Deutsche Einheit

Ost bleibt Ost, West bleibt West

Ein abgestorbener Baum in einem Feld in Brandenburg
Blühende Landschaft? Blick auf ein Feld in Brandenburg © imago/blickwinkel
Von Andreas Baum · 19.12.2014
Keinem werde es schlechter gehen, aber vielen besser - das versprach 1990 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl. Doch fast 25 Jahre später stellen Forscher fest: Die Lebensverhältnisse in Ost und West werden verschieden bleiben. Wahrscheinlich für immer.
Als die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke, im Spätsommer vor die Presse trat, um in einem alljährlich wiederkehrenden Ritual den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit der Öffentlichkeit vorzutragen, klang sie optimistisch wie selten zuvor. 25 Jahre nach dem Mauerfall schien endlich aufzugehen, wovon Politiker schon ganz am Anfang mit glänzenden Augen sprachen: Ein altes Versprechen schien in Erfüllung zu gehen. Zumindest zwei Sätze lang:
"Die Annäherung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West ist weitgehend gelungen. Denken Sie an die Modernisierung der Infrastruktur, den Wiederaufbau vieler Innenstädte, an die Verbesserung der Wohnsituation, die Beseitigung der verheerenden Umweltverschmutzung, den Aus- und den Neubau eines modernen Verkehrsnetzes."
Obwohl nach diesen beiden einleitenden Sätzen im Bericht der "Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder" sehr viele "Aber" und Ausnahmen folgten, die daran zweifeln ließen, ob von einer Annäherung der Lebensverhältnisse überhaupt die Rede sein kann, hatte sie mit der grundsätzliche Aussage nicht unrecht - jedenfalls, wenn es allein ums Grundgesetz geht: Auf den Artikel 72 berufen sich seit Jahrzehnten Bundes- und Landespolitiker, wenn sie Subventionen und Fördergelder für die Neuen Länder rechtfertigen müssen. In der Grundgesetzpassage kommt es, wie häufig bei Gesetzestexten, auf die genaue Wortwahl an.
Ursprünglich hieß es, der Bund sei verpflichtet, mit seinen Gesetzen für "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" zu sorgen. 1994 wurde diese Passage modernisiert. Heute gilt im Grundgesetzes eine Formel, die es dem Gesetzgeber leichter macht, verfassungstreu zu bleiben. Heute heißt es:
"Der Bund (hat) das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“
Und gleichwertige Lebensverhältnisse sind bereits hergestellt, wenn verschiedene Bereiche der Daseinsvorsorge miteinander vergleichbar sind: Die Basisversorgung, für die der Staat verantwortlich ist, Infrastruktur, Mobilität, Schulen und Krankenhäuser. Zwar gibt es noch einige wenige Gebiete in der Bundesrepublik, die hier benachteiligt sind - das aber ist immer schon so gewesen und hat nichts mit teilungsbedingten Lasten zu tun – seine grundgesetzlichen Aufgaben hat der Bund erfüllt.
Er könnte sich eigentlich zurücklehnen – wenn das Versprechen von Helmut Kohl von den "blühenden Landschaften" nicht wäre, und davon, dass es vielen besser, keinem aber schlechter gehen werde. Dieses Versprechen wird bis heute so verstanden, dass es kein irgendwann kein Wohlstandsgefälle mehr geben wird zwischen Ost und West. Dieser an Glückseligkeit grenzende Zustand ist bislang nicht eingetreten – und die Zahl der Experten, die sagen, dass es niemals dazu kommen wird, wächst. Zwar hat sich die durchschnittliche Wirtschaftsleistung der Bewohner der Neuen Länder in den vergangenen 23 Jahren von 33 Prozent auf 67 Prozent gesteigert.
Der Schwung für das letzte Drittel Rückstand - er fehlt
Für das letzte Drittel aber, das fehlt, um aufzuschließen an den Westen, fehlt der Schwung, dauerhaft. Wirtschaftskraft, Löhne und Produktivität im Osten hinken dem Westen notorisch hinterher.
