Dick und stolz darauf

Übergewichtige wehren sich gegen Diskriminierung

Die Sängerin Beth Ditto bei einem Auftritt in Toronto.
Die Sängerin Beth Ditto gilt als dick - aber ihr ist es egal. Die Frontfrau der Band Gossip wurde unter anderem durch die Unterstützung von Karl Lagerfeld auch zur Mode-Ikone.* © dpa
Von Anna Bilger · 19.09.2016
Weiß, mager, makellos - das ist die Norm. Wer da nicht mitmacht, wird ausgegrenzt. Viele Übergewichtige wollen sich das nicht länger gefallen lassen und zeigen, dass auch dicke Körper schön und liebenswert sind.
"Machst Du eigentlich Sport?", "Willst Du nicht lieber etwas Weiteres tragen?", "Aber ein hübsches Gesicht hast Du ja."
Dass der eigene Körper beleidigt und von anderen bewertet wird, daran müssen sich Dicke schon früh gewöhnen. Schon seit Jahren kämpft das Fat Acceptance Movement in den USA gegen diese Diskriminierung, nun setzen sich auch in Deutschland Bloggerinnen, Modemacherinnen und Aktivisten für einen positiven Umgang mit dem Dicksein ein.
Sie wollen zeigen, dass unsere Gesellschaft dickenfeindlich ist, geprägt von einschränkenden Idealbildern. Und dass man dicke Körper ganz anders sehen kann: als schön und liebenswert.

Manuskript zur Sendung:
Ein Laden in der Berliner Grolmannstraße. Raue Wände, große Spiegel, leise Popmusik - neben Kleidern gibt es auch ausgewählte Bücher und Kosmetikprodukte. Der ‚Les Soeurs Shop’ ist ein sogenannter Concept Store, ein Laden also, der einen ganzen Lifestyle repräsentiert. In Berlin gibt es davon viele, doch dieser ist besonders.
Bei Julia Böge und ihrer Geschäftspartnerin dreht sich also alles um Frauen mit Kurven, Frauen mit großen Größen, um dicke Frauen.
Caterina Pogorzelski steht an einem der Kleiderständer und lässt sich von Julia Böge Kleider für den Herbst und Winter zeigen.
Ein silbernes knappes Kleidchen, enganliegend. Caterina Pogorzelski schaut prüfend. Sie liebt Mode, sie hat nichts gegen kurze Kleider, aber dieses gefällt ihr nicht. Die Dame ist ein Plus-Size-Model, sie trägt Kleidergröße 46/48.
Plus Size – so heißen Kleidungsgrößen für Frauen jenseits der Größe 44.
Auf ihrem Blog megabambi.de schreibt Caterina Pogorzelski über Styles, Outfits und Bademoden. Sie hat lange blonde Locken, ein herzliches Lachen, und sie hat das, was man eine Sanduhr-Figur nennt: große Brüste, schmale Taille, üppige Hüften. Ihren Blog begonnen hat sie, weil sie immer wieder Komplimente bekommen hat.
Also hat sie beschlossen, andere zu ermutigen. Sie ist Plus-Size-Modebloggerin, die sich in den letzten Jahren im Internet etabliert haben. Sie postet Fotos von sich in verschiedenen Outfits und will damit die Sehgewohnheiten ändern:
"Es ist schon so, in dem Moment wo ich sage, ich zieh mir ein rotes enges Kleid an, trage High-Heels, und zieh mir noch einen roten Trenchcoat über, style mich gut und mache meine Haare: Es guckt jeder! Weil man es nicht gewohnt ist, dass eine Plus-size-Frau, eine dicke Frau, egal wie wir es nennen, durch die Straßen geht."

"Sie gucken sowieso"

