Deutsche Bräuche von Weltrang

Gartenzwerge und Schwarzbrot

Ein Gartenzwerg steht in Dresden (Sachen) auf einer Wiese mit vielen Krokussen.
Der Gartenzwerg - deutsches Kulturgut? © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Von Andrea und Justin Westhoff · 28.10.2015
Spreewaldgurken, Brot, Bier, das Oktoberfest - all das wurde schon von Bürgern oder Verbänden für die UNESCO-Liste "Herausragende deutsche Kulturgüter" vorgeschlagen. Seit 2003 schützt die UNESCO auch die Immaterielle Kultur, wie Bräuche. Nur, was genau ist deutsche Kultur?
"Wir stehen jetzt hier vor einer Knetmaschine, in der wir also unseren Brotteig bearbeiten."
"Deutsches Brot ist einfach Kultur."
Betont Hans-Joachim Blauert, ein Berliner Bäcker.
"In vielen Ländern wird Brot gebacken, diese Geschichte mit der Brotsäuerung kommt ja eigentlich von den Ägyptern und ist schon seit über 6.000 Jahren bekannt, aber in keinem Teil der Welt hat sich so eine Brotvielfalt herausgebildet wie in Deutschland. Also alleine solche Redewendung 'Womit verdient der sein Brot?'"
Frau: "Also das deutsche Brot gehört einfach total zu unserem Lebensalltag dazu. Und ich merke das immer daran: Wenn wir jetzt in Urlaub sind, dass wir dann relativ schnell das deutsche Brot vermissen."
Brotlaibe in der Nahaufnahme
Es gibt über 3.000 Sorten Brot in Deutschland © Oliver Berg/dpa
Tagesschau: "Es lohnt sich durchaus einen genauen Blick zu werfen auf das, was täglich die Backstuben in Deutschland verlässt. Dieses kleine Kunstwerk aus Mehl, Salz, Hefe – vielleicht irgendwann UNESCO-Weltkulturerbe."
Unser tägliches Brot in der Tagesschau. Seit 2014 gehört es offiziell zum deutschen "Immateriellen Kulturerbe".
"Brot."
"Sorbische Bräuche."
"Limmersdorfer Lindenkirchweih."
"Reetdachdecken."
"Der Rattenfänger von Hameln."
"Flößerei."
"Karneval."
"Morsetelegrafie."
"Orgelbau."
"Die Walz der Handwerksgesellen."
Ist das deutsch? Identifizieren wir uns mit diesem Brauchtum? Professor Christoph Wulf ist Vorsitzender der hiesigen Auswahlkommission und, findet:
"Das ist sinnvoll, dass ihr solche kulturellen Praktiken betreibt, daran Freude habt, darüber Gemeinschaft erzeugt, das ist nicht etwas, was in eine politische Ecke gehören muss."
Wolfgang Kaschuba betrachtet die Sache durch die Brille des Ethnologen:
"Je mehr wir den Eindruck bekommen, dass die Globalisierung uns die Räume nicht nur öffnet, sondern auch ein bisschen wegnimmt, umso mehr kommen natürlich solche Fragen ins Spiel: Wer sind wir? Das kann auf der lokalen Ebene sein, kann auf der regionalen oder nationalen Ebene sein, und diese Wir-Identitäten hängen in hohem Maße gerade mit solchen Traditionen, Ritualen und Brauchtümern zusammen, das sind im Kern ja kollektive Rituale."
Wie der deutsche Stammtisch. Aber nicht jeder Brauch, jede Tradition taugt zum Kulturschatz und zum Beleg nationaler Identität. Wolfgang Kaschuba ist auch Mitglied im deutschen Auswahlgremium.
Kaschuba: "Das Programm insgesamt wäre vor allem eben so gedacht, dass eine intensivere Debatte darüber entsteht, wie gehen wir mit Traditionen um? Entsteht daraus so etwas wie ein Wissen von der Gesellschaft, indem wir entweder mehr über die Geschichte wissen oder indem wir Handwerkstechniken oder indem wir andere Wissensformen vom Zusammenleben etwa dann pflegen."