Joachim Ragnitz, Wirtschaftswissenschaftler und Ost-Experte des Ifo-Instituts in Dresden, meint, dass sich die Deutschen an die Ungleichheit der Lebensbedingungen gewöhnen sollten: "Die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen bei den Einkommenschancen, die ist in der Tat deutlich unterschiedlich, zwischen Ost- und Westdeutschland, aber eben auch zwischen einzelnen westdeutschen Ländern, also Bayern und Schleswig-Holstein unterscheiden sich da auch ganz massiv, selbst innerhalb einzelner Länder, so zwischen Bayerischem Wald und München sind die Unterschiede riesig, die kriegt man aber auch nicht aus der Welt geschaffen, auch durch noch so viele Subventionen nicht, an die wird man sich gewöhnen müssen."
Die westdeutschen Ökonomen hatten als Folie für den Aufbau Ost allein das Wirtschaftswunder der Fünfziger Jahren vor Augen – als es genügt hatte, eine stabile Währung einzuführen und eine Handvoll marktwirtschaftlicher Anreize zu geben – und schon boomte die Nachkriegswirtschaft.
Das war in den Neunziger Jahren nicht wiederholbar, und die Länder im Osten gewöhnten sich an tatkräftige, besonders aber finanzkräftige Unterstützung aus dem Westen. Es gab, sagt Joachim Ragnitz, von Anfang an keinen Grundkonsens bei der Frage, wie der Aufbau Ost zu bewerkstelligen sei. Die Folgen sind bis heute spürbar: Das Land ist ökonomisch dauerhaft geteilt:
"Gemessen an Einkommenschancen, auch an Beschäftigungschancen werden wir mit diesen Unterschieden sicherlich leben müssen. Man lebt damit aber auch in Westdeutschland schon seit 40, 50 Jahren und die Menschen haben sich da irgendwie auch darauf eingestellt. Es ist nicht wirklich ein großes Problem dort. Die Menschen in Ostdeutschland haben natürlich immer so die Vorstellung, man hat ihnen versprochen, 1990, die blühenden Landschaften, also die Angleichung an das Westniveau. Das wird aber in der Tat so kaum zu erreichen sein.
Ein Blick auf die Landkarte beendet alle Illusionen: Die meisten der 30 Dax-Unternehmen in Deutschland residieren im Westen und Südwesten – in den Neuen Ländern hat kein einziges seinen Sitz.
Dies wird so bleiben, Ragnitz und andere halten es für Traumtänzerei zu glauben, dass westdeutsche Unternehmen mit ihren Hauptsitzen nach Ostdeutschland kommen könnten – und rund um die Zentralen der milliardenschweren Industrie- und Technologiekonzernen ist das Wohlstandsniveau nun einmal spürbar höher als weitab der Produktionsstätten. Deshalb hat Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland eine natürliche Grenze. Auch die Beauftragte für die Neuen Länder, Iris Gleicke, hat dies erkannt: "Transformationsbedingt ist die ostdeutsche Wirtschaft heute von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt und auch international durchaus gut eingebunden. Aber das weitgehende Fehlen von Großunternehmen bleibt ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Arbeitsproduktivität in Ostdeutschland nach wie vor deutlich niedriger ausfällt."
Die Ursachen für diese Entwicklung liegen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung. Als die Treuhand gegründet wurde, waren auch westdeutsche Ökonomen dem Trugbild aufgesessen, die DDR sei die zehntgrößte Industrie der Welt gewesen, vergleichbar mit Großbritannien – die Zahlen, die zu dieser Fehleinschätzung geführt hatten, waren schön gerechnet.
