Deutsche Rufe (10)

Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches 1990

Versammlung im Januar 1990 am Zentralen Runden Tisch im Konferenzgebäude des Ministerrates der DDR am Schloss Niederschönhausen (heute Schönhausen) in Berlin-Pankow.
Versammlung im Januar 1990 am Zentralen Runden Tisch im Konferenzgebäude des Ministerrates der DDR am Schloss Niederschönhausen - heute Schönhausen - in Berlin-Pankow © picture alliance / dpa-ZB / Peer Grimm
Von Thilo Schmidt · 14.07.2015
Der "Verfassungsentwurf für die DDR" vom Runden Tisch 1990 ist ein historisch wichtiges Dokument - auch weil er ein herausragendes Beispiel für selbstbestimmtes verantwortliches Handeln ist. Hören Sie, wie es dazu kam.
Wolfgang Templin: "Unser Idealismus, wenn man so will, sogar utopischer Idealismus, bestand darin, dass wir meinten, das müssten diejenigen, die diese DDR-Gesellschaft erlebt, mitgestaltet und bitte sehr auch erlitten hatten, wenn sie im Widerstand dazu waren, möglichst aus eigenen Kräften machen. Für diesen Anspruch zeigten uns 80 bis 90 Prozent der Beteiligten den Vogel. Das war nämlich der Grund unserer politischen Niederlage. Nicht nur am Runden Tisch, sondern danach.
80 bis 90 Prozent der DDR-Bürger, selbst wenn sie unseren Werten anhingen, waren insofern zehn mal realistischer, individuell realistischer, als sie sagten: Ihr habt ja Recht. Mit eurem Anspruch und eurem Idealismus. Schaffen werdet ihr's nicht – die Umgestaltung wird sich nach einer Logik abspielen: Wer hat die Macht, wer hat die stärkeren … - nicht wer hat die stärkeren Bataillone, sondern wer hat das meiste Geld? Guckt, wo es liegt, und dorthin wird sich die Mehrheit entscheiden. Und genau so war die Realentwicklung."
Kapitel eins: Ein Ruf macht die Runde
In Ostberlin erodiert die Macht der SED. Die Bürger zeigen ihre Courage und gehen seit Wochen auf die Straße. Forderungen wie die nach freien Wahlen, Mitbestimmung oder Reisefreiheit werden artikuliert, die Forderung nach einer neuen Verfassung taucht auf. Wolfgang Templin, Mitbegründer der "Initiative Frieden und Menschenrechte" beobachtet das Kräftemessen aus der Ferne, aus Westdeutschland. Dort lebte Templin, nachdem er 1988 wegen "Agententätigkeit" zur Ausreise gezwungen worden war.
Wolfgang Templin: "Die Frage: Verfassung – Notwendigkeit eines Verfassungsprozesses – stand mir allerdings auch aus der Entfernung Bundesrepublik schon länger vor Augen, und ich wusste, dass sie in vielen Köpfen spukte. Ich könnte Ihnen jetzt nicht einen konkreten Moment oder einen Ort sagen, in dem mir das bei der Rückkehr zum ersten Mal vor Augen trat. Ich weiß nur, dass die Luft davon schwirrte."
Templin kehrt in die DDR zurück und nimmt am Zentralen Runden Tisch teil, der zum ersten Mal am 7. Dezember 1989 tagt. Eine der ersten Entscheidungen dort: Die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes. Wolfgang Ullmann, der für die Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" am Runden Tisch teilnimmt und der den Verfassungsentwurf maßgeblich mitgestaltet hat, nach der ersten Sitzung im DDR-Rundfunk.
Wolfgang Ullmann: "Man könnte es auch so ausdrücken: Wir müssen das in Worte kleiden, was wir am 4.11. erlebt haben, nicht? Das in einer überzeugenden und nicht demagogischen und nicht tumultuarischen Weise klargestellt wurde, wer das Volk ist."
Der Runde Tisch setzt die Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" ein, die wie der Runde Tisch selbst mit Vertretern der alten Macht und der Oppositionsgruppen besetzt ist – und beraten wird von Verfassungsrechtlern aus Ost und West. Aus der Bundesrepublik nimmt der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß in der Arbeitsgruppe Platz.