Originalbäcker werden durch Backshops zum Auslaufmodell
Zurück in die Backstube.
"Als Deutschland in viele kleine Staaten geteilt war, entstanden überall regionale unterschiedliche Brotsorten."
Jedes Fürstentum wollte seine eigenen Brotsorten haben. Auch durch die Anbauregionen hat sich eine Brotvielfalt herausgebildet. Das Handwerk – darauf ist Bäcker Blauert stolz.
"Die Roggenbrote, die werden bei uns mit einer Anbacktemperatur von rund 300 Grad gebacken. Schon am Tag vorher muss der Sauerteig geführt werden, das ist also das A und O der handwerklichen Brotproduktion, ..."
Backshops sind dem ambitionierten Bäcker ein Graus:
"Ich sag immer, das sind Bräunungsstudios. Die nehmen also vorproduzierte Teiglinge und schieben die nur noch in den Ofen und machen die braun. Es riecht natürlich, mein Vater hat immer gesagt, 'na ja, Frische schlägt Qualität.' An jeder Tankstelle kriegt man um 17.00 Uhr noch ein warmes – in Gänsefüßchen – 'Brötchen', was ich nicht so bezeichnen möchte, auch nicht essen möchte, die Qualität zeigt sich spätestens dann, wenn es kalt geworden ist; industriell gefertigte Brote sind zwar schön gleichmäßig, da ist eins wie das andere, aber wenn sie so ein Brot nehmen, da können sie sich die Augen mit auswischen und werden keinen Kratzer haben, und für mich muss ein Brot eine richtige Kruste haben, das es knackt, und dann schmeckt das auch."
Der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks möchte die Bezeichnung "Bäckerei" per Handwerksordnung gesetzlich schützen lassen. Denn Originalbäcker laufen Gefahr, zum Auslaufmodell zu werden. In den letzten Jahren hat durchschnittlich eine Bäckerei pro Tag zugemacht. Dafür wird die deutsche Brotkultur exportiert. In der "Akademie Deutsches Bäckerhandwerk" lernen Menschen aus aller Herren Länder – so wie eine Restaurantbesitzerin aus Uganda:
"Unser Plan ist: Nach Hause gehen und eine Bäckerei mit deutschen Produkten aufmachen. Das wird ein Renner."
Wer weiß, vielleicht kriegt die deutsche Brotbacktradition eines Tages wirklich das UNESCO-Weltkulturerbe-Siegel.
Tagesschau: "Das Berliner Landbrot, das Oberkulmer Dinkelbrot und auch der Frankenlaib hätten dann gleichgezogen mit der japanischen Küche oder dem türkischen Kaffee."
Und das deutsche Bier? Es steht nicht auf der Liste. Trotz Reinheitsgebots, worauf das deutsche Brauereigewerbe pocht. Was aber unklug war, sagt Christoph Wulf, der Vorsitzende des Auswahlgremiums.
"Es ist Handwerkswissen, um das es geht, es ist nicht in Fabriken verbreitetes Wissen, das ist nicht unser Thema."
Aber noch ist Hopfen und Malz nicht verloren für das Bier als deutsches Kulturerbe. Denn das Verzeichnis bleibt offen für einen zweiten Anlauf.
27 Nominierte gibt es bisher, darunter viele musikalische Traditionen, identitätsstiftende Bräuche, wie es die UNESCO-Regeln verlangen. Die sächsischen Knabenchöre, die riesige Theater- und Orchesterlandschaft, die deutschen Arbeiterlieder, die Bewegung der Amateurchöre.
Christoph Wulf: "Wir haben 1,4 Millionen Menschen, die in Chören regelmäßig singen, das ist ein wirklicher Teil unserer Kultur."
 "Windsbacher Knabenchor" ist am Freitag (26.03.2010) in Windsbach (Mittelfranken) auf einem Schild zu lesen.
