Deutsche Rufe (11)

Der Geburtsfehler der neuen Bundesländer

Eine acht mal acht Meter große Landkarte des Thüringer Waldes wird in Gotha von einer jungen Frau mit dem Staubsauger gereinigt. Der Karten-Teppich ist Teil der Ausstellung "Thüringer Wald - Natur in Szene gesetzt"
Die neuen Länder wurden hübsch gemacht - doch ist das Konzept dahinter auch erfolgreich? © picture alliance / dpa / Martin Schutt
Von Thilo Schmidt · 22.07.2015
Die DDR war zur Zeit des Mauerfalls in 14 Bezirke unterteilt. Um der Bundesrepublik beitreten zu können, wurden sie von der Volkskammer aufgelöst - und durch fünf neue Länder ersetzt. Manche Zeitzeugen halten das noch heute für einen Fehler.
Volkskammerpräsident: "Da wir zu dieser Sitzung zusammengekommen sind vor allem, um dieses Gesetz zu verabschieden, wird die Volkskammer so lange, um welche Unterbrechungen auch immer, zusammenbleiben, bis dieses Gesetz verabschiedet ist."
De Maizière: "Wenn man sieht, wie Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden vor den Trümmern der Frauenkirche spricht: Dort schwenkten die Sachsen bereits wieder ihre weiß-grünen Sachsenfahnen – die es nirgendwo in der DDR zu kaufen gab! Die sie offensichtlich in Heimarbeit hergestellt hatten. Aber auch in Thüringen und überall meldeten sich die Menschen und sagten: Wir wollen wieder die Länder haben."
Kapitel eins: Ein Ruf macht die Runde
Schon im November 1989, nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt, kündigt Hans Modrow, der letzte Vorsitzende des Ministerrats der DDR, eine Verwaltungsreform an. Noch ist das Gebiet der DDR auf 14 Bezirke ‑ plus Ostberlin – aufgeteilt:
"Mir wurde bewusst in dem Moment, wo wir die erste Diskussion darüber führten, dass der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten beginnen wird, dass dieser Vorgang dann nicht mehr mit Bezirken zu gestalten ist. Denn dann heißt es, dass sich das Gebiet der alten DDR mit dem Gebiet der alten Bundesrepublik verbindet, und mit einer solchen Überlegung war auch die Notwendigkeit, sich mit der Frage der inneren Struktur der DDR zu beschäftigen."
Bereits am 18.12.1989 setzt Modrow eine Regierungskommission ein, die eine solche Verwaltungsreform durchführen soll. Deren Vorsitzender wird Rainer Dudek. Er bleibt es auch nach den Volkskammerwahlen im März – im neu geschaffenen Ministerium für regionale und kommunale Angelegenheiten:
"Und eine – das ist eigentlich die große Diktion des Märzes – eine der Forderungen, die dort in der Koalitionsvereinbarung bereits, der die Regierung tragenden Parteien, zum Ausdruck kam, war die Veränderung der Territorialstruktur, und die Bildung von Ländern. Dort ist das so prononciert eigentlich das erste Mal zum Ausdruck gekommen."
Die 1952 gebildeten Bezirke stehen einer möglichen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten im Weg, die jetzt möglichst schnell angestrebt wird. Die Absicht, in der DDR die Länder einzuführen, wird im Koalitionsvertrag der Regierung de Maizière festgeschrieben. Doch wie viele? Und welche? Die Bürger mischen sich ein. Rainer Dudek:
"Also rund 2000 Zuschriften, an die ich mich so von der großen Zahl her erinnere, konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Frage: Wieviel Länder soll es geben, was soll alles an Gebieten in welches Land hinein, wie soll die Grenzziehung dieser Länder erfolgen. Das ging von ungefähr zehn Ländern, die man hätte haben können, bis zu zwei Ländern, die auch möglich gewesen wären. Das ist die große Bandbreite, um die es ging. Also ich denk mal zurück, es gab die Gedanken der Vorpommern, sehr stark getragen von der Greifswalder Kirche, ein eigenes Land Vorpommern zu haben, und sich nicht mit Mecklenburg zusammenzuschließen. Es gab Gedanken für ein Land Lausitz. Es gab auch Gedanken für ein kleines Land Anhalt. Es gab einige Gedanken, die aus dem Land Eichsfeld gekommen sind, für existente Selbsteinheit. Also sie hätten eine ganz große Palette ziehen können."
Doch die Richtung scheint vorgegeben – von der drängenden Zeit, den Beitritt der DDR an das Bundesgebiet so schnell wie möglich zu vollziehen. Bereits zum 1. Juli soll die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft treten.
