Deutsche Aids-Gesellschaft hofft auf aktivere Rolle der neuen Bundesregierung

Jürgen Rockstroh im Gespräch mit Katrin Heise · 11.11.2009
Der Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft, Jürgen Rockstroh, wünscht sich von der neuen Bundesregierung ein klares Bekenntnis dazu, wie deren Aids-Arbeit in Zukunft aussehen soll. Deutschland habe bisher bei der Forschungsförderung eher eine passive Rolle gespielt.
Katrin Heise: Das erste Mal wurde der HI-Virus in einer Blutprobe schon 1959 entdeckt. In Deutschland gab es die erste Aids-Diagnose vor 27 Jahren, und ab Mitte der 80er-Jahre lief die Aufklärungskampagne. Das Leben der Infizierten hat sich in dieser ganzen Zeit dank der medizinischen Fortschritte sehr verändert, es konnte mit wirksamen Medikamentenkombinationen verlängert werden – das ist natürlich eine gute Nachricht. Auf der heute beginnenden 12. Europäischen Aids-Konferenz in Köln steht das Thema Altwerden trotz Aids im Vordergrund. Ich begrüße den Präsidenten der Deutschen Aids-Gesellschaft, der auch der Konferenz vorsitzt. Guten Tag, Professor Jürgen Rockstroh!

Jürgen Rockstroh: Ja, schönen guten Tag!

Heise: Wie alt kann man denn mit Aids tatsächlich werden?

Rockstroh: Ja, also wenn jemand sich heute mit 35 Jahren neu mit HIV infiziert, dann sind die Hochrechnungen, dass er noch 40 Jahre Lebenserwartung hat, also 75 wird, was ja dann schon fast dem Alter entspricht, das man in der Normalbevölkerung auch erzielen kann.

Heise: Unterscheiden Sie da eigentlich – Sie haben es jetzt gerade gesagt – mit HIV infiziert und der Aids-Erkrankung dann tatsächlich? Hat das einen Unterschied auf die Sterblichkeit oder beziehungsweise die Lebenserwartung?

Rockstroh: Ja, es gibt einen Riesenunterschied, denn HIV-positiv sein heißt ja nur, dass man den Virus im Körper hat. Aids heißt, die Erkrankung ist ausgebrochen. Viele Menschen kennen ja ihre Diagnose HIV gar nicht. Ein Drittel von denen in Deutschland, die HIV haben, kennen eben ihre Diagnose nicht, und von denen kommt immer wieder ein Teil zu uns in die Behandlung, wenn die Erkrankung dann ausbricht. Das heißt, es tritt eine schwere Erkrankung auf und in dem Zusammenhang wird erst HIV diagnostiziert. Und das ist natürlich dann leider, weil schon eine schwere Infektion, zum Beispiel eine Lungenentzündung, vorliegt, kann das alleine schon zum Tod führen, ohne dass überhaupt die Erfolge der Therapie, wie wir sie heute haben, Patienten dann sozusagen zugutekommen.

Heise: Das heißt, in dem Moment, wo man als HIV-infiziert noch nicht als aidskrank gilt, aber als infiziert, kann man auf jeden Fall schon behandelt werden?

Rockstroh: Das ist die heutige Empfehlung, denn die Fortschritte der Medizin sind ja im Wesentlichen, dass wir jetzt besser verträgliche, einfacher einzunehmende Medikamente haben. Und wir haben gelernt, dass HIV unbehandelt, auch wenn man gar nichts merkt, doch schon Veränderungen setzt. Denn HIV ist ja ein Virus im Körper, löst eine Entzündungsreaktion hervor, diese Entzündungsreaktion führt das Immunsystem in einen aktivierten Zustand, es kommt zu Veränderungen an den Gefäßen, zu Veränderungen an den Nieren, an der Leber, und das kann dann zum Beispiel zu mehr Herzinfarkten, mehr Gefäßverkalkungen und so weiter führen.

Heise: Das heißt, dagegen gibt es denn eben einen ich nenne es jetzt mal Mix aus Medikamenten, das muss man dann ja auch sein Leben lang einnehmen. Wie sieht denn das mit Nebenwirkungen aus?

Rockstroh: Ja, das ist halt meines Erachtens nach wie vor eines der ungelösten Probleme, denn wir reden zwar jetzt ganz euphorisch von den medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten, müssen uns aber auch klarmachen, dass diese Medikamente teilweise ja erst zwei, drei Jahre auf dem Markt sind. Und wie ist das denn, wenn man die 40 Jahre einnimmt? Wir wissen von Medikamenten, die schon länger auf dem Markt, also 10, 15 Jahre, dass da eben doch eine ganze Reihe von Nebenwirkungen vorhanden sind, unter anderem auch manche Präparate auch mit einem Anstieg des kardiovaskulären Erkrankungsrisikos, also mehr Herzinfarkte verbunden ist. Es gibt Fettstoffwechselstörungen, es gibt Fettumverteilungsstörungen, es gibt Nierenveränderungen, also auch hier haben wir natürlich eine ganze Reihe von Problemen. Allerdings muss man sagen, dass wir zumindestens gegenüber den Medikamenten der ersten Generation hier doch eine ganze Reihe von Durchbrüchen jüngst erzielen konnten.