Schild "Windsbacher Knabenchor": In Deutschland singen über eine Millionen Menschen in einem Chor.© picture alliance / dpa / Daniel Karmann
Probe beim Hanns-Eisler-Chor. Gegründet 1973 – nein, nicht in Ost-Berlin, sondern in West-Berlin, von Studenten der Staatlichen Hochschule für Musik bewusst benannt nach einem Komponisten, der bis 1962 in Ost-Berlin gelebt hatte. Denn sie wollten mehr als singen.
Christina Hoffmann-Möller: "Also Gesellschaft irgendwie verändern, und das zu verbinden mit unseren eigenen Fähigkeiten, nämlich des Musikmachens, ..."
Erzählt Christina Hoffmann-Möller, Gründungsmitglied und Chorleiterin:
"... das war sozusagen einer der wichtigsten Impulse, und damals haben wir nur Eisler gesungen, aber das hat sich dann relativ schnell ausgeweitet, wir haben dann Gegenwartskomponisten gehabt, haben uns dann auch Stücke schreiben lassen zu aktuellen Anlässen, also Sachen, die wir verbinden konnten mit unserem sozialen und gesellschaftspolitischen Engagement."
Das Zusammenspiel von Gesang und Politik ist nicht nur charakteristisch für den Hanns-Eisler-Chor, es ist auch einer der wesentlichen Faktoren, warum Laienchöre zum deutschen Kulturerbe gehören. Ende des 18. Jahrhunderts wurden sie Teil der bürgerlichen Emanzipationsbewegung.
Gesang und Politik: das Ringen um nationale Identität in Zeiten der deutschen Kleinstaaterei, die Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit.
Und dann die Arbeiterlieder, die vom schweren Los erzählen und Kampfeswillen ausdrücken.
Arbeitersängervereine schlossen sich zusammen im Deutschen Arbeiter-Sängerbund. Sie dienten als Unterschlupf, nachdem mit Bismarcks Sozialistengesetzen ab 1878 politische Betätigung verboten worden war.
Die bürgerliche Jugendbewegung "Wandervogel", gegründet Anfang des 20. Jahrhunderts, stimulierte die Chor-Kultur in Deutschland.
"Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken und damit das allgemeine Band, das alle umschließen soll."
Chorsingen wurde häufig politisch missbraucht
Das rief Kaiser Wilhelm 1903 den Sängern beim alljährlichen Sängerwettkampf zu. Deutsche Sangeskultur für Kaiser und Vaterland. Und einige Zeit später für die braunen Machthaber. Der Deutsche Sängerbund kürte den Nazi-Chefideologen Alfred Rosenberg zum Ehrenvorsitzenden. Und folgte dessen kulturpolitischer Idee, ...
"... das Singen zu nutzen, um den ganzen deutschen Menschen zu erfassen"..
Das Amateur-Chorsingen zeigt exemplarisch auch die Brüche deutscher Geschichte. Christoph Wulf sagt dazu:
"Diese Traditionen sind ganz oft missbraucht worden, um den völkischen Geist zu fördern, und das hat gerade in der 68er Generation eine große Skepsis diesen Dingen gegenüber erzeugt."
Schon 1956 hatte der Philosoph Theodor Adorno geschrieben: "Nirgends steht geschrieben, dass Singen Not sei".
Obwohl ein "Kind der 68er", ließ sich der Hanns Eisler-Chor nicht vom Singen abbringen, erzählt Christina Hoffmann-Möller. Sie hielten sich da an Brecht, der gesagt hatte, er sei nicht bereit, bei einem Konzert sein Gehirn an der Garderobe abzugeben.
Hoffmann-Möller: "So muss der Chor auch nicht als dumpfe Masse singen, im Gegenteil, das ist ja genau das, was wir versucht haben zu verändern, indem wir Programme machten, wo wir kommentierten."
Unter anderem der Hanns Eisler Chor sorgte für eine Initialzündung für das kulturelle, nicht-kirchliche Chorleben in Westdeutschland. So stehen nun auch die Lieder der deutschen Arbeiterbewegung auf der Liste der Kulturerbe-Vorschläge. Ein paar der bekanntesten hat Hanns Eisler komponiert.