"Und sie hatten diese Bezirksstrukturen. Und diese Bezirke waren natürlich mit Abweichungen, aber doch in etwa aus den damaligen Ländern heraus entstanden. Sodass nahelag eigentlich, Bezirke wieder zusammenzufassen, und daraus strukturelle Einheiten zu bilden. Wenn man das tat, kam man immer wieder auf die Tendenz der möglichen fünf Länder."
In die Regierungskommission berufen wurde – noch unter der Regierung Modrow - auch der Soziologe Siegfried Grundmann:
"Ein Grundanliegen war die breite, öffentliche Diskussion, dass man eine optimale, langfristig tragfähige Lösung findet. Die historische Situation war eine einmalige ‑ auch was die territoriale Gliederung des Gebiets der DDR betrifft ‑ eine einmalige Chance. Und man war sich klar darüber, was entschieden wird, das wird über viele Jahre oder gar Generationen Bestand haben. Deswegen sind wir sehr, ich meine, sehr gründlich an die Sache herangegangen."
Die "öffentliche Diskussion" beschränkt sich auf einzelne Gesprächssendungen im Rundfunk der DDR. In einer solchen treffen Marcus Dohnicht, Sprecher von "Demokratie jetzt" und der Volkskammerabgeordnete Willibald Böck aufeinander, der später erster Innenminister Thüringens wird und schon 1992 wegen eines Korruptionsskandals zurücktreten musste.
Radiosendung: "Wer denn die Einheit schnell haben möchte, der muss jetzt auf alles, was zweitrangig ist, verzichten, dazu beitragen, die Länder schnell zu bilden, damit das auch vollzogen werden kann! ‑ Ja, da muss ich aber doch energisch protestieren, weil es ja doch darum geht, die Einheit so gut wie möglich und nicht so schnell wie möglich herzustellen, und gerade solche Sachen, die man dann anstaut, bei der Bildung der Länder, die werden früher oder später auf uns zurückschlagen."
Kapitel zwei: Bonner Vorgaben
Radiosendung: "Wir haben Vorschläge von der Regierungsseite, die also sehr unter Bonner Diktat stehen, gerade in den Grundrechtsfragen. ‑ Moment, jetzt hab ich mich nicht verhört, nein? Bonner Diktat? ‑ Das möchte ich so gesagt haben in Bezug auf die Verhandlungen, die am vorigen Wochenende stattgefunden haben."
Grundmann:"Ich sage: Hauptanliegen war, in der kürzesten Frist die in der DDR geschaffenen Strukturen abzuschaffen. Und da schien es die einfachste Lösung zu sein, genau die Strukturen wieder herzustellen, die 52 beseitigt worden sind. Alles andere hätte gewiss mehr Zeit benötigt. Aber am 3. Oktober sollte die Sache erledigt sein. Und es zeigt sich: Es war eine historisch fragwürdige Entscheidung. Die Überlegung, dass man einen öffentlichen Diskurs führen muss, einen Konsens herstellen muss, hinsichtlich der neu zu bildenden Länder, spielte dann, ab April 90, soweit ich mich erinnere, keine Rolle mehr. Das war dann auch der Grund, warum ich gesagt habe: Dann bin ich fehl am Platz. In dieser Kommission. Und dann bin ich ausgeschieden."
Die Volkskammer beschließt am 22. Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz. In der Debatte prophezeit Finanzminister Walter Romberg, SPD, was später Wirklichkeit wurde:
"Wer wirklich ein föderatives Deutschland will, muss dafür sorgen, dass wir unter den zukünftigen 16 Ländern nicht eine Zweiklassen-Aufteilung bekommen, bei der die fünf Länder der DDR auf Jahrzehnte hinaus nur die armen Verwandten sind."
Romberg, der als Finanzminister auch den Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unterzeichnete, wurde im August von de Maizière entlassen – ohne Angabe von Gründen. Der "Spiegel" schrieb dazu:
"Seit Wochen lag der Premier mit seinem Kassenwart im Clinch, weil Romberg ohne Unterlass ‑ in den Augen des Premiers ‑ neue oder überhöhte Finanzforderungen gen Bonn richtete, die vorhandenen Mittel aber nicht schnell genug an die notleidenden Betriebe oder Kommunen weiterleitete. Obendrein wollte der Sozialdemokrat das Verhandlungskonzept de Maizieres für den Einigungsvertrag nicht akzeptieren, weil die vorgesehene Finanzausstattung die DDR-Länder im vereinten Deutschland 'auf Jahre hinaus wirtschaftlich und politisch zweitklassig' mache."
