Deutsche Erstaufführung

Arme Irre

Von Michael Laages · 28.11.2013
Ohne allzu viel mediale Tricks gelingt in Hamburg ein schmerzhaft bedrängendes Panorama von Angst und Schrecken im Kampf zwischen Macht und Moral. "In der Republik des Glücks" lohnt die Neu-Entdeckung des Briten Martin Crimp.
Nein – ein Weihnachtsstück, "für die ganze Familie" womöglich, ist das eher nicht. "In der Republik des Glücks", das im vorigen Jahr in London uraufgeführte Stück des englischen Dramatikers Martin Crimp, benutzt den geschenkehaltigsten Tag des Jahres, das "Fest des Friedens", nur für bitterbösen Hintersinn; wenn die verkorkste Weihnachtsfeier vom Beginn endet, beginnt die Analyse einer Gesellschaft mit übergroßem Bedarf an psychotherapeutischer Betreuung. Ein Käfig voller armer Irrer posaunt die eigenen Defekte in die Welt hinaus.
Aber zunächst zum Fest – Vati, Mutti und zwei Töchter (eine davon gerade ungewollt und sehr unpassend schwanger) haben Oma und Opa zu Besuch; das ist schon schlimm genug. Denn nach kurzer Warmlaufphase sagen hier alle einander die Wahrheit. Und auch mit dem Weihnachtsessen stimmt irgendwas nicht … Ins laufende Gezeter stürmt uneingeladen auch noch Onkel Bob herein; nur um (angeblich im Auftrag der Freundin, die draußen im Auto wartet) der gesamten Familie schnell noch mal mitzuteilen, wie überaus verachtenswert und überflüssig sie alle seien; die Freundin jedenfalls hege nichts als Hass und Mordgedanken. Vielleicht hegt nicht nur sie die – kurz darauf nämlich erscheint auch sie, will eigentlich nur aufs Klo und mimt dazu eitel Sonnenschein. Sie eröffnet gar eine Reihe von Weihnachtsliedern; allerdings sehr merkwürdigen …
In ihnen nämlich bekennt sich die in der Tat moralisch zutiefst herunter gekommene Gesellschaft offensiv zu allen Träumen und Defekten – jeder und jede „schreibt die eigene Geschichte“ selbst, ohne Einfluss von außen; alle bestehen auf der „Freiheit, die Beine breit zu machen“ - nein, nicht beim Sex: beim Sicherheits-Scan auf dem Flughafen. Sie alle lieben den Staat und fordern von ihm "Die Freiheit, gesund zu sein und ewig zu leben" - alle Macht der Schönheitsindustrie! Zwischendurch wird die „Freiheit vom Trauma“ propagiert – alle arbeiten in therapeutischem Palaver die schlimmsten Erfahrungen und Erinnerungen ab, bis zum Holocaust. Zum Schluss sind Bob und Freundin wieder allein; Bob hat aber alle Redekraft verloren und kann nur noch dumme „Die Welt ist schön“-Liedchen, die die Freundin ihm vorsingt.
Derweil lässt übrigens Crimp das Personal stets behaupten, wie ernst es allen sei: kein Wörtchen sei etwa ironisch gemeint auf der Bühne. Wie aber soll das gehen, wenn mit der unvergleichlichen Margit Bendokat und Christian Grashof zwei Granden vom Deutschen Theater Oma und Opa sprechen, die kaum anders sein können als ironisch; noch wenn sie das Telefonbuch vorlesen würden …
Die Inszenierung von Rafael Sanchez bekommt den ohnehin schon ein wenig zu schlicht gestrickten und arg vorhersehbaren Text aber nicht nur deshalb nicht wirklich in den Griff; mit reichlich Ulk zu Beginn und danach sehr statuarischen Gruppenbildern zu kryptischem Computer-Geflimmer. Katie Mitchell ist für den neueren (und erheblich stärkeren!) Crimp-Text „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ am Hamburger Schauspielhaus sehr viel mehr eingefallen.
Das Stück bezieht sich mit dem sonderbaren Titel auf Pier Paolo Pasolinis „Ödipus“-Film von 1967, die Schluss-Sequenz wird mehrfach projiziert. Crimp hat „Die Phönizierinnen“ des Euripides bearbeitet und beschreibt mit dem antiken Autor die Kriegsvorbeitungen der Söhne des Ödipus, die gegeneinander um die Herrschaft in Theben kämpfen; die Tragödie des Ödipus zuvor, die gleich darauf folgende der Antigone und vor allem die der Iokaste, die Mutter und Gattin des Ödipus ist, werden miterzählt.
Ohne allzu viel mediale Tricks gelingt Mitchell in Hamburg ein schmerzhaft bedrängendes Panorama von Angst und Schrecken im Kampf zwischen Macht und Moral; ein Mädchenchor hat wie Rache-Göttinnen alle Handelnden wie in Geiselhaft genommen und versucht so das Unvermeidliche (Krieg und Untergang des Gemeinwesens) noch zu verhindern – natürlich vergeblich.
Starkes Stück, starke Inszenierung – zumindest mit der Hamburger Uraufführung bleibt Crimp ein Autor, der hierzulande seit den ersten Begegnung vor eineinhalb Jahrzehnten immer wieder neu zu entdecken ist.