Als man in der Treuhand verstand, wie wenig die ostdeutschen Kombinate nach West-Maßstäben wert waren – erstmals mussten sie ja in einem gemeinsamen Währungsraum konkurrieren – wurde der zweite Fehler begangen. Die großen Verbünde von Betrieben in der ehemaligen DDR, vergleichbar mit Konzernen im Westen, wurden zerschlagen.
Der ehemalige Leiter des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, Ulrich Blum, sieht hier die Ursünde der deutschen Wiedervereinigung, die ökonomisch bis heute nicht gelungen ist: "Man hat immer gesagt, soll die Braut schön sein oder soll sie schlank sein. Und dann hat man die Betriebe, es waren ja keine Unternehmen, zurechtgeschnitten auf die Produktion im Rahmen ihrer Kernkompetenz und hat sie verkauft. Damit hat man natürlich die ganzen Lieferketten in Ostdeutschland zerschnitten."
So gab es in Ostdeutschland einen funktionierenden Anlagenbau, eine komplette Hydraulik- und Fahrzeugindustrie. Nachdem die Betriebe einzeln verkauft worden waren, konnten sie, da in kleine Teile zerschlagen, nur an westdeutsche Unternehmen angekoppelt werden.
Er wächst, aber er holt nicht auf, der Osten
Die interne Systematik ostdeutscher Handels- und Zulieferkreisläufe ging verloren. Die Zweit- oder Drittklassigkeit der ostdeutschen Ökonomie war die Folge – obwohl Ulrich Blum und andere diese Erkenntnis seit Jahren publik machen, ist nie versucht worden, die Schäden, die die Treuhand angerichtet hat, zu beseitigen. Joachim Ragnitz aus Dresden sagt, dass dies auch ohne Weiteres nicht möglich ist. Die Würfel sind gefallen: "An dieser Verteilung der Großunternehmen in Deutschland, auch es Wohlstandes in Deutschland, stark im Süden oder Südwesten, schwach im Norden, wenn man von Hamburg absieht, und ganz schwach im Osten, dieses Bild ist schon in der Vergangenheit sehr persistent gewesen und das wird auch die nächsten 30, 40 Jahre das Bild in Deutschland prägen."
Heute liegt die Leistungskraft Ostdeutschlands auf einem Niveau, das die alte Bundesrepublik zu Beginn der achtziger Jahre erreicht hatte. Man kann den Rückstands des Ostens also mit 30 Jahren beziffern – damit ist er etwa genauso groß wie zu Beginn der neunziger Jahre, als in der ehemaligen DDR die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik der Sechzigerjahre erreicht hatte.
Das bedeutet, dass der Osten zwar wächst – aber er holt nicht auf. Erstaunlicherweise gilt dies sogar für die Länder, die gerne vorgezeigt werden, Thüringen und Sachsen. Positiver ist das Bild, wenn man sich die Einkommen ansieht. Durchschnittlich wird in Ostdeutschland 83,7 Prozent der Westlöhne und –gehälter erreicht – Dass dies so weit über der ökonomischen Potenz liegt, hat vor allem Transferleistungen als Ursache.
Neben den Mitteln aus dem Länderfinanzausgleich, dem Solidaritätszuschlag und dem Solidarpakt sind es vor allem Gelder aus den Sozialversicherungen, die vom Westen in den Osten geflossen sind, netto etwa 75 Milliarden Euro jährlich, seit dem Mauerfall mindestens eineinhalb Billionen Euro. Dass ein Großteil dieser Summe nicht gezahlt wurde, weil die benachteiligten Regionen im Osten darum gebeten hätten, sondern weil der Bund dazu verpflichtet ist, ändert Klaus-Heiner Röhl zufolge, Experte für Strukturwandel am Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, nichts an der Tatsache, dass es im wiedervereinigten Deutschland bei den Finanzströmen eine schiefe Ebene gibt, seit 24 Jahren: "Wenn da Gesamtsummen genannt werden von bis zu 1,5 Billionen Euro, die geflossen sind seit der Wiedervereinigung, dann sagen die Ostländer und die Ostkommunen natürlich: Moment, da sind ja auch allgemeine staatliche Leistungen mit drin, die einfach nach Bundesgesetz ausgegeben werden müssen, und der Ökonom sagt dann vielleicht: ja gut, aber das Geld dafür wäre halt nicht da gewesen, wenn es nicht als Transfer letztlich vom westdeutschen Steuerzahler gekommen wäre."