Weil auch weitere SPD-Minister von de Maizière entlassen wurden, drohte die Koalition auseinanderzubrechen – und die SPD drohte damit, den Einigungsvertrag nicht zu unterzeichnen. Darum bliebe nur ein Ausweg: Der schnelle, bedingungslose Beitritt, möglicherweise kurz nach dem Abschluss der Zwei-Plus-Vier-Verträge im September in Moskau, so der "Spiegel".
Kapitel drei: Die armen Verwandten
Grundmann: "Wenn von Kohl aus das Signal gekommen wäre: 'Also hört mal her, wir brauchen eine neue Struktur des Gebiets der DDR, aber wir wollen es nicht überhasten. Es ist eine einmalige, historische Situation, und da machen wir jetzt mal ne Struktur, die langfristig Bestand haben kann, und sich bewähren wird' – und ich sage Ihnen: Die Bevölkerung der DDR hätte dieses Argument akzeptiert."
Am 22. Juli 1990 beschließt die Volkskammer die Einführung der fünf Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die durch Zusammenlegung von Bezirken entstehen – und den fünf in der Zeit von 1945 bis 1952 existierenden Ländern in etwa entsprechen.
Dudek: "Ich sag es mal gerade heraus: Wir, die wir die Aufgabe hatten, aus dem politischen Willen dann ein konkret geformtes Gebilde vorzuschlagen, wir neigten alle nicht zu diesen fünf Ländern. Wir neigten dazu, dass man das Territorium in vielleicht in drei, höchstens vier Länder gliedert. Wir neigten nicht zu diesen fünf Ländern, weil wir davon ausgegangen sind, dass auch mit dem Blick auf eine europäische Entwicklung leistungsstarke föderale Einheiten entstehen sollten. Und nicht starken Ländern strukturell schwache Länder entgegenstehen."
Eine gesamtdeutsche Lösung, eine Föderalismusreform auch der alten Bundesrepublik ist damit verspielt.
"Dann wäre genau das entstanden, was wir ursprünglich wollten. Also wir wollten zwei relativ leistungsstarke Mittelstaaten haben. Wir wollten also ein Brandenburg mit dem Raum Magdeburg, denkbar wäre gewesen auch der Teil Vorpommern dazu. Wir wollten ein starkes Land Sachsen haben, der heutige Territorialbestand Sachsen mit dem Raum Halle übergreifend, und wir hätten dann zwei kleine Restländer gehabt. Das wäre Thüringen und das wäre Mecklenburg-Vorpommern. Wenn man diese beiden gesehen hätte unter der Diktion, zum Beispiel Mecklenburg unter der Diktion eines Nordstaates zusammen mit Hamburg und Schleswig-Holstein, wenn man Thüringen als kleines Land gesehen hätte in Zusammenhang mit Hessen, wären plötzlich bei einer generellen Umstrukturierung recht ansprechende, auch leistungsstärkere Länder entstanden. Aber die Entwicklung ist ganz anders gelaufen."
Grundmann: "Sinnvoll wär's gewesen. Aber das hätte ja vorausgesetzt das Bewusstsein, dass auch auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik manches erneuerungs- und korrekturbedürftig wäre. Dass man überhaupt ein neues Deutschland, wirklich neues Deutschland schafft ‑ das hätte vorausgesetzt, dass man sich dessen bewusst ist: Nicht nur die DDR, sondern auch die alte Bundesrepublik ist historisch obsolet. Man muss was Neues schaffen!"
Dass der Zeitpunkt dafür günstiger nicht hätte sein können, zeigt sich bereits wenige Jahre später. Die fünf Länder in der DDR werden mit dem 3. Oktober 1990 Länder der Bundesrepublik. Die danach begonnenen Bemühungen Berlins und Brandenburgs zur Fusion beider Länder scheitern 1996. Bei der Volksabstimmung lehnt die Brandenburger Bevölkerung mit großer Mehrheit den Fusionsvertrag ab. Walter Momper, zur Wendezeit Regierender Bürgermeister von Berlin und Bundesratspräsident:
Momper: "Das sind ja immer diese Spiele: Wenn über die Föderalismusreform nachgedacht wird, dann kommen sofort einige neue Planspiele, fügste das mit dem und das mit dem zusammen. Das ist aber ja alles dummes Zeugs, weil es nicht realistisch ist. Und weil, das wissen wir ja aus 50 Jahren Bundesrepublik, die landsmannschaftliche Zugehörigkeit immer schwergewichtiger ist als alles andere. Da kann man Volksabstimmungen machen, da ist die Bevölkerung immer dagegen!"