Ja, das hat einige schon erstaunt: Arbeiterlieder als Teil des deutschen Kulturerbes? Wurden sie doch nach 1945 fast ausschließlich – und auf sehr ideologische Weise – in der DDR gepflegt. Andererseits: Die mehr als vierzigjährige Teilungsgeschichte gehört eben auch zu unserer kulturellen Identität.
Manchmal ist es mit dem bundesdeutschen Kulturerbe-Verzeichnis wie beim Sichten eines Familiennachlasses: Gerührt betrachtet man das eine oder andere liebevoll aufbewahrte Kleinod und fragt sich am Ende: Was soll's?
Bericht Finkenmanöver: "Behutsam tragen die Finkenväter ihren größten Schatz. Buchfinken-Hähne im verhüllten Käfig. So können die Finken die vermeintlichen Rivalen hören und singen gegen sie an."
Ein Beucher des traditionellen Finkenmanövers in Benneckenstein (Sachsen-Anhalt) steht am 09.06.2014 vor einem Finkenkäfig. In weiß umhüllten Käfigen sitzen die Buchfinkenhähne unter der Obhut einer fachkundigen Jury, um mit möglichst zahlreichen Sangesstrophen die geflügelten Kontrahenten zu überstimmen. Seit über 130 Jahren pflegen die Benneckensteiner die Tradition des Finkenwettstreites. 
Ein Beucher des traditionellen Finkenmanövers in Benneckenstein vor einem Finkenkäfig.© picture alliance / dpa / Matthias Bein
Die "Finkenmanöver im Harz", als deutsches Kulturerbe vorgeschlagen von Sachsen-Anhalt. Der MDR berichtete darüber. Eine alte Tradition. Früher wurden dort die kleinen Singvögel mit Leimruten und Netzen gefangen, um sie zu verspeisen. Dagegen ist der Sängerwettstreit der Finken im Harz ein schöner Frühlingsbrauch.
Bericht Finken: "Dieser Finkenvater hat mit seinem Schützling in den vergangenen Wochen Waldspaziergänge gemacht, um ihn an die Gesänge – die "Schläge" – fremder Finken zu gewöhnen."
Tierschützer sind trotzdem dagegen – auch gegen die Auszeichnung als deutsches Kulturerbe. Sie vergleichen die Finkenmanöver mit dem spanischen Stierkampf, der es wegen Tierquälerei ja auch nicht auf die UNESCO-Liste geschafft habe.
Man stelle sich vor, der Kampffinken-Brauch würde auf der Weltbühne als deutsches Kulturerbe deklariert. Dann würden die Gartenzwerge lange Gesichter machen, denn sie nicht einmal national nominiert, das Skatspiel auch nicht und die Thüringer Klöße auch nicht.
Fragen über Fragen: Was hat die Limmersdorfer Lindenkirchweih tausend anderen Volksfesten in Deutschland voraus? Oder die Morsetelegrafie: Ist sie ein "Zeugnis lebendiger deutscher Alltagskultur"?
Monika Grütters: "Das sind vor allen Dingen regionale Besonderheiten, die aber in ihrer Summe unsere ganze deutsche nationale Identität ausmachen."
Fülle von Kultur wegen Vielstaaterei
Sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Vorstellung der deutschen Liste zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Und der Präsident des Deutschen Kulturrates, Professor Christian Höppner, ergänzt:
"Wir haben durch die Vielstaaterei eine Fülle von kulturellen Produktionen und viele sehr unterschiedliche Traditionen."
Das Wesentliche am deutschen Verfahren und der Unterschied zu allen Ländern ist die Selbstbewerbung. Jeder kann das tun. Aber nach den Regeln der UNESCO.
Deshalb haben es die Schützen auch nicht geschafft. Weil eine ihrer Bruderschaften nicht offen für alle war: Sie wollten einen muslimischen Schützenkönig in den höheren Bezirkswettbewerben nicht mehr mitschießen lassen. Laut Satzung dürften das nur "christliche Menschen".
