Deutsche Klassiker mehrstimmig erzählt

02.06.2010
Marcel Reich-Ranicki pflegte sich von den Zuschauern des Literarischen Quartetts am Ende einer jeden Sendung mit einem Zitat aus Brechts Stück "Der gute Mensch von Sezuan" zu verabschieden: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Seitdem sich im Dezember 2001 das Literarische Quartett zum letzten Mal traf, ist die Bühne, auf der der Chefkritiker des deutschen Feuilletons seine furiosen Auftritte feierte, verwaist. Nun wird sie erneut bespielt, denn noch einmal hebt sich für Marcel Reich-Ranicki der Vorhang. Doch die Bühne ist leer, nichts ist zu sehen, da sich der Meister als Arrangeur im Hintergrund hält. Dafür aber gibt es viel zu hören.

"Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen.

"Ein junges Ehepaar lebte recht vergnügt zusammen und hatte den einzigen Fehler, der in jeder menschlichen Brust daheim ist. Wenn man's gut hat, hätt' man's gerne besser."

"In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O..., eine Dame von vortrefflichem Ruf und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen, dass sie, ohne ihr Wissen, in andere Umstände gekommen sei..."

"Vorliebe empfindet der Mensch für allerlei Gegenstände. Liebe, die echte, unvergängliche, die lernt er, wenn überhaupt, nur einmal kennen."

"In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen."

"Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existenziellen Turnübung. Er sprang in den Paternosteraufzug."

"Wenn einer dein Bett aus dem Saal schiebt, wenn Du siehst, dass der Himmel grün wird, und wenn du dem Vikar die Leichenrede ersparen willst, so ist es Zeit für dich aufzustehen.""

Für Walter Benjamin stellt die "Erfahrung, die von Mund zu Mund geht", die Quelle dar, "aus der alle Erzähler geschöpft haben." Doch längst vergangen ist die Zeit, als Erzähler nicht nur Erfahrungen mitteilten, sondern auch Rat wussten. Erzählt aber wird weiterhin – auch deshalb, um an Vergangenes zu erinnern. Mit der Frage nach der Bedeutung des Erinnerns beginnt Franz Fühmann seine Erzählung "Das Judenauto":

"Wie tief hinab reicht das Erinnern?"

Marcel Reich-Ranicki hat 70 Erzählungen ausgewählt, die zu den Klassikern der deutschsprachigen Literatur gehören. Angefangen von Goethes "Die Sängerin Antonelli" über Kleists "Die Marquise von O...", Büchners "Lenz", Hauptmanns "Bahnwärter Thiel", Kafkas "Ein Hungerkünstler", Zweigs "Schachnovelle" bis hin zu Peter Bichsels "Der Mann mit dem Gedächtnis" präsentiert diese Kollektion Meistererzähler der deutschen Sprache.
Es ist aber auch das Verdienst von Vorlesern wie Martina Gedeck, Mechthild Großmann, Iris Berben, Dieter Mann, Ulrich Matthes, Frank Arnold oder Ulrich Noethen, um nur einige der insgesamt 34 Sprecher zu nennen, dass sich die Erfahrung, von der Marie Luise Kaschnitz in ihrer Erzählung "Lange Schatten" berichtet, nicht einstellt.

"Langweilig, alles langweilig."

Im Gegenteil. Die ausgewählten Anekdoten, Novellen, Parabeln, Märchen, Legenden und Kalendergeschichten von 61 Autoren garantieren ein wahres und noch dazu ein lange währendes Abenteuer, das 2800 Minuten Hörgenuss bietet. Denn hörend entdeckt man in den Geschichten, die man zu kennen meint, Nuancen, die einem beim Lesen nicht aufgefallen sind. Seine Auswahl will Marcel Reich-Ranicki als ein Angebot verstanden wissen:

"Unser Kanon deutscher Erzählungen ist ein Angebot. Das heißt: Jeder kann sich aussuchen, was er aussuchen möchte. Ich glaube, dass derjenige, der sich entscheidet, einzelne Erzählungen zu hören, am ehesten entscheiden kann, wer die Erzähler der Epoche eigentlich vor allem waren."

Das klingt altersweise, so, als wolle der Herausgeber mit dem vorgelegten Hörkanon gerade keinen Kanon stiften. Statt der vorgegebenen Norm die freie Entscheidung. Offensichtlich will Marcel Reich-Ranicki das Wort Kanon eher in seiner musikalischen Bedeutung verstanden wissen. Drei Jahrhunderte umfasst das mehrstimmige Erzählwerk, das den Herausgeber in der Rolle des Dirigenten sieht.

Das Ergebnis kann sich hören lassen. Es klingt gut, sogar sehr gut. Fasst vergisst man beim Hören der wunderschönen Geschichten, dass prägnante, einzigartige literarische Stimmen, wie die von Ingeborg Bachmann, Johannes Bobrowski oder Wolfgang Hilbig, fehlen.

Solche Begehrlichkeiten sind der Fluch eines jeden Herausgebers. Während er weglassen muss, geht das Wünschen der Hörer ins Unermessliche. Für Friedrich Dürrenmatt stellt sich das in der Erzählung "Die Panne" recht unkompliziert dar:

"Eine gute Note in der Literaturgeschichte zählt nicht. Wer bekam nicht schon gute Noten? Welche Stümpereien wurden nicht schon ausgezeichnet? Die Forderungen des Tags sind wichtiger."

Angesichts der Tagesanforderungen wird deshalb heute mit Kritik am Kritiker gespart. Statt empört zu zetern, soll nur zaghaft angemerkt werden: Schöner wäre es gewesen, Marcel Reich-Ranicki hätte statt der kurzen Einleitung, die sich auf der ersten CD findet, seine Kommentare zu den einzelnen Autoren eingesprochen, die man nun im Booklet nachlesen muss. Aber wie heißt es so schön in Johann Peter Hebels Kalendergeschichte "Drei Wünsche":

"Wenn man's gut hat, hätt' man's gerne besser."

Besprochen von Michael Opitz

Der Hörkanon. Die deutsche Literatur. Erzählungen. Eine Auswahl auf 40 CDs. Herausgegeben und kommentiert von Marcel Reich-Ranicki
Random House Audio, Köln 2010
2800 Minuten, 129 Euro