Schon jetzt sagen Ökonomen voraus, dass ein Rückgang dieser Zahlungsströme, beispielsweise durch das Auslaufen des Solidarpaktes II, oder durch schrumpfende Rentenansprüche, auf die Neuen Länder ungut wirken wird: Die Nachfrage wird sinken, die ohnehin schwache wirtschaftliche Dynamik damit auch. Es gilt daher heute, was 1990 galt: Der Wohlstand in den Ostländern wächst allein durch die Zuschüsse aus dem Westen. Einen Aufschwung aus eigener Kraft gibt es im Osten nicht. Iris Gleicke sagt: "Damit können wir jedenfalls nicht zufrieden sein. Deshalb ist die weitere Stärkung der Wirtschaftskraft unbedingt erforderlich. Denn sie sichert und schafft Arbeitsplätze, verbessert die Steuerkraft der Länder und hat positive Wirkung auf die Länderhaushalte."
Die Forderung nach weiteren Subventionen ist seit Jahren zum selten hinterfragten common sense geworden – es fehlt den deutschen Politikern, unabhängig vom Parteibuch, schlicht an Phantasie für Alternativen – es wird nicht einmal hinreichend evaluiert, ob die Subventionen der Vergangenheit zu den gewünschten Ergebnissen geführt haben.
Der Reflex auf die ernüchternde Bilanz des Jahresberichts zur Deutschen Einheit – mehr Subventionen, langfristiger und an weniger Bedingungen geknüpft – kam prompt, zum Beispiel von Gregor Gysi, dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag: "Da geht es nicht nur um den Osten. Da geht es um ganz Deutschland. Die Abstände werden immer größer. Es gibt Regionen, die entwickeln sich gut und es gibt andere Regionen, die entwickeln sich schlecht. Dort leben auch die Menschen viel schlechter. Das ist, wenn man so will, sogar grundgesetzwidrig. Also erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie Mittel zur Verfügung stellt, um gerade die schwach entwickelten Regionen voran zu bringen."
Dabei zeigen die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre, dass genau dies nicht geschehen ist – Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden warnt sogar davor, dass, wenn sich die bisherige Förderpolitik nicht ändert, die Unterschiede zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen in Ostdeutschland zunehmen könnten. Vom Ziel einer Gleichwertigkeit der Einkommenschancen wäre man dann noch weiter entfernt als heute. Die Lausitz und die Altmark, aber auch Teile des Erzgebirges und Vorpommerns könnten auf Dauer zu einem deutschen Mezzogiorno werden: "Mit Subventionen ist das nicht wirklich zu beheben, Unternehmen wachsen, wenn sie Forschung und Entwicklung machen, wenn sie Innovation haben, wenn sie gute Facharbeiter haben, das sind alles Faktoren, die in Ostdeutschland nicht so wirklich stark ausgeprägt sind. Das kann man auch mit staatlichen Hilfen nicht wirklich ausgleichen."
Die Unbekümmertheit, mit der die Politik diese Vorhersagen ignoriert, macht Ragnitz nach eigener Aussage große Sorgen. Dabei gibt es unter den Landespolitikern, die näher an der ostdeutschen Praxis sind als die Bundestagsabgeordneten in Berlin, durchaus Stimmen, die die Sache differenzierter sehen. Helmut Holter beispielsweise, Vorsitzender der Linksfraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns, verweist auf die vielen Investitionen, die aufgrund der Förderung bereits getätigt wurden.
