"Deutsche Titelsucht" hat historische Wurzeln

Paul Nolte im Gespräch mit Christopher Ricke · 23.01.2013
Nirgendwo seien Politiker so bemüht, ihre Karriere mit einem Doktortitel zu schmücken, wie hierzulande, sagt der Historiker Paul Nolte. Im Fall von Bundesbildungsministerin Annette Schavan zweifelt er dennoch an der Verhältnismäßigkeit der Plagiatsvorwürfe gegen sie.
Christopher Ricke: Aus den Vorwürfen wird ein Verfahren: Die Universität Düsseldorf hat das offizielle Verfahren zur Aberkennung des Doktortitels gegen Bildungsministerin Schavan eingeleitet. – Das Verfahren, das ist noch nicht die Aberkennung! Aber es ist natürlich ein Schritt weiter auf diesem Weg. Bruno Bleckmann, der Dekan der Uni gestern Abend:

O-Ton Bruno Bleckmann: Wenn wir als Fakultät substanzielle Anzeichen eines solchen wissenschaftlichen Fehlverhaltens erkennen, müssen wir dem konsequent nachgehen, und zwar unabhängig von der Person und ihrer Position. Das Recht sieht für solche Fälle auch keine Verjährung vor.

Ricke: Bundesbildungsministerin Annette Schavan bestreitet alle Vorwürfe. Sie bekommt auch Hilfe unter anderem aus ihrer eigenen Partei, da gibt es den Ruf nach unabhängigen Experten. Unionsfraktionsvize Kretschmer sagt, es sei höchste Zeit, dass die Uni Düsseldorf endlich einen solchen Rat einhole. Ich spreche jetzt mit Paul Nolte, er ist Professor für neuere Geschichte an der Freien Uni Berlin, gehört zu den modernen Konservativen. Guten Morgen, Herr Nolte!

Paul Nolte: Ja, schönen guten Morgen, Herr Ricke!

Ricke: Halten Sie die Uni Düsseldorf auch für so beratungsbedürftig wie Michael Kretschmer von der CDU?

Nolte: Also, ich habe mich schon etwas gewundert über die Eindeutigkeit auch der Entscheidung in der öffentlichen Diskussion, auch in Fachgutachten und vielen anderen Stellungnahmen haben die Zweifel an der Plagiatsabsicht, an der leitenden Täuschungsabsicht der Ministerin ja zugenommen. Und so spricht ja der Dekan auch in dem, was wir gerade gehört haben, jetzt nicht mehr von einem Plagiat, sondern von einem wissenschaftlichen Fehlverhalten. Trotzdem ist es natürlich konsequent, wenn die Universität Düsseldorf dieses Verfahren verfolgt, da hat man sich auch zusammengetan, die Reihen geschlossen, und selbstverständlich soll diese Prüfung durchgeführt werden, ergebnisoffen.

Ricke: Jeder Student lernt schon ganz am Anfang seines Studiums, wie man zitiert, erkennt, was ein Zitat ist, was eine Paraphrase ist. Muss sich denn die Bildungsministerin vorwerfen lassen, sie habe damals unsauber gearbeitet? Es redet ja keiner von einem zweiten Fall Guttenberg!

Nolte: Genau, diesen letzten Halbsatz, den sollte man vielleicht auch mal ganz groß und dick unterstreichen. Dass man das theoretisch lernen soll, das ist auch heute noch so, aber was glauben Sie: Jede zweite Abschlussarbeit, die ich lese, strotzt vor Grammatikfehlern, vor Umgang mit Zitaten, der nicht korrekt ist. Und am Ende schreibt man trotzdem ein Befriedigend drunter, die Arbeit ist bestanden und dann werden im Gutachten die Fehler vermerkt. Also, da gibt es eine gewisse Kluft.

Es gibt auch einen Abstand zu den Verhältnissen von 1980. Auch 1980 wusste man, was ein korrektes Zitat ist, aber eine Promotion auch in dem Fach Erziehungswissenschaften, eine Direktpromotion, war damals etwas anders. Also, Fachkultur, Zitierkulturen, Wissenschaftskulturen, die sich verändern, das muss man doch auch in Rechnung stellen. Und auch wenn es juristisch richtig ist, dass es keinen Tatbestand der Verjährung gibt, so sollten wir doch vielleicht anfangen, darüber nachzudenken, vielleicht wird auch noch ausgegraben, dass Sie und ich in der Abiturklausur getäuscht haben, keine Hochschulzugangsberechtigung, und dann setzt sich diese Kette fort. Also, das ist für mich auch ein sehr fragwürdiges Verfahren, mit dem Leben eines Menschen umzugehen.