Ulrich K. Preuß: "Also, das war eine sachliche, und auch menschlich sehr … - es gab gewisse Spannungen natürlich zwischen den Vertretern. Das waren ja Individuen, die auch ihre eigenen Leidensgeschichten hatten, also Individuen, die aus der Bürgerbewegung kamen, und andere die aus dem Regime kamen, ja, regimenahe, regimetreue, regimeintegrierte Mitglieder. Da hat man schon gemerkt, dass es da unterschiedliche Auffassungen gab, aber es waren eben Auffassungen, wie soll ich sagen, die soll ich nicht legitimierten aus einer Art Konservatismus, zu sagen: Es muss alles so bleiben wie es ist. Sondern: Wie es ist, kann's nicht bleiben, aber wir wollen doch so viel an Substanz retten, was aus der alten DDR rettungswürdig war, so die eine Gruppe, und die andere Gruppe meinte, da ist nichts rettungswürdig, wir müssen grundlegend neu schaffen, eine rechtliche Realität. Diese Differenz war schon erkennbar, und sichtbar. Aber in einer Weise, wie man sich das eigentlich auch für eine verfassungsgebende Versammlung wünscht. Wir waren ja im Kern eine kleine verfassungsgebende Versammlung."
Am Runden Tisch ist schnell klar, dass sich der Entwurf zwar am Grundgesetz orientieren soll, gleichzeitig aber deutlich darüber hinausgeht, dass soziale Grundrechte einbezogen, der Menschenrechtskatalog umfangreicher und auch plebiszitäre Elemente enthalten sein sollen.
Ulrich K. Preuß: "Wir haben dann ja auch Regeln gefunden, die mehr das prozedualisierte, also das mehr Verfahrensrechtliche, mehr Abwägungsprozesse einbaute, die bestimmte Politikentscheidungen nicht determinierte, aber strukturierte. Vorstrukturierte. Wenn es also zum Beispiel zum Konflikt kommt zwischen Arbeitsplatznotwendigkeiten auf der einen Seite und freier, unternehmerischer Entscheidung, dass dann also bei bestimmten Voraussetzungen eine Abwägung stattfindet, und diese Abwägung dann gewissen Dingen, also zum Beispiel dem sozialen Schutz, ein höheres Gewicht beigemessen ist, als der freien Disposition des Arbeitgebers, so nur als Beispiel, wie man so etwas dann verrechtlichen kann, ohne das Ergebnis zu periodizieren. Also zu sagen: Arbeitsplatz – ich hab ein Recht, also musst du mir einen Arbeitsplatz beschaffen. Das ging nicht."
Noch gilt in der DDR die mehrfach revidierte Verfassung von 1949. Nun hat eine neue Ära begonnen – und der Umbruch, so die einen, solle in einer neuen Verfassung festgeschrieben werden. Andere sehen darin eine Fortschreibung der DDR. Gerd Poppe, für die Initiative Frieden und Menschenrechte in der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung".
Gerd Poppe: "Es ist mitnichten ein Verfassungsentwurf gewesen, der also die DDR erhalten will, sondern es ist eine Verfassung für die DDR bis zum Zeitpunkt der Deutschen Einheit, die man ausdrücklich will."
Für Wolfgang Templin, einer der Vordenker der Opposition, ist eine neue Verfassung unverzichtbar – als Vollendung der Revolution und mit Blick auf die Einheit – oder Föderation beider Staaten.
Wolfgang Templin: "Das wäre eine Neuvereinigung, auf dem Boden der Demokratie, des Grundgesetzes und der entwickelteren Potenziale der Bundesrepublik gewesen. Ohne Zweifel. Es wäre aber eine Vereinigung gewesen, in der der Gegenüber in seiner eigenen Besonderheit, in seinen eigenen Problemen, und in der Herausforderung, in der erstrangigen Herausforderung, die er bedeutet, ernstgenommen wird, und nicht nach dem völlig falschen Blick: Wir haben einen Zug, der gut rollt, und dahinten muss noch irgendetwas stotterndes angehängt werden."
Kapitel zwei: Macht, Ohnmacht und Besuch aus dem Westen
Die Arbeitsgruppe "Neue Verfassung tagt mittlerweile täglich. Der Runde Tisch, das legitime, aber nicht legale Instrument des Übergangs, wird mit den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 seine Arbeit beenden und will der neugewählten Volkskammer ihren Entwurf vorlegen. In der parallel tagenden Redaktionsgruppe wird der Entwurf in Schriftform gebracht. Das christliche Symbol der ost- und der westdeutschen Friedensbewegung mit der Losung "Schwerter zu Pflugscharen" sieht der Entwurf für die Nationalflagge vor.