Holter muss es wissen. In den Jahren 1998 bis 2006, in denen besonders intensiv gefördert wurde, war er Minister für Arbeit und Bau in seinem Bundesland. Es ist an der Zeit, das Geschaffene zu würdigen, sich aber auch kritisch zu fragen, ob es so weitergehen kann wie bisher, sagt Helmut Holter: "Da kann ich schon verstehen, dass so mancher westdeutscher Bürgermeister, oder auch einfach Bürgerin und Bürger neidisch auf den Osten gucken, man braucht sich nur die Städte angucken, die durch Städtebaufördermittel voran gebracht wurden, oder bei uns an der Ostseeküste, was da an touristischer Infrastruktur geschaffen wurde, das ist schon vom Feinsten und das kann sich alles sehen lassen, und darauf kann man auch stolz sein."
Subvention - Segnung, aber auf Dauer auch ein Fluch
Trotz der Segnungen, die die Subventionen für die touristischen Gebiete an der Ostseeküste gebracht haben, plädiert Holter dafür, sich andere wirtschaftspolitische Instrumente anzusehen. Will man erreichen, was implizit versprochen ist, eine Angleichung der Wohlstandschancen zwischen Alten und Neuen Ländern bis zum Jahr 2020, wenn der Solidarpakt ausläuft und die Bundesregierung auf eine neue, vom Ost-West-Gefälle unabhängigen Strukturförderung umstellt, kann die Wirtschaft Holter zufolge nur angeregt werden, indem die Nachfrage gesteigert wird. Die durchschnittlichen Haushalte brauchen mehr Geld, das sie verkonsumieren können. Ob das Versprechen der blühenden Landschaften gehalten werden kann, hat dann nicht mehr nur mit Subventionen zu tun.
"Das hat was mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu tun. Das hängt von dem Lohnniveau ab, welches deutlich angehoben werden muss, dass wir also nicht nur auf Export orientieren können, als Bundesrepublik Deutschland insgesamt, sondern eben auch die Binnenkaufkraft entwickeln müssen, damit tatsächlich auch die kleinen und mittelständischen Unternehmen von solchen Entwicklungen etwas haben und der Osten ist gerade von diesen Unternehmen geprägt."
Die kleinteilige Struktur der ostdeutschen Wirtschaft zu akzeptieren, bedeutet Helmut Holter zufolge, die Löhne zu erhöhen. Auch hier könnte der Gesetzgeber helfen und hat es bereits getan: Die große Koalition wird Mindestlöhne einführen, flächendeckend, und allgemein gültig - Joachim Ragnitz glaubt allerdings, dass das, so gut es gemeint ist, zum Gegenteil führen wird - weil die Produktivität in Teilen Ostdeutschlands so niedrig ist, dass Mindestlöhne Beschäftigung eher noch erschweren.
"Es wäre klüger gewesen, regional differenzierte Mindestlöhne einzuführen, das allgemeine Lohnniveau auch mit zu berücksichtigen, in Ostdeutschland einen gewissen Abschlag vorzunehmen. Es wird ja eine Kommission geben, die da in regelmäßigen Abständen über die weitere Entwicklung des Mindestlohns nachdenken wird, da wird man nicht über Senkungen reden, aber möglicherweise über Differenzierungen."
Für ebenso problematisch halten Ragnitz und sein IFO-Institut die Pläne einer Rente mit 63 für diejenigen Arbeitnehmer, die 45 und mehr Jahre in die Rentenkassen eingezahlt haben. In der DDR haben Erwerbsbiographien früher begonnen als in der alten Bundesrepublik, die Zahl der Berechtigten wird hoch sein und die Rentenkassen über Gebühr belasten - und die frühe Rente setzt seiner Ansicht nach in Zeiten des demographischen Wandels die falschen Signale.
