"Die Argentinier lesen alles"

Eva Karnofsky und Marco Bosshard im Gespräch mit Katrin Heise · 06.10.2010
Vielseitig sind die Argentinier in ihrem Lese-, aber auch in ihrem Schreibverhalten. Eine Besonderheit sei die Tendenz argentinischer Autoren zur Kurzgeschichte, sagt Marco Bosshard, Lektor im Verlag Wagenbach.
Katrin Heise: Argentinien, das ist Vielfalt, das fängt schon mit der Natur an. Argentinien hat von tropischen und subtropischen bis hin zu sehr kalten Klimazonen ganz im Süden so ziemlich alles im Angebot. Das moderne Argentinien ist stolz auf seine ethnische Mischung und hat weit mehr zu bieten als nur den Tango. Zum Beispiel einen sehr ausgeprägten Literatur- und Lesebetrieb, und davon werden wir alle profitieren während der Frankfurter Buchmesse und hoffentlich auch darüber hinaus. Direkt auf dem Messegelände in unserem gläsernen Studio begrüße ich jetzt die Literaturkritikerin Eva Karnofsky, sie hat jahrelang in Buenos Aires gelebt und auch ein Buch herausgebracht: "Reise nach Argentinien", sozusagen einen Kulturkompass über das Land. Schönen guten Tag, Frau Karnofsky!

Eva Karnofsky: Ja, guten Tag, Frau Heise!

Heise: Und ich begrüße des Weiteren Marco Bosshard, Lektor im Verlag Wagenbach, und Wagenbach hat anlässlich der Messe neun argentinische Titel ins Programm genommen. Schönen guten Tag, Herr Bosshard!

Marco Bosshard: Guten Morgen, es sind sogar elf!

Heise: Noch welche dazugekommen, elf! Es gibt 465 argentinische Buchverlage, dazu eine enorme Dichte an Buchhandlungen, und eine erfolgreiche Buchmesse gibt es auch in Argentinien, nämlich jedes Jahr im April. Was lesen die Argentinier eigentlich am liebsten?

Karnofsky: Die Argentinier lesen alles. Also so wie sie über alles schreiben, lesen sie auch alles. Ich meine, die lesen auch die Autoren, die wir lesen wie Grisham, wie die Larssons, also die Schweden. Aber sie haben eben einen ganz ausgeprägten eigenen Literaturmarkt und man schreibt über die Gewalt am Stadtrand, man schreibt über Tango, man schreibt über geschiedene Ehen, über alleinerziehende Eltern. Ja eigentlich, man schreibt natürlich auch über die Militärdiktatur, da werden wir ja noch drauf kommen. Also eigentlich gibt es keinen Bereich des Lebens, den man in der Literatur ausschließt.

Heise: Das heißt, Sie haben, ganz kurz will ich da noch mal einhaken: Sie haben von einem eigenen Markt gesprochen, das heißt das ist jetzt nicht ausschließlich von Europa und USA beeinflusst, sondern wirklich noch mal von einem eigenen Markt sprechen, der auch gar nicht so eng mit Spanien zusammenhängt, wie man vielleicht denken sollte?

Karnofsky: Das war früher viel stärker, also als die Währung noch an den Dollar angekoppelt war eins zu eins in den 90er Jahren. Da haben sich spanische Verlage dort sehr breitgemacht, sie haben auch argentinische Verlage aufgekauft, und die kleinen argentinischen Verlage hatten eben kein Geld, Bücher auf den Markt zu bringen. Viel war eben mit Spanien verbunden. Das hat sich jetzt grundlegend geändert, es sind Dutzende von kleinen Verlagen entstanden in den letzten sieben, acht Jahren. Und das tut vor allem jungen Autoren gut und das tut auch Themen gut, die vielleicht etwas abseitig sind, aber trotzdem interessant.

Heise: Herr Bosshard, Sie wollten noch etwas anfügen, ich hab Sie unterbrochen!

Bosshard: Ja, ja kein Problem. Nein, die Argentinier schreiben natürlich über alles und das hängt aber jetzt auch mit dem Markt zusammen. So die argentinische Form ist nach wie vor starke Tendenz hin zur Kurzgeschichte. Es gibt natürlich auch viele Romanschriftsteller, aber das ist nicht sehr populäres Genre, sondern man schreibt und liest vor allen Dingen auch viele Kurzgeschichten in Argentinien. Auch das gehört zu den Besonderheiten des Marktes.

Karnofsky: Und noch eine Besonderheit, wenn Sie die schon anführen: 1200 Gedichtbände werden im Jahr gedruckt, 1200 neue Gedichtbände erscheinen jedes Jahr in Argentinien. Das heißt also sie sind zumindest auch ein Land der Dichter.