Heise: Was bedeuten denn diese Nebenwirkungen in der Kombination mit dem Altern des Körpers? Potenziert sich da auch noch mal die Gefahr?

Rockstroh: Genau. Also das heißt, wenn HIV selber trägt einen bestimmten Anteil an diesen Veränderungen, Medikamenten-Nebenwirkungen können das auch noch mal verstärken, und dann hat man ja schon sozusagen zwei zusätzliche Faktoren neben vielleicht schon vorhandenen Faktoren. Es wird mehr geraucht bei den HIV-positiven Patienten, wir haben auch mehr männliche Patienten im Moment in Deutschland, nicht weltweit, aber hier, und das trägt natürlich noch mal unabhängig auch zum Beispiel für ein höheres Risiko mit bei.

Heise: Wenn wir jetzt, was ja doch die positive Nachricht dabei ist, immer älter werdende HIV-Infizierte haben, wo und wie können die denn eigentlich auch in Würde alt werden, das heißt, sind Heime, sind Krankenhäuser eigentlich darauf eingerichtet oder auch nur problembewusst?

Rockstroh: Ziel des Europäischen Aids-Kongresses ist es ja eben, das zum Thema zu machen, damit wir uns alle mal nachdenken, haben wir eigentlich die besten sagen wir mal auch begleitenden Untersuchungen. Messen wir bei jedem Patienten regelmäßig den Blutdruck, machen wir Zuckerkontrollen, und wenn jemand zuckerkrank wird, behandeln wir dann selber oder müssen wir an Fachärzte überweisen? Können wir all diese überhaupt adäquat behandeln und müssen wir nicht sagen wir mal so Art Netzwerke bilden mit entsprechenden Partnern, die mit Osteoporose, mit Zuckerkrankheit und so weiter besser umgehen können? Ich glaub, das verlangt einfach auch nach einer besseren Weiterbildung in der HIV versorgenden Ärzteschaft, aber auch im Aufbau von Kooperationen. Sie haben gesagt, Operationen häufig ein Problem. Man sucht jemanden, kleinere Krankenhäuser haben vielleicht noch nie einen HIV-Patienten gehabt. Die sagen, oh Gott, das Infektionsrisiko fürs Personal. Da ist viel Angst, da ist Stigmatisierung, der Patient fühlt sich da abgelehnt, da gibt es eine ganze Reihe von Problemen, die wir noch zu begegnen haben.

Heise: Der Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft Jürgen Rockstroh im Deutschlandradio Kultur. Herr Rockstroh, kann ein Aids-Kranker eigentlich inzwischen ganz normal leben und arbeiten mit der Medikamentierung, die er da hat in seinem Leben?

Rockstroh: Also ich würde sagen, dass viele Menschen mit HIV ganz normal ihrer Arbeit nachgehen. Das hängt aber natürlich auch davon ab, wann ist die Therapie begonnen worden, habe ich schon infolge erster schwerer Infektionen Veränderungen, zum Beispiel Nervenlähmungen, ist meine Gehfähigkeit eingeschränkt, habe ich schon kognitive Einbußen – das kann natürlich einen Einfluss haben. Also es hängt immer so ein bisschen ab, wie früh habe ich eigentlich begonnen, wie früh ist die Diagnose gestellt worden und natürlich, wie gut komme ich mit meiner Therapie zurecht, gibt es Nebenwirkungen oder nicht. Aber es gibt viele, die den Weg in den Beruf auch wieder zurückgefunden haben, wenn wir daran denken, dass am Anfang ja HIV nicht behandelbar war. Und heute würde ich sagen für die neu Infizierten meistens, dass die auch so in ihrem beruflichen Umfeld aktiv bleiben.

Heise: Sie haben vorhin gesagt, dass aber bei einem Drittel der HIV-Infizierten diese Diagnose überhaupt nicht gestellt wird, weil man gar nicht darauf kommt, dass man HIV-infiziert sein könnte. Wie kann man denn dem begegnen?

Rockstroh: Das ist eben so eine der großen Fragen, die wir uns stellen, wie können wir eben auch in Prävention hier aktiv werden – einerseits schwere Neuerkrankungen verhindern, andererseits aber auch das Transmissionsrisiko für andere verringern. Und da gibt es so eine Initiative, "HIV in Europa", die sich jetzt an vielen Punkten versucht, das eben anzugreifen. Dazu gehört einmal, dass man in Gruppen geht mit vermehrtem Risikoverhalten und einfach auch andere Testangebote macht, weil vielleicht will man nicht ins Gesundheitsamt, vielleicht ist es eben mit einem anderen Setting, wo man sich wohler fühlt, mehr angenommen fühlt, einfacher. Oder es gibt eine andere Schwelle für den Zugang zum Test. Also solche Methoden werden in Kooperation mit der Deutschen Aids-Hilfe zum Beispiel untersucht. Es gibt also eine ganze Reihe von Pilotprojekten, wo andere Fronttestangebote jetzt untersucht werden, und das, glaube ich, sinnvoll. Wissenschaftlich begleitet mit einer Evaluation, bringt das was, ja, nein. Und auch eine Diskussion natürlich zu führen, wie ändert sich unsere Gesellschaft, wie ändert sich Sexualität, und da im Gespräch zu bleiben, um zu sehen, sprechen wir überhaupt die Sprache der Leute, wo wir Prävention betreiben wollen, also auch eben jüngere Menschen mit in die Präventionsarbeit einzubinden und zu schauen, dass man von denen auch eine Stellungnahme bekommt.