Gerd Poppe: "Und wir haben … - und insbesondere auch in dieser Endredaktion den Entwurf abgeschlossen, und ihn dann am 4. April der Volkskammer vorgelegt, bereits. Also etwas über zwei Wochen nach den Wahlen war er tatsächlich fertig, oder drei Wochen nach dem Ende des Runden Tisches."
Doch in Ostberlin haben längst nicht mehr die Träger der Revolution die Oberhand. Schon lange vor den Wahlen nehmen die westdeutschen Parteien personell und finanziell in Ostdeutschland entscheidend Einfluss. Bei den Wahlen zur Volkskammer gerät die Bürgerbewegung unter die Räder. Sie kommt gerade einmal auf 20 von 400 Sitzen. Rosemarie Will, die als ostdeutsche Verfassungsrechtlerin die Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" berät.
Rosemarie Will: "Also wir haben uns angestrengt, dass am Tage des Zusammentretens der Volkskammer, der gedruckte Entwurf überreicht werden kann, also wir mussten ihn ja fertigmachen, und dann wurde er verteilt. Und dann wurde so getan, als sei er gar nicht da, und dann mussten wir erst Leute und Wege finden, an Abgeordnete heranzukommen, die das auf die Tagesordnung setzten, und nach meiner Erinnerung hat dann der Gerd Poppe im Rahmen einer Fragestunde erzwungen, dass man sich dem vorhandenen Entwurf zuwendet."
In der Volkskammer
Präsidium: "Ich bitte den Abgeordneten der Volkskammer, Herrn Gerd Poppe, Fraktion Bündnis90/Grüne, das Wort zu nehmen!"
Gerd Poppe: "Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich spreche hier heute nicht nur für die Fraktion Bündnis 90/Grüne, sondern auch im Auftrage der Arbeitsgruppe 'Neue Verfassung' des Runden Tisches."
Gerd Poppe: "Wir haben 500 oder 400 Exemplare gedruckt, wir haben die in die Fraktionen gegeben, damit die Abgeordneten sich vorab, bevor das diskutiert werden kann in der Volkskammer, diesen Entwurf genau ansehen können. Leider sind diese Entwürfe gar nicht verteilt worden mindestens in der CDU-Fraktion, aber ich glaube, auch nicht in der SPD-Fraktion, das heißt die Abgeordneten, als wir dann die erste Debatte darüber hatten, in der Volkskammer, kannten den Entwurf nicht, wussten nicht mal, dass es ihn gibt zum Teil, und das fand ich einen skandalösen Vorgang, dass die Fraktionen nicht dafür gesorgt haben, dass das verteilt wurde, ja?"
Präsidentin: "Ich bitte jetzt von der Fraktion Christlich-Demokratische Union, die Abgeordnete Frau Kögler das Wort zu nehmen."
Kögler: "Mir fiel soeben ein Zitat von Lenin ein: Die Deutschen sind eigentlich so ein recht legitimitätsbedürftiges Volk. Sie würden also auch noch eine Fahrkarte für den Bahnsteig lösen, bevor sie ihn stürmen. Die Frage ist also: Wozu brauchen wir noch eine Verfassung? Wir gehen mit eiligen Schritten, und ich denke, das ist die neue beschrittene Politik, auf die Einheit zu. Da können wir nicht die Zeit verwenden für eine neue Verfassung, von der wir wissen, dass sie nur eine Übergangsregelung wäre. Und die außerdem ein Hindernis wäre für die schnelle deutsche Einheit."
Diese "hinderliche" Verfassung geben sich – laut ihrer Präambel – die Bürgerinnen und Bürger der DDR diese um ein Gemeinwesen zu entwickeln, das "Würde und Freiheit des einzelnen sichert, gleiches Recht für alle gewährleistet, die Gleichstellung der Geschlechter verbürgt
und unsere natürliche Umwelt schützt".
Die Präambel entstammt der Feder von Christa Wolf.