Das ist inzwischen vom Tisch und das deutsche Schützenwesen wird demnächst womöglich doch zum nationalen Kulturerbe gehören. Denn die Liste ist offen für immer weitere Vorschläge aus allen deutschen Landen.
"Liebe Gäste aus fernen Gegenden Deutschlands, die Sie gekommen sind nach Nordfriesland hierher, um heute am 21. Februar Biike zu feiern, das Nationalfest der Friesen."
Kinder stehen in Simonsberg an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins auf der Halbinsel Eiderstedt vor einem Biikefeuer. Die Nordfriesen wollen mit den lodernden Flammen, Essen, Trinken und Tanzen den Winter von ihren Küsten vertreiben. Das Biikebrennen gilt als ältester nordfriesischer Brauch.  
Biikebrennen: Kinder stehen in Eiderstedt vor einem Biikefeuer. © picture alliance / dpa / Christian Hager
Da freut sich der Bürgermeister von Nibüll. "Biike" bedeutet Zeichen, Seezeichen oder Feuermal. Riesige Holz- und Reisighaufen werden aufgeschichtet und angezündet. Früher, um böse Geister zu vertreiben oder um die Walfänger zu verabschieden. Nachdem die Tradition etwas eingeschlafen war, erhielt das Fest neue Impulse durch ein wieder erstarkendes nordfriesisches Regionalbewusstsein seit den 1970er Jahren. Mit vorläufigem Höhepunkt 2014.
"In diesem Jahr etwas ganz besonders, weil das Biikefest jetzt in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden ist."
Gut für die Friesen und ihr Wir-Gefühl ist es allemal – vielleicht schön anzusehen. Aber der Ethnologie-Professor Wolfgang Kaschuba, runzelt die Stirn:
"Also das friesische Biikebrennen würde sicherlich nicht auf die Weltliste kommen, da müssten die schon noch ein paar Schippen drauflegen sozusagen auf die Feuer, aber: Die eine Seite ist die nationale Liste und die Prämierung. Und da könnte es dann eben sein, dass eine Tradition wie Biikebrennen eben nur exemplarisch steht für eine lokale Tradition, in der sich so etwas wie friesische Wir-Gefühle verbinden mit dem Tourismus, für den das natürlich auch eine Inszenierung ist, die andere Seite aber ist uns eben auch sehr wichtig, dass wir mit der Nominierung und der Debatte darüber einen Prozess beginnen."
Noch gibt es für keine deutsche Tradition das internationale Gütesiegel. Aber einer der 27 Vorschläge im bundesdeutschen Kulturerbe-Verzeichnis hat es doch schon eine Stufe höher geschafft.
Kaschuba: "Wir haben jetzt die Genossenschaften nominiert für die Weltliste, weil wir damit ein Zeichen setzen wollten, dass es nicht primär um regionale oder nationale Traditionen nur gehen kann, sondern hier kommen Traditionen der Arbeiterbewegung, Traditionen der Stadtgeschichte zusammen mit aktuellen Bewegungen, die wir gerade in den Städten haben, wie Menschen hier zu Wohnraum kommen und das im genossenschaftlichen Wege verfolgen."
Gemeinsinn als Teil deutschen Kulturerbes – ein Hauch von alternativem Nobelpreis wird spürbar, wenn man an Agenda 2010 und die Ich-AGs denkt.
"Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele – das ist der Kern unserer genossenschaftlichen Idee."
Heißt es in dem Bewerbungsvideo der Genossenschaftler. Diese Idee verweist auf ein zentrales Kapitel deutscher – und auch europäischer – Geschichte. Bauernbefreiung, Landflucht und Industrialisierung hatten dramatische soziale Missstände im 19. Jahrhundert zur Folge: Verarmte Kleinbauern und Handwerker drängten in die neu entstandenen Fabriken. Das Heer der Arbeiter wuchs und damit auch massenhafte Verelendung in den Städten.