Eine dicke Frau, die ihren Körper mag? Die sich selbstbewusst präsentiert? Die statt Jogginghose und Strickzelt figurbetonte Kleider und Designerstücke trägt?
"Der entscheidende Knackpunkt ist dann irgendwann zu denken, sie gucken sowieso! Weil du eben nicht die Norm bist. Und dann ist es für mich die Entscheidung gewesen zu sagen: Ja dann gucken sie, aber ich sehe zumindest geil aus!"
Wer dick ist, fällt auf und aus der Norm. Und widerspricht dem vorherrschenden Körper- und Leistungsideal. Dicke gelten als unattraktiv, als unsportlich, als faule Versager – schließlich könnten die Dicken ja einfach Sport machen, sich disziplinieren und abnehmen. So lauten die gängigen Vorurteile. In den USA gibt es dafür bereits einen Begriff: Fat Shaming.
Fat-Shaming: Jemanden durch Beleidigungen oder Witze herabsetzen, weil man ihn oder sie für fett oder übergewichtig hält. Es beinhaltet die Idee, dass dicke Körper faul, ekelhaft oder wertlos seien und nicht genauso schön und gesund wie andere Körper.
Die Vorurteile liegen tief, das zeigen verschiedene Studien. So sagt die Mehrheit der Befragten in einer Studie des IFB Adipositas-Erkrankungen in Leipzig: Wer fettleibig ist, ist selber schuld. Die Befragten bewerten außerdem den Charakter dicker Menschen besonders negativ. Andere Studien zeigen, schon Kinder haben diese Vorurteile verinnerlicht.
Friedrich Schorb, Soziologe an der Universität Bremen: "Es gibt so experimentelle Studien, wo Kindern Silhouetten von Personen gezeigt werden im Rollstuhl oder dick oder eben mit anderer Hautfarbe und wo dann gefragt wird 'Wen hättest du am liebsten oder am wenigsten als Freund?' Da schneiden die dicken Kinder regelmäßig am schlechtesten ab."
Magda Albrecht: "Ich habe sehr früh gespürt, dass andere Menschen meinen Körper bewerten, dass sie ihn negativ abwerten, dass ich ihn verändern soll und das ist natürlich eine krasse Differenzerfahrung, dass man nicht so gut, nicht so richtig wie die anderen Kinder ist."
Sich selbst zu mögen, ihren dicken Körper zu feiern - das musste Magda Albrecht lernen. Sie sitzt in einem Park in Berlin Friedrichshain, trägt ein buntes Kleid, ihre Haare hat sie knallrot gefärbt. Ihre erste Diät hat sie gemacht, bevor sie eingeschult wurde, immer wieder war sie in Diätcamps. Doch irgendwann war Schluss mit dem Selbsthass.
Magda Albrecht kämpft jetzt für "Fat Acceptance".
Fat Acceptance oder Fat Empowerment: Eine soziale Bewegung, die sich für die gesellschaftliche Akzeptanz von dicken Menschen und ihren Rechten einsetzt.
Magda Albrecht: "Es ist schon allein politisch 'Ich bin fett oder ich bin dick' zu sagen und auch mit einer Prise Stolz, weil die meisten Menschen gar nicht gewöhnt sind, dass ich diesen Satz froh und stolz ausspreche, weil Dicksein so negativ konnotiert ist, dass die meisten Leute die Worte nicht für sich benutzen."
Magda Albrecht nennt sich Fettaktivistin, sie gibt Workshops zu Körpernormierungen, sie bloggt auf einem feministischen Gemeinschaftsblog. Sie will dem gängigen Schönheitsideal etwas entgegensetzen – denn das ist gerade für Frauen sehr einengend.
"Es liegt an sexistischen Strukturen – ganz klar. Ich denke, dass Frauen sehr viel stärker nach ihrem Äußeren beurteilt werden. Es liegt daran, dass man dickeren Männern eher zugesteht kompetent zu sein und man bei dickeren Frauen stärker hinschaut, um einen Makel zu finden."