Die strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands werden sich weiter entvölkern. Durch die Blume empfiehlt das IFO-Institut, diesen Zustand zu akzeptieren und besser schon jetzt Strategien zu entwickeln für das Unausweichliche: ein Deutschland mit deutlich weniger als 70 Millionen Einwohnern. Zwar gibt es die Möglichkeit, die Grenzen für Immigranten deutlich weiter zu öffnen als heute, qualifizierte Einwanderer werden aber kaum in die Regionen im Osten ziehen, in denen die Bevölkerung überaltert und ersatzlos wegstirbt.
"Ich sehe ein weiteres Problem, das eigentlich überhaupt nicht diskutiert wird, dass nämlich aufgrund der sehr selektiven Abwanderung in der Vergangenheit gerade die sehr leistungsfähigen Eliten Ostdeutschland verlassen haben. Die sehr aktiven, sehr agilen Menschen, die fehlen in manchen Regionen heute. Das führt dazu, dass es sowohl in den Unternehmen schwierig wird, dort dynamischer zu wachsen, als auch in den öffentlichen Verwaltungen. Dieses Problem wird von der Politik entweder nicht wahrgenommen oder in seiner Bedeutung unterschätzt."
Der Unwillen der Regierenden, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, führt dazu, dass die Skepsis andernorts wächst - und die Meinung, dass eine echte Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West eine Phantasie bleiben wird, wird zunehmend auch vom Mainstream der politischen Kommentatoren übernommen.
Zu einer wirklichen Angleichung wird es wohl niemals kommen
Jens Bisky, Publizist und Buchautor, war bereits 2009 der Meinung, dass den Menschen im Lande reiner Wein einzuschenken ist, wenn um die Frage der blühenden Landschaften geht. Die Ungleichheit wird bleiben, sagt er, es ist besser, sich mit der Wahrheit abzufinden, wie sie ist: "Ich glaube, dass das Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse etwas sehr illusorisches hat, dass es in vielen Bereichen nicht zu schaffen ist, etwa in der Uckermark oder in der Prignitz, da müssen sie andere Wege finden, als die einer einfachen Angleichung."
Aber auch in der Politik wächst die Einsicht, dass es zu einer wirklichen Angleichung der Lebensverhältnisse niemals kommen wird - und diejenigen, die für das fragwürdige Versprechen von den blühenden Landschaften zumindest mit verantwortlich waren, rücken von ihm ab. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble war, als es gegeben wurde, Mitglied im Kabinett von Helmut Kohl.
"Das Wort ist vom damaligen Bundeskanzler Kohl gebraucht worden, weil er natürlich den Menschen auch Hoffnung, Mut machen wollte. Man musste sich ja darauf einlassen. Es ist dann ein bisschen karikierend überzeichnet worden."
Und es ist der Union geglaubt worden, wie es gesagt wurde, was Wolfgang Schäuble bis heute zu verwundern scheint.
"Viele haben ja damals gedacht in der ehemaligen DDR, es würde quasi über Nacht so werden, wie sie geglaubt haben, dass es in der Bundesrepublik ist."
Offiziell setzt die Bundesregierung heute auf den Mittelstand in Ostdeutschland und glaubt, dass einige der notorisch zu klein geratenen Betriebe zumindest das Potenzial haben, zu Großunternehmen zu werden.
Die Meinung aber, dass eine besondere Förderung Ostdeutschlands dazu führen kann, dass die benachteiligten Regionen aufholen, wird in der Bundesregierung immer seltener vertreten. Lieber spricht man davon, künftig ohne Ost-West-Brille fördern zu wollen - und wie sinnvoll es doch sei, die Unterschiede zwischen den Regionen zu erhalten.
"Wir wollen nicht alles gleich machen. Die Unterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Bayern sind so groß wie die zwischen Teilen des Ruhrgebiets und Baden-Württemberg, oder was immer. Es muss einen Ausgleich geben. Aber es müssen die Unterschiede erhalten bleiben. Sonst bräuchten wir kein föderales System."
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