Ricke: Also, ich bin entsetzt über Ihr Wissen über meine mündliche Abiturprüfung! Ich würde aber doch gerne noch mal zum Fall Schavan zurückkommen, hier geht es ja um eine Politikerin und es geht um die Bundesbildungsministerin. Muss man da nicht sagen, nicht alles, was erlaubt ist, ist auch politisch geboten? Also, das heißt, wenn Annette Schavan am Schluss klagt und gewinnt, könnte sie als Politikerin doch derartig beschädigt sein, dass es einfach nicht mehr geht?

Nolte: Ja, das ist vollkommen klar, das wird jetzt eng für Annette Schavan, das ist schon eine Situation, die auf der Kippe steht, das ist ganz klar. Auch durch die Einleitung des Verfahrens jetzt muss sie sich fragen lassen, ob sie als Bildungsministerin noch länger amtieren kann. Das wäre aber auch in jedem anderen Amt so, also, ein solcher Angriff auf sozusagen auch die persönliche Integrität, wie auch immer man das jetzt bewertet oder wie auch immer man dazu steht, ein solcher Angriff auf die persönliche Integrität, solche Vorwürfe, die würden auf jedes Fach ausstrahlen, auf das der Bundesbildungsministerin erst recht.

Es ist ja nicht nur eine Entscheidung, die von ihr abhängt. Sie hat sich vorgenommen, das durchzustehen, und man muss ihr auch unterstellen: mit bestem Wissen und Gewissen, was ihre eigene Einschätzung der Situation angeht. Aber sie ist ja auch Ministerin im Kabinett Merkel, noch hat sie – das ist ganz entscheidend – die Rückendeckung offenbar der Bundeskanzlerin.

Sobald sie die verliert – wir können ja auf eine lange Kette von Personen, nicht zuletzt von Männern, blicken, derer Merkel sich dann blitzschnell und eiskalt entledigt hat, wenn es kritisch wäre. Sobald sie die Rückendeckung der Bundeskanzlerin verliert und Angela Merkel eine Alternative sieht oder eine Beschädigung des Wahlkampfes der Union für den September 2013, dann wird Annette Schavan ganz schnell zurücktreten müssen.

Ricke: Dass man den Fall Schavan nicht mit dem Fall Guttenberg gleichsetzen kann, ist klar. Wohl aber kann man ihn vergleichen. Wie vergleicht man ihn denn?

Nolte: Ja, man vergleicht ihn damit, dass bestimmte Politiker auch sozusagen diesen akademischen Titel bei uns in Deutschland zunächst einmal mit besonderem Ehrgeiz auch tragen. Das ist etwas, über das wir zum Beispiel mal sehr nachdenken müssen: Warum gehört es in Deutschland dazu, in der Politik, die ein ganz anderes Handlungsfeld als Wissenschaft beschreibt und wo es auf ganz andere Fähigkeiten ankommt, noch möglichst auch durch diesen Doktortitel zu glänzen?

Wir erinnern uns: Herr Bundeskanzler Dr. Kohl! Ja, warum eigentlich? Ich glaube, da müssen wir uns mal angewöhnen, etwas schärfer zu trennen, in keinem anderen vernünftigen Land der Welt käme man auf die Idee, einen Doktortitel, in den USA oder Frankreich oder Großbritannien, als Politiker so ostentativ seinem Namen voranzustellen und die politische Karriere damit zusätzlich legitimieren zu wollen. Das ist, glaube ich, das Urübel letztlich einer deutschen Titelsucht auch, die ganz tiefe historische Wurzeln hat. Guttenberg insbesondere erinnerte ja immer sehr an die von Thomas Mann in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" 1918 karikierte Gestalt des Deutschen als General Dr. von Staat: Alles sollte dazugehören, militärische, akademische, politische Ehren und der Adelstitel. Ganz so ist es bei Schavan ja nicht, aber ein bisschen von diesem Komplex auf jeden Fall. Diese akademische Ehre, ohne die geht es nicht in gleich welchem Handlungsfeld, insbesondere in der Politik. Da müssen wir runterkommen!

Ricke: Paul Nolte, er ist Professor für neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Vielen Dank, Herr Nolte!

Nolte: Ja, schönen Dank, Herr Ricke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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