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist zu dick

In Deutschland ist die Mehrheit der Menschen zu dick, sagen verschiedene Studien. Zum Beispiel eine Erhebung des Robert Koch Instituts von 2012.
Demnach sind 67 Prozent der Männer übergewichtig, davon 23 Prozent fettleibig. Bei den Frauen sind es 53 Prozent mit Übergewicht, davon knapp 24 mit Fettleibigkeit.
Doch was gilt als zu dick und was ist noch normal – und wer entscheidet das eigentlich? Wer legt fest, wie breit die Sitze in einem Flugzeug oder im Bus sein dürfen? Warum ist ab Größe 42/44 bei vielen Modelabels Schluss, obwohl doch die Mehrheit der deutschen Frauen eine größere Größe brauchen würde? Es sind Fragen wie diese, die die Fat Acceptance Bewegung stellt.
Ein zentraler Kritikpunkt: der Body Mass Index, kurz BMI.
Body Mass Index: ein häufig genutzter Indikator um einen zu hohen Körperfettanteil zu bestimmen. Er wird errechnet in dem das Körpergewicht durch die Größe zum Quadrat geteilt wird.
Seit dem Juni 1997 gilt ein BMI zwischen 18.5 und 25 als normalgewichtig, ab einem BMI von 25 ist man übergewichtig und ab 30 dann adipös, also fettleibig. Denn der BMI wird damals als Maßeinheit von der Weltgesundheitsorganisation auf einer Tagung festgesetzt, um eine einheitliche und leichte zu erstellende Formel für Übergewicht zu finden. Mittlerweile orientieren sich weltweit nahezu alle staatlichen Gesundheitsorganisationen am BMI. Dabei gibt es viel Kritik am BMI.
Friedrich Schorb: "Wenn wir vom Risiko des Körperfetts sprechen und das isolieren möchten, dann muss man natürlich wissen, dass der BMI nicht den Körperfettanteil misst, sondern nur das relative Körpergewicht, das bedeutet insbesondere muskulöse Personen, haben einen relativ hohen BMI aber einen geringen Körperfettanteil."
Sylvester Stallone oder Boxer Vladimir Klitschko zum Beispiel sind demnach übergewichtig. Und der BMI berücksichtig auch nicht, wo das Fett sitzt: ein dicker Bauch gilt als schädlicher als ein dicker Po.
Dass die Einteilung der BMI- Kategorien zudem recht willkürlich und interessengeleitet sind, das zeigt der Soziologe Friedrich Schorb in seinem Buch "Dick, doof, arm? Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert".
So war bis Mitte der 90er Jahre zum Beispiel in den USA ein BMI von 27,5 die Stufe zum Übergewicht. Dann wurde auch in den USA 1998 der Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation übernommen. Über Nacht wurden damit 35 Millionen Amerikaner übergewichtig, die zuvor als normalgewichtig galten.
Schorb: "Es ist richtig, dass in der Vergangenheit die Pharmafirmen sehr stark daran interessiert waren - das ist gerade für die USA und die Weltgesundheitsorganisation gut belegt -, diese Grenzwerte sehr niedrig zu halten, insbesondere diese Kategorien für Übergewicht beim BMI 25 bis 30, wo die Mehrheit der Bevölkerung in allen großen Industrieländern darunterfällt."
Doch was ist mit den zahlreichen Studien zu den Gesundheitsgefahren bei Übergewicht?
Insbesondere Fettleibigkeit ab einem BMI von 35 begünstigt das Entstehen von Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck, die das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöhen. Auch einige Krebsarten kommen unter Erwachsenen mit einem BMI über 30 vermehrt vor. Das gilt unter anderem für Dickdarm-, Bauchspeicheldrüsen- und Nierenkrebs. Darauf weist das Robert Koch Institut in seinem Bericht zur Gesundheit in Deutschland von 2015 hin.
Klar ist auch: Sehr dicke Menschen sind körperlich sehr beansprucht, müssen sich oft im beruflichen und privaten Leben stark einschränken.