Kapitel vier: Und immer noch Fragen
"Wir haben ja gesehen, und wenn Sie sich heute die Bankenlandschaft angucken, nicht wahr: Nordrhein-Westfalen achtete gleich darauf, dass Brandenburg also eine höhere Kolonie von ihnen wurde, haben dort bis in die Personalpolitik der Staatskanzlei hinein alles bestimmt, haben die Bankenlandschaft bestimmt, wo also die West-LB kapitalmäßig mit drin ist, also von daher ist von vorne herein denen ein Stück politischer Stärke und Schneid einfach auch abgekauft worden."
Die "höheren Kolonien" im Osten – waren sie nicht nur die "armen Verwandten", sondern sollten sie zudem politisch kleingehalten werden? Einmütig beschlossen die großen Westländer, ob SPD- oder CDU-geführt, schon im September 1990 eine Änderung der Stimmverteilung. Die großen Länder erhalten mehr Stimmen als bisher. Damit verfügen Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nunmehr über eine Sperrminorität im Bundesrat. Ohne diese Neuregelung hätten die fünf neuen Länder und Berlin eine Sperrminorität gehabt.
"Die einen waren eben Profis, gut erfahren und im föderalen Dschungelkampf gut geschult, und die anderen kamen eben neu dazu und hatten Null Erfahrung und wussten auch sonst nicht, wie's so ginge. Und mir hat mal der damalige Wirtschaftssenator Meisner erzählt von einer Vorbesprechung zum Bundesrat, er sagt, da sei er, bei den A-Ländern war's wahrscheinlich, da sei er unter die gekommen, er sagt, er hat sich gefühlt wie bei der gegnerischen Fußballmannschaft und deren Vorbesprechung, wie man die andern übern Tisch ziehen wolle. Und es gibt ja Beispiele, beispielsweise die Milchquote, ist das, was mir aus den Zeiten noch in Erinnerung war. Wo hinterher die Landwirtschaftsminister West sich die Hände gerieben haben, dass sie die Ossis schlicht beschissen haben. Haben denen also so eine miserable Milchquote gegeben, was dann auch zum Niedergang der großen Milchwirtschaft im Osten Deutschlands geführt hat."
Im November 1990 übernimmt Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau den Vorsitz des Bundesrates von Walter Momper:
"Hinter uns also liegen glückliche Ausnahmen. Vor uns liegen Arbeit, Alltag, Einsatz, Leistung. Und das ist gut so. Denn die großen Aufgaben der sozialen Einheit Deutschlands, der ökonomischen, der ökologischen Einheit liegen überhaupt erst vor uns. Erst recht gilt dies für die Einheit Europas. Und Mittel- und Osteuropa gehören jetzt wieder dazu. An dieser Arbeit können zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesrates auch jene fünf deutschen Länder aktiv teilnehmen, denen bisher – in der Sprache unserer Präambel – mitzuwirken versagt war. Zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesrates sind die 16 deutschen Länder gleichberechtigt im Bundesrat versammelt. Mit dem Willen zu guter Zusammenarbeit, zur Solidarität, zum neuen Weg in eine gemeinsame Zukunft. Zum ersten Mal seit dem 5. Juni 1947 in München, sind die Ministerpräsidenten und Vertreter aller deutschen Länder in der Lage, vereint zu handeln. Zum ersten Mal – in der 624. Sitzung zum ersten Mal! Mit großer Freude begrüße ich die gewählten Ministerpräsidenten und Bundesratsmitglieder der fünf deutschen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in unserer Mitte. Seien sie uns herzlich willkommen zu gemeinsamer Arbeit für die Menschen in 16 deutschen Ländern!"
Ein Reporter des Ostberliner Senders DS Kultur fragt Voscherau, wie es seine Arbeit beeinflusst, dass nunmehr auch die fünf neuen Länder hinzugekommen sind:
"Zunächst beeinflusst es meine Überlegungen dadurch, dass die fünf am 14. Oktober demokratisch gewählten Landesregierungen, die nicht 40 Jahre lang gestählt sind in den Beratungen des Bundesrates und des westdeutschen Föderalismus, die Chance erhalten müssen, frühzeitig zu sagen, was aus ihrer Sicht geschehen sollte und wo es längs gehen muss."
Die Deutsche Einheit ist vollendet, die Zweitwertigkeit bleibt. Die ostdeutschen Länder sind ohne Transfers aus dem Westen nicht überlebensfähig.
Mehr zum Thema