Was tun? Fragte Hermann Schulze, Oberbürgermeister von Delitzsch: "Hermann Schulze-Delitzsch rief 1850 aus Mangel an Kapital unter den kleinen Gewerbetreibenden den Delitzscher Vorschussverein ins Leben und gab damit die Chance für eine berufliche Neuorientierung."
Vorläufer der Genossenschaft gab es schon im Mittelalter
Er sah, wie die kleinen Handwerksbetriebe unter dem Druck der Industriekonkurrenz zusammenbrachen. Darum gründete Schulze-Delitzsch die erste Produktionsgenossenschaft von Schuhmachern.
Hinzu kam Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Der Bürgermeister aus Flammersfeld im Westerwald empörte sich besonders über die Wucherzinsen für arme Bauern. Er organisierte bäuerliche Zusammenschlüsse und Darlehenskassen für "unbemittelte Landwirte", aus denen das bis heute erfolgreiche Agrargenossenschaftswesen und vor allem die Raiffeisenbanken wurden. In vielen Städten entstanden bereits um 1850 erste Wohnungsbaugenossenschaften.
Bewerbungsvideo: "Genossenschaften sind für alle ein Gewinn."
Vorläufer gab es schon im Mittelalter: Vereinigungen, um Deiche zu erhalten oder Knappschaften im Bergbau. Und der Schotte Robert Owen hatte bereits 1799 versucht, die Arbeiter in seiner Baumwollspinnerei gemeinschaftlich zu organisieren.
Dennoch darf sich die Genossenschaftsidee als deutsches Kulturerbe verstehen: Nirgendwo sonst ist sie so konsequent entwickelt und gelebt worden wie hierzulande –durch die gesamte deutsche Geschichte hindurch.
LPG-Lied der DDR: "Noch ist es gar nicht lange her, da pflügtest du dein Feld allein."
Das Lob der Genossenschaft als "DDR-Operette":
LPG-Lied: "Jetzt bist du in der LPG, in der LPG, bald wird die Arbeit leichter sein."
Die Genossenschaftsidee ist für die DDR-Geschichte ebenfalls von zentraler Bedeutung gewesen. Was in der Bewerbung zur Kulturerbe-Liste nicht erwähnt wird: Nach 1945 förderte die Sowjetische Militäradministration im Osten Deutschlands genossenschaftliche Zusammenschlüsse. Neben den LPGs, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, entstanden Wohnungs-, Konsum-, oder Produktionsgenossenschaften – anfangs freiwillig. Allerdings wurden sie staatlich kontrolliert. Dann folgte um 1960 die Zwangskollektivierung.
LPG-Lied: "Bald wird die Arbeit leichter sein."
Einige Genossenschaften blieben auch nach der Vereinigung im Osten erhalten, nun wieder nach den althergebrachten Grundsätzen: Solidarität und Selbstverantwortung.
Kinder: "Einer für alle, alle für einen."
... lernen schon die Jüngsten in "Schülergenossenschaften". Für Traditionsweitergabe wird also gesorgt. Die Idee hat in den 160 Jahren ihrer Geschichte nicht an Kraft verloren, heißt es stolz in dem Bewerbungsvideo:
"Die Kulturform der Genossenschaften hat bis heute eine hohe Bedeutung für den Alltag, in Deutschland und weltweit. Sie reicht von der Windenergie bis zum Kaffeeanbau und von ersten ökonomischen Erfahrungen in Schülergenossenschaften bis hin zur Absicherung im hohen Alter in einer Senioren-Wohnanlage."
Etwa 20 Millionen Menschen sind heute in Deutschland genossenschaftlich organisiert, über 800 Millionen weltweit. Nicht zufällig hatte die UNO 2012 zum Jahr der Genossenschaften erklärt.
Trotzdem: Die Genossenschaftsidee als erste deutsche Nominierung für die Internationale Kulturerbe-Liste – in direkter Konkurrenz mit der kubanischen Rumba, den griechischen Neujahrsfeiern, dem indischen Yoga oder der türkischen Cini-Porzellan-Herstellung ...