Beim Übergewicht genauer hinschauen

Seit Jahren häufen sich die Meldungen: Immer mehr Menschen werden immer dicker. Das Übergewicht gilt vielfach als Epidemie, die unser Gesundheitssysteme an die Belastungsgrenzen bringt.
Friedrich Schorb, der Soziologe von der Universität Bremen, hält das für hysterisch und plädiert dafür genauer hinzuschauen.
"Die Frage ist ja: Ist es gesundheitlich so problematisch? Und da gehen eben die Ergebnisse stark in die Richtung - also auch große epidemiologische Studien - stark in die Richtung zu sagen, dass Übergewicht - dieser Bereich für BMI 25 bis 30 und auch die moderate Adipositas von 30 bis 35 bei Frauen möglicherweise bis 40 - statistisch nicht relevant ist, nicht problematisch und es insofern Unsinn ist, das als Krankheit zu bezeichnen."
Das Übergewicht nicht zwangsläufig zu einem größeren Sterblichkeitsrisiko führt, belegt etwa eine Übersichtsstudie der amerikanischen Epidemiologin Katherine Flegal aus dem Jahr 2014. Sie hat die Daten von knapp 3 Millionen Menschen ausgewertet und kann zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben für übergewichtige Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 30 in einem bestimmten Zeitraum sechs Prozent niedriger liegt als bei normalgewichtigen Menschen.
Natalie Rosenke: "Völlig unabhängig davon ist ja diese gesamte Gesundheitsdiskussion keinerlei Rechtfertigung um jemand zu diskriminieren."
Natalie Rosenke ist die Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Für sie und viele andere bleibt die Frage: Selbst wenn? Selbst wenn Dicke früher sterben oder ein größeres Risiko für bestimmte Krankheiten haben – so gibt es doch keinen Grund, Dicke zu verurteilen und sie als hässlich abzustempeln.
Seit mehr als zehn Jahren engagieren sich Natalie Rosenke und die Gesellschaft für Gewichtsdiskriminierung dafür, dass gerade im Bereich der Gesundheitsversorgung weitverbreitete Vorurteile abgebaut werden. Zum Beispiel bei Ärzten:
Natalie Rosenke: "Es ist tatsächlich so, und Studien zeigen es auch, dass ein hoher Grad an Ablehnung einfach aus Vorurteilen seitens der Ärzte besteht. Und es ist natürlich doppelt schwer, dagegen anzukommen, wenn die Situation ist, dass man in die Arztpraxis kommt und die noch nicht mal auf einen dicken Menschen vorbereitet ist."
Etwa weil es keine geeigneten Stühle für Dicke gebe oder keine passenden Blutdruckmanschetten. Oder weil Ärzte jedes Leiden von Dicken in erster Linie dem Gewicht zuschreiben würden.
Haben die gesundheitlichen Probleme von dicken Menschen also auch etwas damit zu tun, dass sie gesellschaftlich stigmatisiert werden?