Von der Fraktion der PDS erfährt der Verfassungsentwurf die größte Unterstützung. Deren Abgeordneter Uwe-Jens Heuer:
"Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen, wenn sie mich anhören würden. Und zwar ich bin der Meinung wir brauchen aus folgendem Grunde auch unverzüglich eine neue Verfassung: Wir bekommen ja dauernd neue Ausführungen über den Staatsvertragsentwurf der Bonner Regierung. In dem Entwurf vom 24. April steht: Vorrang des Vertrages - Beide Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass dieser Vertrag einschließlich der in seiner Ausführung geltenden oder in Kraft zu setzenden Rechtsvorschriften, entgegenstehendem Recht einschließlich Verfassungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik vor geht. Das heißt, wenn das in Kraft gesetzt wird, ist unsere Verfassung dieser Staatsvertrag! Und deshalb brauchen wir jetzt eine eigene Verfassung, mit der wir in die deutsche Einheit gehen können!"
Radio DDR1: "Es ist 13 Uhr. DDR1 Nachrichten. Die gestrige Parlamentsentscheidung, den Verfassungsentwurf des Runden Tisches nicht in den zuständigen Ausschuss zu überweisen, hat bei den Autoren des Dokuments Enttäuschung und Kritik ausgelöst. Den Volkskammerbeschluss hatte Gerd Poppe von der Fraktion Bündnis 90 / Grüne eine seltsame Entscheidung genannt, bei der atemberaubende Ignoranz zum Vorschein komme. Der SPD-Abgeordnete Fischer sprach von einem Tiefschlag gegen die Demokratie."
Ulrich K. Preuß:"Lassen Sie mich dazu eine kleine Geschichte erzählen. Anfang April konstituierte sich die Volkskammer, und wählte eine Regierung, und die Regierung sollte vereidigt werden. Und da hat der Ministerpräsident, De Maiziere, und übrigens auch sein Innenminister, Diestel, haben sich geweigert, und haben sich gesagt: ich lass mich nicht vereidigen auf Grundlage der DDR-Verfassung von 1974. Da hatten die schon das Problem, ja Moment mal, auf welcher Grundlage soll er denn eigentlich vereidigt werden? Nach langem Streit kam es dann darauf, dass eigentlich die Formel, die der Runde Tisch für die Vereidigung eines Ministerpräsidenten vorgesehen hatte, dass die gewählt wurde. Die wurde dann verabschiedet, vom Parlament, ad hoc, sozusagen, um den Ministerpräsident überhaupt vereidigen zu können. Andernfalls hätte es keine vereidigte, also mit anderen Worten rechtmäßige Regierung geben können. Ne? Und das ist nur ein quasi – und scheinbar – protokollarischer Punkt, weswegen man eine Verfassung braucht."
Gerd Poppe: "Das war natürlich auch eine sehr seltsame Geschichte, die ja, zeigt, dass durchaus dieser Text ernstgenommen wurde, das man sich aber aus politischen Gründen weigerte, wahrscheinlich auch aufgrund von Beeinflussung durch die bundesdeutsche Politik, nicht mit solchen Fragen mehr befassen wollte."
Kapitel drei: Die unvollendete Revolution
Wolfgang Templin:"Ich bereue es nicht, dass ich damals in dieser Gruppe saß, ich mache mir aber manchmal schon selber - nicht Vorwürfe, sondern stell' mir die Frage: Sag mal, hast du damals nicht begriffen, dass euch, also damit auch mir, die ihr in dieser Verfassungsgruppe saßt, in der gleichen Zeit diejenigen, die die politische Niederlage mit komplett gemacht haben, die sich sofort – ab Januar – um Wahlkampf, Wahlkampf, Wahlkampf gekümmert haben, die guckten: Wie kriegen wir die Leute auf unsere Seite, die sich nicht mit hochfliegenden, demokratischen Erörterungen befassten, sondern guckten: Welche Blockpartei ist mit welchen Vertretern wie rumzukriegen. Die Zeit rannte uns davon, und wir waren mit einem Projekt beschäftigt, was demokratisch seine völlige Berechtigung hatte, was aber in eine Zeit hineinfiel, in der die rapide sich verändernden Machtkonstellationen dann keinen Raum mehr dafür ließen."
Rosemarie Will:"Es ist nicht festgestellt worden, was sie wollen, die Verkürzung liegt eben darin, sie wollen die Bundesrepublik und sonst nichts. Aber das ist nicht diskutiert worden, sondern faktisch unterstellt. Und damit hat man sich erstens der Vollendung der eigenen Revolution und der Ergebnisse der Revolution beraubt, und vor allem hat man natürlich ganz schlechte Bedingungen für den Wiedervereinigungsprozess geschaffen."