Heise: Also Kurzgeschichten, Gedichte ganz groß in Form. Eine Besonderheit habe ich noch zu bieten, nämlich die Präsentation in Frankfurt, die scheint Argentinien auch ganz besonders wichtig zu sein. Ich hab gelesen, dass es ein derartiges Engagement in Sachen Übersetzung, wie das Argentinien gezeigt hat, eigentlich noch nie der Messe untergekommen ist. Per Regierungsprogramm sind 150 Bücher übersetzt worden. Wie will Argentinien sich denn zeigen, welches Bild will man in Frankfurt vermitteln?

Bosshard: Ja, dem kann ich aus Verlegerperspektive erst mal nur beipflichten. Das Programm ist sehr spät angelaufen, aber es hat wirklich funktioniert, das ist wirklich nahezu einzigartig je nachdem, wie man es jetzt zählt. Die Argentinier selbst sprechen noch ein bisschen ja von mir aus 150 Büchern wie auch immer dort man jetzt nimmt. Es sind wirklich 60 Bücher ins Deutsche – das Programm war international, also in alle Sprachen –, aber von der Gesamtzahl wurden 60 neue Bücher ins Deutsche übersetzt, und da zähle man jetzt die jetzt mal gar nicht mit, die keine Übersetzungsförderung gekriegt haben, möglicherweise auf anderem Wege auch den Weg in den deutschen Markt gefunden haben. Also das ist wirklich eine beträchtliche, beeindruckende Zahl, und es bleibt zu hoffen nach diesem wirklich fulminanten Auftakt Auftritts Argentinien, dass dieses Programm, das extra für die Buchmesse, für den Buchmessenauftritt gebildet worden ist, dass das auch irgendwie weitergeführt werden kann.

Karnofsky: Also es soll ja weitergeführt werden, behauptet jedenfalls die Gerüchteküche, dass es beibehalten werden soll, weil man spürt, was das auch für einen Aufschwung für Argentinien, für argentinische Autoren und so weiter bringt.

Heise: Wenn man mal unsere Debatte in Deutschland um Migranten und Integration noch im Ohr hat, dann kann man sich ja eigentlich genau darüber freuen, wenn wir davon mehr lesen von dieser Einwanderernation Argentinien. Damit haben ja auch die Organisatoren, die argentinischen, geworben, mit diesem Aspekt Einwanderernation, oder?

Karnofsky: Also mir ist das so nicht bekannt, aber wenn wir über die Einwanderernation sprechen, schauen Sie sich allein die 60 Titel, die Herr Bosshard erwähnt hat an, die Namen der Autoren: Die heißen Tabarovsky, die heißen Pauls, die heißen Kohan, also da sehen Sie schon, die kommen aus Polen, oder ihre Vorfahren, die kommen aus Deutschland, die kommen ja aus ganz Europa oder haben indigene Vorfahren – weniger –, aber sie sind alle Argentinier. Und das, wenn wir auf unsere Diskussion hier, die im Moment läuft, schauen, in Argentinien glaube ich hat es nie eine Frage gegeben. Wenn ich dort einwandere, wandere ich dort ein und dann bin ich auch Argentinier. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich in der zweiten Generation nicht voll als Argentinier gefühlt hätte, und sie fühlen sich auch wenn sie Autoren sind als argentinischer Autor.

Bosshard: Also das offizielle Motto der Argentinier hier lautet ja "Cultura en movimiento", also "Kultur in Bewegung". Das ist, der Name ist natürlich Programm in der Hinsicht. Es ist in der Tat eine sehr dynamische Gesellschaft immer gewesen und ich würde das sehr gerne eigentlich auch ja auf den Leser ausweiten. Argentinien ist wirklich ein Einwanderungsland auch was die Literatur anbelangt, man kann, es ist ein Eingangstor, Einfalltor für einen ganzen Kontinent, den man neu entdecken kann. So nach den Boomzeiten der lateinamerikanischen, südamerikanischen Literatur ist das glaube ich ein sehr guter Augenblick, jetzt über Argentinien – da ist eine geographische, historische Linie da, weil halt einfach viele Europäer dort hingegangen sind – und von dort aus als erste Station dann vielleicht auch in andere Literaturen und Länder Südamerikas wieder einzutauchen. Das ist natürlich eine schöne Konstellation.

Heise: Über das Buchmessen-Gastland Argentinien spreche ich im Deutschlandradio Kultur mit Eva Karnofsky und Marco Bosshard. Herr Bosshard, die Rolle der Vergangenheit, die Aufarbeitung der Militärdiktatur, das ist ja ein immer wiederkehrendes Thema in der argentinischen Literatur, auch jetzt auf der Buchmesse stark vertreten. Welche Entwicklung sehen Sie da über die Jahre?