Negatives Selbstbild und erhöhtes Depressionsrisiko

Eine weitere Studie des IFB in Leipzig zeigt: Übergewichtige haben starke Minderwertigkeitsgefühle und ein schlechtes Körpergefühl. Sie verinnerlichen die negativen Urteile anderer als Selbstbild – und haben ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko eine Depression zu entwickeln.
Wie die Dicken gesellschaftlich wahrgenommen werden, beeinflusst ihre Gesundheit, ist auch Friedrich Schorb überzeugt:
"Dass Diskriminierung krank macht, das wissen wir alle. Es reicht schon die Stigmatisierung beim Arzt oder der Ärztin, die dazu führt - dafür gibt es viele Studien auch für Deutschland - die dazu führt, dass dicke Menschen seltener zum Arzt gehen, häufiger dann erst wenn die Krankheiten schon fort fortgeschritten sind und dass sie Vorsorgeuntersuchungen seltener wahrnehmen. Also, sie haben eine ganz direkte Auswirkungen auf die Gesundheit durch die Stigmatisierung und nicht durch das hohe Gewicht an sich."
Auch in Fitness-Studios und beim Sport werden Dicke vielfach diskriminiert, das hat die amerikanische Aktivistin Ragen Chastain immer wieder erfahren. Ragen Chastain hat schon immer gerne Sport getrieben, war Cheerleader und in einer Volleyballmannschaft. Sie hat trotz ihres Übergewichts im Jahr 2013 zum ersten Mal an einem Marathon teilgenommen - und auch wenn sie Letzte wurde, trainiert sie nun für einen besonders harten Triathlon, den Ironman in Arizona, im November diesen Jahres.
Ragen Chastain: "Ich werde oft schlecht behandelt: Leute haben mir aus ihren Autos hinterhergebuht – und manche haben mit Eiern und Flaschen nach mir geworfen, wenn ich mein Lauftraining absolviert habe. Es ist nicht immer eine sehr freundliche Welt. So geht es mir bei meinem Aktivismus rund um Fitness und Sport darum zu sagen: Niemand muss Sport treiben, aber Menschen aller Gewichtsklassen sollten willkommen sein."
Ihren Weg in die Fat-Acceptance-Bewegung findet Ragen Chastain, als sie an einem Standardtanz-Wettbewerb teilnimmt. Tanz ist ihre große Leidenschaft, es gibt ein Video von ihr auf Youtube: Selbstbewusst und elegant wirbelt sieht übers Parkett. Doch die Punktrichterin beim Wettbewerb kann nur eines sehen: die Spaghetti-Träger von Ragen Chastains Kleid und ihre fetten Arme.
"Da war diese Punkrichterin und sie sagte immer wieder: Ich kann es nicht ertragen, dich anzusehen! Und in diesem Moment habe ich begriffen, es ist nicht nur etwas Persönliches, sondern fette Menschen als Gruppe, als Gemeinschaft, werden stigmatisiert und unterdrückt. Ich wollte eine dicke Tänzerin sein, aber ich musste erst Fettaktivistin werden, um das hinzubekommen."
Mittlerweile hat die US-Amerikanerin ein Forum für fitte Dicke mitgegründet, sie hält Vorträge, sie hat Bücher zum Thema geschrieben. Und sie ist Gründerin und Organisatorin einer Konferenz zu Fatactivsm,
Die Fat-Acceptance-Bewegung versteht sich in den USA als Bürgerrechtsbewegung und ist mittlerweile groß.
Ragen Chastain: "Es hat alles um 1969 begonnen, mit einer Gruppe von Leuten mit den Namen 'Fat Underground' – das war die erste organisierte Gruppe, hier in San Francisco, und sie haben eine Menge gemacht: Performances, Lesungen, haben für Bürgerrechte gekämpft. Damit ging es los und seitdem ist es gewachsen."
Die Bewegung ist in verschiedenen Wellen verlaufen, seit Beginn der 2000er Jahre spricht man von der dritten Welle, die dank Blogs, Foren und Internetseiten an Fahrt aufgenommen hat und auch nach Deutschland und Europa geschwappt ist: Die "Fatosphere" ist entstanden.
Fatosphere: Die Online-Community dicker Menschen, die sich für Fat Acceptance einsetzen.
Vorreiterinnen in dieser Sphäre sind etwa das dicke Model Tess Holliday, der 1,3 Millionen Menschen auf Instagram folgen und die die Kampagne mit dem Hashtag #effyourbeautystandards ins Leben gerufen hat. Oder die dicke lesbische Sängerin Beth Dito der Band The Gossip, die Chanel-Chefdesigner Karl Lagerfeld zur Muse erkoren hat.
Wie wir unsere Körper präsentieren und wahrnehmen – das rückt immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Mainstream-Ideal ist klar: Schlank, muskulös, makellos. Jedes Jahr werden Millionen für Diätprodukte ausgeben. In Zeitschriften sind die Models - also die Idealbilder - im Lauf der Jahre immer dünner geworden. Und in Zeiten von low carb, vegan und bio ist unser Essen – also das was wir unserem Körper zuführen - zur Ersatz-Religion geworden.
Eva Barlösius: "Der Körper ist zunehmend das Produkt meiner eigenen Arbeit, meiner eigenen Selbstkontrolle geworden. Er ist geradezu ein Statussymbol geworden, womit ich im Grunde meine Haltung und sagen wir mal auch meine Fähigkeit erfolgreich zu sein in dieser Gesellschaft dokumentiere."
Eva Barlösius ist Professorin für Soziologin an der Universität Hannover. Sie hat über die Soziologie des Essens geschrieben und über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Dicksein geforscht.
Sie beobachtet, dass die Gesellschaft den Dicken zunehmend abspricht bestimmte Berufe ausüben zu können: So finden sich etwa im Managementpositionen kaum dicke Menschen. Dicke haben bei Bewerbungsgesprächen schlechtere Chancen, ihnen werden keine Führungsqualitäten zugetraut.
Es werde immer wichtiger, als repräsentabel und gesund zu gelten, sagt Magda Albrecht:
"Ich glaube, dass in der heutigen Zeit, die neoliberal und kapitalistisch ist und in diesen Strukturen immer mehr geschärft wird, wird die Idee eines fitten, gesunden und arbeitsamen Arbeiters oder Arbeiter immer wichtiger. Wir müssen funktionieren, wir sollen unsere Arbeit richtig und gut machen und da kommen dann Bilder wir schlank sein und gesund sein ganz schnell."
Beispiel: Lehrer und Lehrerinnen. In Deutschland gibt es lange Zeit Probleme bei der Verbeamtung, wenn man einen BMI von über 30 hat. Dann muss der Amtsarzt entscheiden: krank oder nicht? Und im Zweifel muss der Amtsanwärter vor Gericht beweisen, dass er gesund und fit ist.
Mittlerweile hat sich dieses Prozedere geändert, weil sich die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung gemeinsam mit einem Anwalt dafür eingesetzt hat, erklärt Natalie Rosenke:
"Über unsere Argumentation, die sich dann auch in verschiedenen Urteilen in der Begründung wiederfand, ist erreicht worden, dass eine Beweislastumkehr stattgefunden hat. Das heißt, jetzt müsste der Arzt oder der Dienstherr tatsächlich belegen, dass er die Verbeamtung ausschließt. Das heißt, die Chancen eine Klage zu gewinnen, also sich in die Verbeamtung einzuklagen, sind inzwischen unheimlich gut."

