"Deutsches Stallvieh frisst amazonische Lebensvielfalt"

25.10.2013
Wir nutzen "schamlos die Tropenwälder für unsere Zwecke", kritisiert der Wissenschaftler Joseph Reichholf. Ein Großteil der Flächen im Regenwald werde gerodet, um Felder für Biospritpflanzen oder Soja für die Kraftfutterproduktion anzulegen.
Stephan Karkowsky: Ohne Alarmismus gibt es offenbar keinen Naturschutz. Erst wenn wir hören, täglich sterben 74 Arten weltweit aus, dann ahnen wir, irgendwann könnten wir vielleicht selbst an der Reihe sein, und sind womöglich eher bereit, uns zu engagieren. Dass täglich neue Arten entdeckt werden, das macht es kaum besser. Oder vielleicht doch? Fragen wir den Evolutionsbiologen Josef Reichholf, er ist einer der dienstältesten Zoologen Deutschlands. Herr Reichholf, guten Morgen!

Josef H. Reichholf: Einen schönen guten Morgen!

Vegetarische Piranhas und schnurrende Affen

Karkowsky: Der WWF Deutschland hat eine Liste veröffentlicht mit 441 neu entdeckten Arten. Darunter so scheinbar skurrile Tiere wie eine Piranhaart, die entgegen ihrem Mörderimage sich ausschließlich vegetarisch ernährt. Wie ist das zu erklären?

Reichholf: Die grundsätzliche Erklärung ist folgende: In Amazonien sind verwertbare Nährstoffe sehr, sehr knapp. Da herrschen ganz andere Verhältnisse, als wir sie bei uns kennen. Und das bedeutet, dass die dort lebenden Tiere eigentlich alles versuchen müssen, was irgendwie für ihre Ernährung geeignet erscheint, auszuprobieren. Und das tun eben auch Piranhas, indem sie ins Wasser fallende Früchte anknabbern und gegebenenfalls dann über längere Zeiten auch davon leben. Das ist schon seit geraumer Zeit bekannt, aber man wusste nicht, dass tatsächlich manche dieser Piranhas so gut wie ausschließlich von solchen Früchten leben. Früher dachte man, das wäre so nebenbei in der Hochwasserzeit, da sind die Fische, die sie sonst jagen, natürlich sehr weit verteilt im Wasser, schwer zu finden. Und größere Säugetiere gehen ja im Hochwasserfall kaum ins Wasser, sodass die Piranhas besonders hungrig sind. Aber das sind so typisch die Vorstellungen, die man sich macht, wenn man die örtlichen Verhältnisse nicht genau genug kennt.

Karkowsky: Aber Vegetarier brauchen ja eigentlich nicht so ein scharfes Gebiss wie Piranhas. Wenn wir an den Walhai denken, das ist ja ein Riesentier, aber seine Zähne sind nicht das, was man sich darunter vorstellt. Bei einem Piranha denke ich mir, der hat immer diese sägemesserscharfen Zähne im Mund. Damit Beeren essen, das kann doch die Evolution nicht gewollt haben?

Reichholf: Ja, genau das prädestiniert dieses Fischgebiss, um ins Wasser fallende Früchte anknabbern zu können. Die sind zum Teil ja auch sehr, sehr hart. Wenn man so einen Kleinaffen in Amazonien beobachtet, wie er sich bemüht, ein bisschen von dem verwertbaren Fruchtfleisch herunterzubringen, dann könnte man fast Mitleid mit ihm haben und möchte ihm eine Banane reichen, weil es viel einfacher ginge!

Karkowsky: Neue Pflanzen- und Fischarten werden immer mal wieder entdeckt, seltener geschieht das bei den Säugetieren. Aber auch da können wir dank des WWF einen bislang unbekannten Erdenbewohner begrüßen, den schnurrenden Affen. Wissen Sie über den was?

Reichholf: Das ist ein Vertreter der südamerikanischen Kleinaffen, von denen es eine ganze Reihe verschiedener Arten gibt. Und das, was hier als Besonderheit hervortritt, dieses gegenseitige Sich-Beruhigen durch ein katzenartiges Schnurren, ist wiederum ein typisches Beispiel dafür, dass man erst allmählich lernt, die Lebensweise dieser sehr seltenen Kleinaffen kennenzulernen. Wir haben einfach in der Regel keine Vorstellungen davon, wie es sich im amazonischen Regenwald lebt. Und es ist sehr aufwändig, solche Forschungen zu betreiben. Deswegen kommen da oft manchmal für uns recht wundersame Dinge zutage.