Christoph Wulf: "Natürlich überrascht das ein bisschen, das ist mir nachvollziehbar, aber es geht um den Kulturbegriff."
Sagt der Vorsitzende des deutschen Auswahlgremiums, Christoph Wulf:
"Begreifen wir Kultur im Sinne von Tänzen, Gesängen oder haben wir diesen etwas weiteren Kulturbegriff, wo es im Grunde auch die Praktiken des sozialen Lebens sind, die zur Kultur gehören?"
Mottowagen mit Wappen der Stadt Köln vor der Severinstorburg, aufgenommen beim Rosenmontagszug 2014 in Köln
Mottowagen mit Wappen der Stadt Köln vor der Severinstorburg, aufgenommen beim Rosenmontagszug 2014 in Köln© dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Natürlich gehört zur deutschen Kultur und Identität auch, dass man feste feiern kann – und Feste feiern: So stehen auf der Erbe-Liste die Passionsspiele in Oberammergau oder die Bräuche der Sorben, vor allem aber der Karneval:
ABCD: Aachen, Bonn, Colonia – also Köln –, Düsseldorf: die Jecken-Hochburgen am Rhein sind deutsches immaterielles Kulturgut, gemeinsam.
Leifeld: "Es gibt ja so eine Art von rheinischer Kultur, von rheinischer Identität, von einem rheinischen Lebensgefühl möchte ich fast sprechen, die Unterschiede würde ich als marginal bezeichnen."
Sagt Dr. Marcus Leifeld. Er ist Historiker und war als Mitglied des Bonner Festkomitees maßgeblich beteiligt an der Bewerbung. Für ihn ist Karneval als Teil der regionalen Identität typisch für die deutsche Kultur, die nicht homogen sein kann.
Leifeld: "Die alte geburtständische Gesellschaft ist untergegangen, eine bürgerliche Gesellschaft musste sich entwickeln, nicht nur das, sondern das Rheinland wurde nun auch zunächst von Paris aus regiert, dann ab 1815 von Berlin aus, und in dieser Situation fürchteten die Rheinländer einfach um den Verlust ihrer Traditionen, um den Verlust ihrer Identität, und das beantworteten sie damit, dass sie einen neuen Karneval entstehen ließen."
Die ehemals freie Reichsstadt Köln ging voran.
Leifeld: "Der erste Rosenmontagszug 1823 der war nichts anderes als eine identitätsstiftende Rückbesinnung auf die guten alten Zeiten."
Es ging aber nicht nur um Nostalgie: Die Umzüge stellten auch eine Parodie der rheinischen Katholiken auf die preußisch-protestantische Besatzung mit ihren Märschen und Paraden dar. Der kleine Widerstand schweißte die Jecken aus der Nachbarschaft zusammen.
Karnevalistin: "Deswegen stehen wir ja auch hier. Da kann man sich für freinehmen und das Brauchtum pflegen."
Umzüge, Kapellen, Tänze, Handwerkstechniken beim Wagenbau, Sitzungen mit Liedern und Reden im Dialekt.
Leifeld: "Was auch in allen Orten ist: Man guckt in den Zügen über die Lieder und in den Reden auf all das, was die Menschen übers Jahr hinweg bewegt hat. Und das führt natürlich in den einzelnen Orten, aber auch im Rheinland insgesamt zu einem kulturellen Gedächtnis und zu einer Identität."
Und weil die bundesweite Kulturerbesammlung "die nationale Identität in ihrer regionalen Vielfalt" zeigen soll, hat es auch die schwäbisch-alemannische Fastnacht auf die Liste geschafft.