Heise: Ja, denn erschreckend ist ja, dass in den letzten Jahren es eigentlich immer wieder doch eine steigende Zahl von Neuerkrankungen gibt, das heißt doch eigentlich auch eine steigende Sorglosigkeit?

Rockstroh: Nein, wir haben von 2003 bis jetzt erst immer 2000 Neuinfektionen pro Jahr gehabt, jetzt sind es ungefähr knapp 3000, aber gegenüber den letzten zwei, drei Jahren zumindest bei diesen 3000 doch relativ stabil. Es gibt Untersuchungen aus den USA, die zeigen, dass doch ein Drittel von Männern, die Sex mit Männern haben, auch bei Weglassen des Kondoms sagen, dass das Vorhandensein der Therapiemöglichkeiten eine Rolle spielt. Also das ist sicherlich auch etwas, was da mit einfließt, so der Verlust der Schreckens von HIV und Aids. Andererseits aber auch wird das Thema natürlich anders in den Medien behandelt, die Aufklärung ist anders, es gibt auch eine gewisse Müdigkeit, 20 Jahre Safer-Sex-Messages, manche fühlen sich überhaupt nicht im Risiko in Deutschland, das ist so eine Sache von Randgruppen für viele. Und das ist natürlich falsch, weil jeder kann natürlich, der sexuell aktiv ist, auch sich eine entsprechende Infektion holen.

Heise: Sie haben es gerade angesprochen, dass die Menschen sich zum Teil schon sicher fühlen oder nicht mehr mit der nötigen Sorgfalt vorgehen, weil sie glauben, damit kann man gut leben durch die medizinischen Fortschritte. Eben im September gab es Meldung, man sei auf einem guten Weg in Sachen Impfstoff gegen Aids, davon hört man jetzt gar nichts mehr. Wie weit ist man denn da tatsächlich?

Rockstroh: Ja, also dieser Impfstoff, das ist diese Thailand-Studie, die für viel Aufregung gesorgt hat, weil es das allererste Mal war, dass in einer Studie mit einem Impfstoff weniger Leute sich mit HIV angesteckt haben wie die, die einen Placebo, also einen Wirkstoff, der nichts enthält, bekommen haben. Der Unterschied war allerdings gering, es waren 71 Infektionen in dem einen, 54 in dem anderen, das sind also kein vollständiger Schutz, es ist nur sagen wir mal die Tendenz eines Schutzes, würde ich mal sagen. Nicht in allen Analysen war dieser Unterschied statistisch signifikant. Das ist ein erster sagen wir mal Trend in die richtige Richtung, und diese Studie hat als Besonderheit, dass eben zwei Impfstoffe kombiniert gegeben wurden zu verschiedenen Impfschritten. Also vielleicht ist ja dann doch in der Kombination mehrerer Antigene mit mehreren Impfungen, vielleicht lässt sich da denn doch noch was optimieren. Trotzdem wird es sicherlich noch viele, viele Jahre dauern, bis ein wirklich vollständig protektiver Impfstoff vorhanden sein wird.

Heise: Wenn Sie jetzt mal so einen Wunsch frei hätten und Ihrer Hoffnung freien Lauf ließen, was wünschen Sie sich am meisten in Sachen Aids und Prävention?

Rockstroh: Na ja, ich denk mir, wir haben eine neue Regierung, und ich würde mir wünschen ein Bekenntnis, wie die sich jetzt ihre HIV- und Aids-Arbeit vorstellen für die Zukunft. Deutschland hat bislang ja eine sehr passive Rolle gespielt in vielen Belangen im Sinne von Forschungsförderung, mehr im Sinne von Wir-geben-auch-Gelder-an-allgemeine-Töpfe. Wir würden uns eine stärkere Sichtbarkeit der deutschen Forschung, die doch sehr oft eben auch aufs amerikanische Geld angewiesen ist, wünschen. Und wir würden uns – und das findet aber auch statt mit den Beteiligten im HIV-Bereich, wie gerade bei unserem Expertenworkshop zum Testen in Deutschland – eben eine verstärkte Integration aller im HIV-Bereich Tätigen wünschen und eine offene Diskussion, was wir eben noch besser machen könnten.

Heise: Der Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft Jürgen Rockstroh. Herr Rockstroh, ich danke Ihnen recht herzlich!

Rockstroh: Ja, danke schön!