Bosshard: Ja, also man kann, wenn man jetzt wollte – das ist gerade im spanischsprachigen Raum doch recht häufig jetzt die ganzen Autoren nach Generationen einteilen. Es ist natürlich erst einmal klar, dass das Problem der Zeitzeugen sich auch in der Literatur widerspiegelt. Also wir sind doch jetzt schon ein bisschen weiter von diesen Geschehnissen entfernt, und man kann das sehen. Es gibt gewissermaßen so jetzt eine mittlere Generation, die höchstens noch aus der Kinderperspektive dieses ganze Phänomen der Verbrechen der Militärdiktatur und so weiter schildern kann. Das geht gerade noch so, aber wir sind gewissermaßen gerade jetzt am Übergang zu einer neuen Generation von Autoren, die jetzt gewissermaßen höchstens noch über die eigenen Eltern schreiben kann und das auf diese Art und Weise aufarbeitet. Da ist natürlich sehr viel mehr Distanz mittlerweile drin. Und ich denke auch, dass das über kurz oder lang zu anderen Formen mit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führen wird.

Karnofsky: Man sieht das auch schon. Es gibt Autoren, die eben versuchen zu ergründen literarisch, wie kam es eigentlich dazu und wie kann man so was verhindern, was ist mit unserem Erziehungssystem passiert, dass also die Menschen bei uns im Lande so gepolt waren, dass sie das zugelassen haben? Also was Herr Bosshard gerade sagt, zeichnet sich schon ab, im Moment ist aber glaube ich die Stärke, oder am stärksten die Aufarbeitung dessen, was die Eltern erlebt haben, beziehungsweise auch was man als Kind erlebt hat. Also wie wirkte auf Kinder diese Diktatur, was hatte sie auch vor allem für Folgen, also die Spätfolgen der Diktatur sind heute auch sehr stark in der Literatur präsent. Diese Fragen werden jetzt gestellt.

Heise: Werden jetzt gestellt und werden auch genau so gelesen und diskutiert im Land?

Karnofsky: Ja, die werden so gelesen und diskutiert. Also ich haben einen Zug durch die Buchhandlung gemacht und mir sagte ein Buchhändler: Also das ist Mund-zu-Mund-Propaganda, es gibt eine Generation der 40- bis 60-Jährigen, also der Zeitzeugen, die es erlebt haben – sowie ein neuer Band zur Diktatur erscheint, kommen die bei mir in den Laden und kaufen das. Und ein anderer Buchhändler sagte mir, also mein Eindruck ist, es gibt überhaupt keinen argentinischen Autor, der nicht mindestens ein Buch zur Diktatur geschrieben haben muss.

Heise: Bei Wagenbach, Herr Bosshard, erscheint ja auch eine Anthologie jüngerer und jüngster Autoren. Was ist denn zu dieser jüngsten Literaturszene Argentiniens zu sagen, ist da auch beispielsweise diese Auseinandersetzung, über die wir gerade gesprochen haben, das Hauptthema?

Bosshard: Vielleicht nicht unbedingt das Hauptthema, aber es gibt natürlich Autoren, wenn Sie jetzt von der Anthologie sprechen, Félix Bruzzone beispielsweise ist genau so eine Konstellation, der Autor engagiert sich auch in diesen Angehörigenorganisationen, nun gut. Auf jeden Fall, es ist aber nicht das einzige Thema in der Hinsicht. Was man aber wirklich feststellen kann – und das finde ich eine sehr angenehme Erscheinung: Es ist eine sozial und politisch sehr engagierte Literatur, egal worüber man schreibt. Und also es ist sehr viel politischer konnotiert als die Mehrheit hierzulande. Und das finde ich eine sehr doch angenehme Angelegenheit.

Karnofsky: Das stimmt, ja.

Heise: Vom Stil her, müssen sich die Jüngeren da eigentlich sehr stark absetzen von diesem berühmten südamerikanischen magischen Realismus?

Bosshard: Müssen sie, das haben sie aber schon längst getan. Ich glaube, das ist für die wenigsten ein Thema, die sich da abgrenzen, zu können oder zu müssen. Das machen sie, wenn sie das tun, machen die das auf eine sehr charmante Weise. Es gibt ganz viele Parodien und Anspielungen auf die Tradition des magischen Realismus, aber gerade daran sieht man, dass dieses Paradigma mittlerweile wirklich passé ist.

Karnofsky: Aber was man eben doch noch findet an Rückgriff auf die Tradition des Fantastischen, wie Borges und Quiroga sie ja sozusagen geprägt haben, das ist schon ganz stark auch bei ganz jungen Autoren. Also dieses leichte Abheben von der Realität ins Fantastische, wo der Leser nicht so merkt, na ja, wo fängt er denn nun an abzuheben? Also das finden Sie sehr viel. Und ansonsten ist die junge Literatur auch stark geprägt von einer Mediensprache, von kurzen Sätzen wie man sie in E-Mails verwendet, und vieles von der Blogsprache und so weiter.

Heise: Vieles, was wir jetzt kennenlernen werden über die nächsten Tage während der Frankfurter Buchmesse. Ich bedanke mich recht herzlich bei Ihnen, bei der Literaturkritikerin Eva Karnofsky und bei Marco Bosshard, Lektor von Wagenbach. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen auf der diesjährigen Buchmesse!

Bosshard: Danke schön!

Karnofsky: Danke!
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