Dichter mit vielen Gesichtern

Rezensiert von Maike Albath · 29.12.2005
William Butler Yeats' (1865-1939) Werk ist vielgestaltig und widersprüchlich, doch hat auch heute noch großen Einfluss auf zeitgenössische Dichter. Die von Norbert Hummelt besorgte neue Yeats-Ausgabe "Die Gedichte" liefert einen umfassenden Querschnitt durch das Gesamtwerk des irischen Dichters.
William Butler Yeats ist ein Dichter mit vielen Gesichtern. 1865 in Dublin als Sohn eines Malers geboren, sah er sich einerseits als Bewahrer einer archaischen gälischen Kultur, die durch die von England ausgehende gesellschaftliche Modernisierung ins Abseits geraten war. Er wollte auch aus politischen Gründen eine eigene irische Tradition begründen, um auf diese Weise die Unabhängigkeit der Insel zu unterstützen.

Andererseits ist er ein entschiedener Vertreter der Moderne und verarbeitet internationale Einflüsse vom französischen Symbolismus über das japanische No-Drama bis zur indischen Philosophie. Tradition und Mythos, Ratio und bürgerliches Selbstbewusstsein schließen sich für ihn nicht aus, sondern sind Teil eines Ganzen. Vor allem die Verankerung in der keltischen Motivik trägt zu seinem unerschöpflichen Bildervorrat bei.

Die Familie seines Vaters gehörte zur Protestant ascendancy, zur protestantischen Oberschicht, die wesentlich an der irischen Erneuerungsbewegung beteiligt war. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Yeats sowohl in London, als auch im Haus seiner Großeltern im irischen Landkreis Sligo, wo er mit den mythologischen Geschichten von Feen und Zauberern aufwuchs.

Durch seinen Vater mit der Malerei der Präraffaeliten vertraut, entschied sich Yeats für ein Kunststudium und schloss ab 1889 in London Freundschaft mit den fin-de-siècle Schriftstellern Wilde, Symons und Dowson. Sein Frühwerk steht im Zeichen der Spätromantik.

Aber Yeats begnügt sich nicht mit einer Traditionslinie, sondern greift immer wieder neue Formen und Inhalte auf. Seine erstaunliche Vielfalt - sein Werk ist gleichermaßen Teil der Romantik, des Spätviktorianismus und der Moderne - macht ihn zu dem repräsentativen Dichter zwischen 1890 und 1940, was durch die Auszeichnung mit dem Nobelpreis 1932 unterstrichen wurde.

"Myself I must remake" lautet ein Vers aus dem Gedicht Ein Morgen grünes Gras programmatisch, und diese Wandlungsfähigkeit ist ein Kennzeichen seiner Lyrik. In seinen frühen Gedichtsammlungen überwiegen Balladen und Lieder, die keltische Motive vom Zauber bis zu Feengesängen zum Gegenstand haben, die Ausdruck tiefer Lebenswahrheiten sind.

In vielen Formulierungen zeigt sich der träumerische Ästhet ("I am haunted by numberless islands"), und immer wieder ist von vergeblicher Liebe die Rede, wofür es auch eine autobiographische Erklärung gibt: 1891 war Yeats von der Freiheitskämpferin Maud Gonne zurückgewiesen worden, was ihn jahrzehntelang nicht loslässt, literaturgeschichtlich aber positive Auswirkungen hat, denn es führte zu einer Fülle von Gedichten über das Motiv der unerreichbaren Frau.

Noch als Fünfzigjähriger wiederholt er seinen Antrag, fasst schließlich große Zuneigung zu Mauds fünfzehnjähriger Tochter Iseult (An ein junges Mädchen) und trägt ihr die Ehe an, was ihm wieder eine Abfuhr einbringt, bis er 1917 Georgie Hyde-Lees heiratet und mit ihr ein erfülltes Leben teilt.

In seinem Frühwerk ist die Natur Fluchtraum ("Ich steh jetzt auf und gehe nach Innisfree sofort,/ Aus Lehm und Reisig bau ich mir eine Hütte dort", Die Seeinsel von Innisfree), in Pastoralen werden das Landleben und die Macht der Sprache gefeiert, und bestimmte bildhafte Symbole wie Rose, Maske, Schwan, Schwert und Turm tauchen in vielen Variationen auf.

Nach 1900 härtet Yeats seine Sprache: ein ironischer, harscher, unsentimentaler Ton entsteht, in dem Umgangssprache und das Feierlich-Rituelle miteinander verschmelzen. Die Lebensnähe nimmt zu, und spätestens mit den Sammlungen Verantwortungen (1914) und Die wilden Schwäne auf Coole (1917), die als Höhepunkte seines Schaffens gelten, liegt die Rhetorik der Sehnsucht hinter ihm.

In den zwanziger Jahren dominieren klare und nüchterne Verse (Neunzehnhundertneunzehn), ohne dass sein ursprünglicher Kraftquell der Mythologie verloren ginge. Der späte Yeats hegt eine Vorliebe für dunkle Gedichte, was aus seiner Faszination für den Okkultismus herrührt. In Das zweite Kommen zum Beispiel geht es um einen Falken, der sich nicht mehr nach dem Ruf des Falkners richtet, sondern sich der Ordnung entzieht, was im Motiv des kreisenden Kegels niederschlägt. Die Welt des Geistes spendet neue Bilder und bietet Orientierung.

Yeats, der das erste irische Nationaltheater in Dublin gründete, auch als Dramatiker wirkte, zeitweilig Senator war und 1939 in Frankreich starb, hat einen großen Einfluss auf zeitgenössische Dichter gehabt. Seine Strahlkraft nahm in den vergangenen Jahren eher noch zu, was mit seiner faszinierenden Vielgestaltigkeit, den widersprüchlichen Themen und der großen Formstrenge zusammenhängt. Er ist gleichermaßen verklärend, revolutionär, mystisch, ketzerisch und hochpolitisch.

Die von Norbert Hummelt besorgte neue Yeats-Ausgabe Die Gedichte liefert einen umfassenden Querschnitt durch das Gesamtwerk des irischen Dichters, wie es bisher noch nicht vorlag und liefert ein beredtes Zeugnis seiner Ausdrucksfülle.

Bemerkenswert an dem Band ist der Versuch, deutschen Lyrikern jeweils einen Zyklus anzuvertrauen. Ein gelungenes Experiment: Yeats ist zotiger, frecher und witziger geworden, und die Übersetzungen haben gegenüber der bisher vorliegenden, sehr verdienstvollen Ausgabe von Werner Vordtriede an Präzision gewonnen. Wer Yeats entdecken will, ist mit Die Gedichte wunderbar bedient.


William Butler Yeats: Die Gedichte
Übersetzt von Marcel Beyer, Mirko Bonné, Gerhard Falkner, Norbert Hummelt, Christa Schuenke.
Luchterhand Verlag München,
463 Seiten, 19, 90 €