Karkowsky: Sie waren selbst lange im WWF aktiv. Nun weist der WWF darauf hin, viele Arten sterben noch vor ihrer Entdeckung wieder aus, weil im Amazonasgebiet jede Minute Wälder verloren gehen in der Größe von drei Fußballfeldern. Was halten Sie von solchen Aussagen?

Reichholf: Dass sehr viel Wald in Amazonien vernichtet wird, das ist eine Tatsache. Das ist ja auch seit Jahrzehnten durch Satellitenfotos klar belegt. Und genauso ist es eine Tatsache, dass ein Großteil dieser Flächen deswegen gerodet wird, weil Soja oder auch Biospritpflanzen angelegt werden, um das deutsche Stallvieh zum Beispiel oder in der Europäischen Union mit Kraftfutter zu versorgen. Also, man kann zwar überspitzt, aber durchaus zutreffend sagen, deutsches Stallvieh frisst amazonische Lebensvielfalt. Und das ist insofern doppelt schlimm, als wir damit ja weltweit Konkurrenz machen jenen Gebieten, auf denen das Vieh, das Fleisch, das gegessen werden soll, auf der Weide produziert wird und nicht im Stall, also auch keine Riesentransporte von Futtermitteln notwendig sind, und zweitens, weil die Folgen davon unser Land belasten in Form von Güllefluten, die bei uns die Lebensvielfalt ebenfalls einschränken oder zerstören. Und deswegen kritisiert der WWF das zu Recht, denn es geht nicht darum, etwa in Brasilien mit Nahrungsmitteln unterversorgter Bevölkerung da neuen Lebensraum zu schaffen. Das ist der geringste Teil, der von den großflächigen Waldvernichtungen profitiert, der weitaus größte Teil geht in den internationalen Handel, in die Sojaproduktion oder zunehmend eben auch in die Biospritproduktion.

Karkowsky: Zu neu entdeckten Arten in Südamerika hören Sie den Evolutionsbiologen Josef Reichholf. Herr Reichholf, nun könnte man sich ja auf den Standpunkt stellen, die Natur wird es schon regeln. Wer ausgestorbenen Tieren wie den Dinosauriern hinterhertrauert, hat das Prinzip Natur nicht begriffen, es entstehen ja auch immer neue Arten. Wie sehen Sie das?

"Hier wird Lebensvielfalt vernichtet"

Reichholf: Dazu kann man ganz klar antworten, die Neuentstehung von Arten dauert tausend- oder zehntausendmal länger als die Vernichtung von Arten. Das heißt, wir sind in der Bilanz ganz klar im negativen Bereich. Und da ist die Tropenwelt besonders hervorzuheben, was ja der WWF zu Recht in diesem Fall auch macht. Denn gerade in den Tropen, in den tropischen Wäldern gibt es eine so immense Artenvielfalt, dass wir uns das hierzulande vor allem mit unseren Kunstforsten als Vorbild kaum vorstellen können. In Amazonien zum Beispiel wachsen nach neuesten Untersuchungsergebnissen 16.000 verschiedene Baumarten auf einer Fläche, die etwa der Größe Europas entspricht. Da haben wir hier je nach Abgrenzung Europas nur ein paar Hundert. Und von diesen 16.000 Arten sind die allermeisten außerordentlich selten. Nur 1,4 Prozent davon entsprechen in ihrer Häufigkeit in etwa europäischen Verhältnissen. Das heißt, von der Mehrzahl, von der ganz, ganz großen Mehrzahl dieser Baumarten wissen wir nur, dass es sie gibt, aber nicht, welche Inhaltsstoffe sie produzieren, welche Fähigkeiten sie besitzen, die vielleicht für uns in der Gegenwart oder in der Zukunft nutzbar wären. Und das ist das, was, wie ich meine, zu Recht beklagt wird, dass hier Lebensvielfalt vernichtet wird, deren Nutz und Frommen wir überhaupt nicht abschätzen können, um eines kurzfristigen Gewinns willen, der vor allen Dingen in die Massenproduktion in den Industriestaaten umgesetzt wird.

Karkowsky: Dass wir also so viele Arten wie nur möglich erhalten wollen, ist nicht nur eine romantische Vorstellung?

