Die Ästhetik der Natur

29.03.2011
In der Tierwelt sind es fast immer die Männchen, die für Prachtentfaltung zuständig sind. Beim Menschen aber wurden die Frauen zum "schönen Geschlecht". Warum das so ist, erklärt Josef H. Reichholf in seinem faszinierenden Buch über die Schönheit in der Natur.
Wozu schön? Diese Frage stellte sich schon Charles Darwin während seiner Forschungsreise mit der "Beagle". Überwältigt von den bizarren Gestaltungen der Lebewesen, ihrem Reichtum an Formen und Farben, konnte er kaum begreifen, warum "soviel Schönheit für sowenig Zweck" erschaffen worden sein sollte. Bis er eine Idee hatte. Seitdem denken Biologen beim Thema Schönheit immer nur an eines: die "sexuelle Selektion".

Schönheit, so die erste Einsicht, die man in Josef H. Reichholfs neuem Buch gewinnt, gibt es nicht bloß im Auge des menschlichen Betrachters. Sie muss in elementarer Form auch für die Tiere eine Rolle spielen, denn sonst bliebe ihre Prachtentfaltung unverständlich. Wer etwa meint, dass der Anblick eines Pfauenrades nur für Menschen ästhetischen Reiz bietet, müsste an einen gütigen Schöpfer glauben, der die Natur als Veranstaltung für uns Spätkömmlinge aufs Schönste eingerichtet hat. Nein, dieser exquisite Federschmuck ist für den wohlgefälligen Anblick der Pfauenhenne bestimmt.

Schönheit macht auffällig und angreifbar, sie ist ein Risikofaktor. Wie ist das zu vereinbaren mit dem evolutionären Modell der Anpassung an die Umwelt? Reichholf käut nicht nur den Stand der Forschung wieder; er ist ein Zusammenhangsdenker, der eigene, auch eigensinnige Thesen entwickelt. Hier stellt er der Theorie der Anpassung und ihren vermeintlichen "Notwendigkeiten" ein geradezu freiheitliches Modell der biologischen "Spielräume" gegenüber.

In der Tierwelt sind es fast immer die Männchen, die für Prachtentfaltung zuständig sind; die Weibchen bleiben unauffällig, bei den Enten schon aus dem Grund, um das Nest nicht zu verraten. Beim Menschen aber wurden die Frauen zum "schönen Geschlecht" oder zumindest zu jenem, das im Durchschnitt mehr Schönheitsanstrengung betreibt. Deutlicher werden sekundäre sexuelle Merkmale ausgestellt; es gilt so lange wie möglich, den jugendfrischen Eindruck zu behaupten. Wieso diese merkwürdige Umkehrung der biologischen Normalität?

Ein Befund aus der Tierwelt sagt: Sind die Männchen besonders prächtig, bleiben die Weibchen meist allein für die Aufzucht der Jungen zuständig. Die Männchen begnügen sich mit Rivalenwettbewerb und Spermienproduktion. Kein Nachwuchs aber ist so kompliziert und langwierig großzuziehen wie das Menschenkind. Unter natürlichen Gegebenheiten sind stabile Paarbeziehungen dafür eine Voraussetzung, so Reichholf. In diesem Zusammenhang hat die Sexualität einen neuen Zweck bekommen: Sie dient nicht nur kurzfristig zur Befruchtung von Eizellen, sondern als "Belohnungssystem" zur Festigung der Paarbindung. Der weibliche Schönheitsaufwand soll nicht nur einen Partner anziehen, sondern "ihn" auch langfristig halten und zu "Investitionen" bereit machen.

Wer sich dieses erkenntnisträchtige Buch vornimmt, sollte sich schon ein wenig für Entenerpel, Birkhahnbalz und Hirschgeweihe interessieren. Wer endlich einmal genau wissen will, wie die Natur die Vogelfeder hervorgebracht hat und welche Abbaumaterialen des Körpers sie dabei zweitverwertet hat, wird von Reichholf faszinierend belehrt. Hier ist ein Autor zu preisen, der die Leser wirklich klüger macht und sie an seiner Naturfaszination und seinem gewaltigen Beobachtungsschatz teilhaben lässt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Josef H. Reichholf: Der Ursprung der Schönheit
C. H. Beck, München 2011
303 Seiten, 19,95 Euro