Die "Fasenacht" im Süden Deutschlands ist ebenfalls eine sehr alte Tradition, aber anders als der städtische rheinische Karneval eher im Dörflichen verwurzelt. Und eng verbunden mit der lokalen Volks- und Handwerkskunst: Total vermummt, mit geschnitzten Holz-Masken und handgefertigten Kostümen ziehen die Narren durch die Orte. So wie vielerorts wurden ursprünglich heidnische Frühlingsbräuche und Umzüge zur Geistervertreibung irgendwann verbunden mit dem christlichen Schwellenfest vor der Osterfasten-zeit.
Ein Spiel mit Identitäten: Maskieren, Verkleiden, jemand anders sein. Unterschiede zurückstellen. Zumindest im Karneval gilt die rheinische "Toleranzformel": "jede Jeck is anders".
Karnevalistin: "Und das ist einfach klasse, da gehst Du hier hin und lernst irgendwen kennen. Und dann bist Du dabei. Und da ist wirklich egal, was das für eine Hautfarbe ist oder sonst irgendwas."
In solchen Karnevalstraditionen steckt etwas von der Idee, die der Suche nach dem immateriellen Kulturerbe zugrunde liegt: dass kulturelle Identität nichts Starres ist, sagt Wolfgang Kaschuba:
Kaschuba: "Man kann vielleicht bis in die 1950er, 60er Jahre eher sagen: Wir werden hineingeboten in kulturelle Zusammenhänge und dann blieb ich mein Leben lang: katholisch, muslimisch, Handwerker-Tochter oder Professoren-Sohn. Heute haben wir sehr viele Wahlmöglichkeiten. Wenn wir viele kleine Identitäten haben, können wir mit denen spielerischer umgehen, als wenn wir eine große schwere haben, die gerade in der europäischen Geschichte eben oft zu Mord und Totschlag geführt haben."
Mehr als Berliner Museumsinsel und Kölner Dom
Die Europäer haben sich lange einem erweiterten Kultur- und Identitätsbegriff verweigert, wie ihn die UNESCO vorsieht. Nur zögerlich sind sie der "Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes" beigetreten, Deutschland besonders spät. Lange waren die großen Nationen der Meinung, dass allein Bauten Völker repräsentieren können. Der Vorsitzende des hiesigen Auswahlgremiums, Professor Christian Wulf:
"Und nun kamen einige Länder und einige Kulturen und sagten, na ja: wir haben nicht solche große Bauten, aber wir haben natürlich auch Kultur. Tänze, Gesänge Handwerkwissen, zumal ja oft diese Bauten nur entstehen können, wenn es Praktiken gibt, immaterielle Praktiken, mit denen die gebaut und hergestellt werden können."
Vielleicht trägt die Diskussion um immaterielles Kulturerbe dazu bei, den Blick zu erweitern: kulturelles Erbe gibt jenseits von Kölner Dom, Berliner Museumsinsel oder Bayreuther Hügel.
"Wir sind damit auch noch mal an einer Aufarbeitung der historischen und aktuellen Vorstellungen von: Wer sind wir? Ist das so etwas wie die heimliche Alltagsleitkultur, diese Brauchtümer, die wir haben? Also da sehen wir schon, dass die Zeiten, in denen dieses in einer abgeschotteten Nische stattgefunden hat, vorbei sind, und das ist ja auch gut so."
Ergänzt Wolfgang Kaschuba, Mitglied der Kommission. Wobei nach seiner Ansicht deutsches immaterielles Kulturerbe noch zu provinziell ist, zu wenig die postnationale Moderne widerspiegelt:
Kaschuba: "Wir haben zuviel Ländliches, wir haben noch zu wenig Städtisches, wir haben auch zuviel nur Altes, wir haben noch wenig Traditionen, die eben gerade auch in einer Zivilgesellschaft eine Rolle spielen, was ganz normal ist, denn der normale Gesangverein oder Schützenverein, denkt natürlich automatisch, wir sind Kulturerbe, also wenn wir vom Kegelverein bis zu den Theatern, wenn wir von Handwerkstraditionen bis zu migrantischen Praktiken die Dinge zusammenbringen mit unserem aktuellen Leben in der Gesellschaft, dann ist das genau das, was lebendige Tradition ausmacht."
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