Reichholf: Nein, sicher nicht. Denn zu diesen sogenannten genetischen Ressourcen, also zu diesen Eigenschaften, im Fall etwa amazonischer Arten bestehen sie vor allem darin, mit dem Mangel zurechtzukommen. Von diesen genetischen Eigenschaften abgesehen, die wir eben nicht kennen, aber nutzen könnten, sind es auch Aspekte des Funktionierens dieser großen Wälder. Amazonien ist ein wichtiger Bestandteil des Weltklimas und wir wissen längst, dass die Vernichtung der Wälder Einfluss nimmt auf das regionale Niederschlagsregime und, wenn die Entwicklung so weitergeht, auf die globalen Niederschlagsverhältnisse. Wir leisten uns in unserem Land fast ein Drittel Waldfläche und tun alles daran, dass dieser Wald erhalten bleibt, dass er wüchsig bleibt - nutzen aber schamlos die Tropenwälder für unsere Zwecke. Das ist ein ganz allgemeiner Aspekt, der vor Augen führt, dass eigentlich das Prinzip des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts immer noch fortexistiert, nur eben in etwas anderer, in verkleideter Form. Aber im Prinzip gehen wir Europäer und Nordamerikaner genauso vor wie im 19. Jahrhundert.

Karkowsky: Wenn der WWF also nun von 441 neu entdeckten Arten berichtet in den Wäldern Südamerikas, dann ist das für Sie also nicht ein Zeichen dafür, dass die Natur zurückschlägt, sondern nur, dass die Menschen bislang noch nicht ausreichend hingeguckt haben, oder?

Interessieren uns mehr für die "Sterne im Weltall"

Reichholf: Es ist, genau betrachtet, eigentlich sogar ein enttäuschend geringes Ergebnis. Ich hätte mir sehr viel größere Artenzahlen erwartet, die gefunden werden. Und es liegt wahrscheinlich daran, dass nach wie vor viel zu wenig geforscht wird in diesen Gebieten. Die Erfassung der Lebensvielfalt ist uns ja fast nichts wert verglichen etwa mit der Erfassung der Vielfalt der Sterne im Weltall. Da wissen wir besser Bescheid als über die Lebensvielfalt auf der Erde! Und das sind im Hintergrund die Dinge, die eben tatsächlich dann auch Sorgen machen, weil es bedeutet, alles, was sich dem kurzfristigen Gewinn entgegenstellt, das wird dann gering geredet. Man tut so, als ob das doch bedeutungsleer wäre, wenn da in Amazonien irgendeine Wanze ausstirbt, was haben wir schon davon! Mag ja sein, aber das Nicht-Wissen, das rechtfertigt ja nicht die freizügige Vernichtung. Und hinzukommt etwas anderes: Immer wieder wird gerade vonseiten des Naturschutzes auch argumentiert, dass die Artenvielfalt einen Wert an sich darstellen würde. Nun habe ich als Naturwissenschaftler meine Probleme mit Werten an sich. Ist der Kölner Dom von Wert an sich? Für viele Menschen sicher ist er von Wert, klar. Aber eines ist ebenso klar: Die Menschheit würde weiter existieren und es würde ihr in der Zukunft überhaupt nichts ausmachen, wenn der Kölner Dom nicht mehr existieren würde. Trotzdem wäre für uns und für viele andere auch das eine wirklich unfassbare Vorstellung, dass man den Kölner Dom einfach vernichtet. Dabei wäre er ja wieder aufbaubar! Aber die Vielfalt der Arten, die wir vernichten, die lässt sich nicht wiederherstellen. Und dieser Aspekt, dass man das Besondere an den Arten, das vielen Menschen etwas wert ist, gering schätzt, weil einige wenige damit Geld verdienen, sie zu vernichten, das ist etwas, was eben von dieser anderen Seite, die sich nicht naturwissenschaftlich-rational fassen lässt, doch sehr, sehr große Bedenken hervorruft in der Art und Weise, wie wir, wie auch unsere Entwicklungshilfe und der internationale Handel mit diesem Problem der Erhaltung der Lebensvielfalt umgehen.

Karkowsky: WWF Deutschland berichtet von 441 neu entdeckten Arten in den Wäldern Südamerikas. Schnurrende Affen und vegetarische Piranhas sind darunter. Und zur Bedeutung dieser Arten hörten Sie den Evolutionsbiologen Josef Reichholf. Herr Reichholf, Ihnen besten Dank!

Reichholf: Ich danke auch!

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