Erst abnehmen - dann erfolgreich?

Wie es sich anfühlt, tagtäglich als zu dick wahrgenommen und behandelt zu werden, das wollte die Soziologin Eva Barlösius herausfinden. Und hat eine Studie mit dicken Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien gemacht. Die Ergebnisse haben sie beunruhigt:
"Die Jugendlichen gehen davon aus, dass sie erst eine gesellschaftliche Zukunft - das meint eine berufliche Zukunft, ein erfülltes Berufsleben - haben, dass ihnen das erst möglich wird, wenn sie abgenommen haben. Erst wenn sie abgenommen haben, dann kann ich gut in der Schule sein, erst dann kann ich einen interessanten Beruf ergreifen."
Eva Barlösius sieht darin eine Verschiebung: Es werde nicht mehr über soziale Ungleichheit diskutiert, sondern die Verantwortung an den Einzelnen abgeschoben.
Denn alle Jugendlichen waren auf Haupt- oder Förderschulen und haben in sozial schwachen Gebieten gewohnt. Ihre Chancen auf eine Karriere, auf einen Ausbildungsplatz und Job sind also vor allem aufgrund der Herkunft schlecht.
"Diese Jugendlichen hätten auch wenig Chancen, genauso wenig Chancen wahrscheinlich, wenn sie dünn wären. Aber wir haben ihn die gesellschaftliche Botschaft vermittelt: Die Ursache für deine verminderten Zukunftschancen liegen in deinem Körper, und dass du dick bist, daran bist du selber schuld."
So würden in unserer Gesellschaft Probleme die eigentlich Armutsprobleme sind, an Körpern festgemacht, meint die Soziologin.
Gerade Menschen mit einer sozial schwachen Herkunft haben ein größeres Risiko übergewichtig zu sein, das ist vielfach belegt. Ursachen könnten etwa sein, dass gerade die hochkalorischen Lebensmittel günstiger sind. Und dass Menschen in sozial prekären Verhältnissen sich nicht auch noch beim Essen einschränken möchten.
Insgesamt aber wird die gesunde Ernährung überbewertet und zur Abgrenzung genutzt, sagt Friedrich Schorb. Galt in den 70ern Übergewicht als Volkskrankheit, sei es heute ein Phänomen der "Unterschicht" - der Chips essenden, vor dem Fernseher abhängenden Dicken, deren Problem nicht zu wenig Geld, sondern zu wenig Disziplin und Bildung sei. Eine Gruppe, mit der die Mittelschicht partout nichts zu tun haben möchte, sagt der Soziologe.
Friedrich Schorb: "Den Körper irgendwie außer Kontrolle geraten zu lassen, das ist etwas, was in unserer Gesellschaft wirklich ein Tabu ist. Und da kommen dann solche Ängste hoch, auch gerade in der Mittelschicht, die von Abstiegsängsten bedroht ist, zu sagen: Ja, aber wir bemühen uns, wir sind leistungsfähig, wir sind leistungswillig, und dieses Gewicht ist so ein Symbol dafür, ob man das tatsächlich ist oder nicht."