War die Bürgerbewegung mit ihrer Forderung nach einer der Einheit vorausgehenden Demokratisierung der DDR den Bonner Politik-Strategen im Weg?
Rosemarie Will: "Ja natürlich. Das war auch die große Furcht, dass wenn dieser Modernisierungsschritt über die Verfassungsgebung gelungen wäre, die DDR ein anderer Verhandlungspartner gewesen wäre, und dann nicht die größere und natürlich modernere Bundesrepublik einfach die Bedingungen diktieren kann. Also das wäre ne andere Situation gewesen."
Gerd Poppe: "Dem entgegen steht die Position vieler westdeutscher Politiker zu diesem Zeitpunkt, die der Meinung waren, in der DDR muss sich alles ändern und im Westen gar nichts. Sie haben nicht gemerkt, dass sich natürlich auch die alte Bundesrepublik im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und danach sich entschieden verändern wird."
Wolfgang Templin: "Die Realität, mit der ich nicht hadere, hieß: Diejenigen, die sich am schnellsten gewendet hatten, diejenigen, die in die neuen Verhältnisse förmlich bruchlos hineinschlüpfen wollten – ich frag gar nicht, was hinter mir liegt, ich nehm das, was kommt, jetzt hab ich nen neuen Chef, den alten hab ich Gottseidank hinter mir, und passe mich diesem neuen Chef so an wie dem alten. Das ist nun – die einen würden sagen, eine völlig menschliche Eigenschaft, das ist aber eine Eigenschaft, die in der Demokratie nicht Überhand nehmen sollte."
Kapitel vier: Und immer noch Fragen
Rosemarie Will: "Die, die meinten, dass sie gar keine Zeit mehrhätten, auf irgendwas zu warten, sind natürlich als erste der Deindustrialisierung zum Opfer gefallen, haben ihren Job verloren, und waren draußen, plötzlich. Aus dem Arbeitsleben, und damit, so in deutscher Tradition, eben auch draußen aus dem Fortgang der Ereignisse. Also die sind an den Rand gekommen. Ja? Diese Generation hat es komplett erwischt, egal was die politisch wollte oder dachte. Das ist der Prozess, den man dann beschreiben muss, und der ganz hart war. Für die, die es getroffen hat."
Die schnelle Wende hat ihre Spuren hinterlassen. Ökonomisch, menschlich, politisch. Das Grundgesetz, 1949 als Provisorium entstanden, gilt weiterhin. Die fünf neuen Länder der DDR sind gemäß Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten.
Rosemarie Will: "Ich denke schon, dass der Grund für das Scheitern die Angst vor 'ner gesamtdeutschen Verfassungsdebatte gewesen ist."
Provisorien haben oft einen langen Bestand. Die Chance, Deutschland neu zu verfassen, ist verpasst. Und sie kommt auf lange Zeit nicht wieder.
Ulrich K. Preuß: "Nein, die Zeiten sind vorbei. Revolutionäre Aufbrüche sind ja nicht in sich selbst etwas wertvolles. Die sind ja etwas wertvolles, wenn sie erforderlich sind, wenn die Gesellschaft gewissermaßen ihr altes verkrustetes Bett aufbrechen muss, um sich selbst zu befreien und einen neuen Schritt hin auf Veränderungen, die sich dem Neuen öffnen zu bewirken. Aber für eine grundlegende Neuorientierung war die Zeit in der Tat 1990. Es ist ja nicht nur die DDR untergegangen, es ist ja auch die Bundesrepublik untergegangen. Die alte. Sondern es ist etwas neues entstanden, und auch um sozusagen die DDR-Bevölkerung und die westdeutsche Bevölkerung miteinander gleichsam in Verbindung zu bringen, ist es wichtig, dass sie einen gemeinsamen Verfassungsschöpfungsprozess, einen gemeinsamen Verfassungsschöpfungsprozess durchmachen, denn die Runde-Tisch-Verfassung war ja wiederum nur eine Verfassung für die DDR, durch die DDR, mit der DDR, und dann ist das ja am 3. Oktober 1990 gleichsam hinfällig geworden, aber das war jedenfalls unsere damalige Auffassung, man hätte es beides haben können. Meine ich jedenfalls, meinte ich damals. Aber es ist vorbei, und heute darüber nachzudenken, ist einfach unzeitgemäß. Das passt einfach nicht."
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