese Edition mustergültig besorgt und im Ferdinand Schöningh Verlag veröffentlicht. Dabei musste er - wie bereits sein Kollege in den 1920er Jahren - eine Auswahl treffen, um die Ausgabe nicht ins Grenzenlose anwachsen zu lassen. Belanglose Vermerke über Essgewohnheiten, das Wetter oder Familienbesuche wurden demnach fortgelassen.

Die übrig gebliebenen Aufzeichnungen füllen über 500 Druckseiten und zeichnen das Bild eines Mannes, dessen politischer Gestaltungswille im Laufe der Jahre erlahmte. Friedrich Wilhelm empfand seine nicht enden wollende Kronprinzenzeit zunehmend als Qual, zumal sein greiser Vater keine Anstalten machte, ihn über Repräsentationsaufgaben hinaus an den Regierungsgeschäften zu beteiligen.

Nur einmal schien die Macht zum Greifen nahe, als Wilhelm I. im Mai 1878 bei einem Attentat schwer verwundet wurde und Friedrich Wilhelm bis Dezember als Stellvertreter des Kaisers fungierte. Doch hatte er die Rechnung ohne seinen vom Krankenbett agierenden Vater und auch ohne den allmächtigen Otto von Bismarck gemacht. Der Reichskanzler sagte ihm sogar ins Gesicht, dass er jede Art von Eigeninitiative zu unterlassen hatte. Das war eine Demütigung, von der er sich nicht mehr erholen sollte. Der Kronprinz fühlte sich nutzlos und war tief verzweifelt. Am 18. Oktober 1881, seinem 50. Geburtstag, notierte er:

"Fünfzig Jahre, also das Leben hinter mir. Müßiger Zuschauer, an täglicher Entsagung, Selbstüberwindung über ein Menschenalter gewöhnt, verurtheilt, die besten Jahre unthätig zuzubringen [ ... ]. Ich altere fühlbar, und hätte ich nicht Frau und Kinder als mein Alles - längst wünschte ich aus der Welt zu scheiden."
Vier Jahre später - im Juli 1885 - ging er trotz der vielen Kränkungen, die Bismarck ihm zugefügt hatte, ein geheimes Bündnis mit ihm ein. Er versicherte dem Kanzler:

" ... dass wenn der Wechsel einträte ich auf ihn rechnete um Hand in Hand mit ihm die Geschäfte fortzuführen so dass keine Unterbrechung fühlbar würde, und wir Beide nur für das Wohl des Staates handelten."

Bismarck sollte also Kanzler bleiben. Das bedeutet aber auch: der Kronprinz war nicht die liberale Lichtgestalt, für die er gerne gehalten wird. Als sicher gilt nach der Lektüre der Tagebücher vielmehr, dass auch unter ihm kein liberales und fortschrittliches Zeitalter in Preußen und im Reich begonnen hätte.

Dafür sorgte schon der greise Vater, der an Friedrich Wilhelm vorbei dessen Sohn Wilhelm in aller Öffentlichkeit protegierte und im August 1886 sogar mit einer diplomatischen Mission betraute. Das war eine weitere Demütigung, die ihm endgültig das Rückgrat brach. Als Friedrich III. den Thron bestieg, war er nicht nur sterbenskrank, er war durch die lange Wartezeit politisch zermürbt und tief resigniert. Seine Zeit war abgelaufen bevor sie richtig begonnen hatte. Friedrichs Witwe Victoria machte sich keine Illusionen über die Qualitäten ihres Sohnes, der nun als Wilhelm II. deutscher Kaiser wurde. "Armes Vaterland!", lautete ihr Kommentar.

Winfried Baumgart (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866-1888
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2012
Mehr zum Thema