Das Dicksein hat ein komplexes Ursachengeflecht

Dicksein, Krankheit und Armut als selbstverschuldet zu porträtieren, das passt also in den gesellschaftlichen Zeitgeist von Selbstoptimierung und Eigenverantwortlichkeit.
Dabei ist diese Vorstellung, die Dicken müssten einfach ein bisschen Diät machen und sich ein bisschen mehr bewegen, überholt: Diäten bringen langfristig nichts. Der Prozentsatz der Menschen, die Diät und ihr Gewicht um mehr als fünf Prozent reduzieren und das dann auch tatsächlich mehr als ein Jahr halten, ist verschwindend gering. Das zeigt etwa die Forschung von Martina de Zwaan vom Kompetenznetz Adipositas.
Ob jemand dick ist oder nicht, hängt auch von genetischen Faktoren ab, von der Anzahl der Diäten, die man gemacht hat, vom Stresslevel. Es ist ein komplexes Ursachengeflecht, sagt Soziologe Friedrich Schorb.
Und darauf muss gerade auch in der Gesundheits-Prävention geachtet werden – denn natürlich bleibt es wichtig, Menschen, Kindern und Jugendlichen eine gesunde Ernährung und Spaß an der Bewegung zu vermitteln.
Für Aktivistinnen wie Magda Albrecht, Natalie Rosenke und Ragen Chastain ist daher irgendwann klar gewesen: Sie wollen nicht einem unerreichbaren Idealbild hinterherhecheln, unglücklich sein und sich ständig für etwas hassen, das sie doch nicht schaffen werden. Sondern: Sich und andere Menschen aller Körperformen wertschätzen und dafür sorgen, dass sie nicht mehr herabgesetzt werden.
In den USA gibt es dafür bereits erste Anzeichen: Dort hat gerade eine Aktion des ehemaligen Playmates Dani Mathers für Aufregung gesorgt: Sie fotografierte im Fitness-Studio ungefragt eine dicke Frau unter der Dusche und veröffentlichte das Bild mit einem fiesen Kommentar auf Snap Chat. Kurze Zeit später brach ein medialer Shitstorm über Mathers herein.
Nicht mehr wegen ihres Äußeren diskriminiert zu werden, das wünscht sich Natalie Rosenke. Mit ihrem Verein arbeitet sie daran, Diskriminierung nach dem äußeren Erscheinungsbild in das AGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, aufzunehmen. Und weil das AGG demnächst reformiert werden könnte, sieht Natalie Rosenke gute Chancen.
Auch die Modeindustrie könnte eine Menge beitragen, dass dicke Menschen sich besser fühlen, davon sind Mode-Bloggerin Caterina Pogorzelski und die Inhaberinnen des "Curvy Concept Stores" überzeugt. Ihre Wahrnehmung jedenfalls hat sich grundlegend geändert, sagt Mitinhaberin Jasmin Moallim:
"Seit wir angefangen haben, unsere Augen auf mehr Fett am Körper zu schulen, können wir kaum noch irgendwelche Magazine angucken. Wir können kaum noch ertragen wie dürr die Mädels sind, 14-jährige Mädels für Kampagnen, die 40-Jährige tragen sollen."
Modebloggerin Caterina Pogorzelski hat in diesem Sommer erstmal Bademoden-Fotos von sich ins Netz gestellt. Unretuschiert. Bei Auftragsshootings sind die Fotos von ihr normalerweise nachbearbeitet.
"Die Cellulite ist halt da, so. Und dadurch dass meine Sehgewohnheit ist, ich sehe mich immer retuschiert, war das auch ganz schrecklich. Also, es ist tatsächlich etwas, wenn ich doch immer predige, dass sich die Sehgewohnheiten ändern, werden sie sich nicht ändern, wenn man nur dicke oder Plus-Size-Frauen sieht, die wunderschöne Haut haben – das ist ja total unrealistisch."
Natalie Craig, eine Plus-Size-Fashion-Bloggerin aus Chicago
Natalie Craig, eine Plus-Size-Fashion-Bloggerin aus Chicago© imago / ZUMA Press
Vorurteile und vorschnelle Meinungen abbauen, das ist für Magda Albrecht wichtig. Dann könnte es den Dicken irgendwann so gehen wie etwa den Homosexuellen: Sie zu diskriminieren, wäre gesellschaftlich inakzeptabel. Bis es soweit ist, hat sie für ihren Alltag eine ganz einfache Strategie gefunden: Humor.
"Ich sitze sehr häufig mit Kolleginnen am Mittagstisch und wenn dann darüber gesprochen wird, dass man nicht zu viel Kartoffeln essen soll, weil da so viele Kohlenhydrate drin sind oder die Soße so fett ist, bin ich eine die sagt: 'Geil, ich hol' mir noch drei Kartoffeln, weil das hat richtig lecker geschmeckt.’ Und häufig ist der Humor die Einladung, für andere Leute nachzudenken."
(huc)
*In der ersten Fassung des Beitrags haben wir ein Foto verwendet, das Unterstützerinnen der Kampagne "BodyLove" zeigt. Diese Kampagne steht in keinem Zusammenhang zur Bewegung "Fat Acceptance" und zum Stolz übergewichtiger Menschen, über den wir an dieser Stelle berichten. Wir haben das Bild gegen eines von der Sängerin Beth Ditto getauscht. Die Sängerin gilt als Mode-Ikone und Vorbild für einige Übergewichtige der Bewegung "Fat Acceptance".
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