Deutsch-türkischer Alltag in Berlin

Warum nur dieser "Erdowahn"?

Eine deutsche und eine türkische Fahne hängen in Berlin nebeneinander aus zwei Fenstern einer Wohnung.
Eine deutsche und eine türkische Fahne in Berlin. Für unseren Autor ist die Eintracht in Berlin-Kreuzberg jedoch dahin. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Von Max Thomas Mehr · 02.12.2016
Unser Autor (ver)zweifelt an seinen türkischstämmigen Mitbürgern in Berlin-Kreuzberg. Warum begeistern sich so viele von ihnen für den türkischen Präsidenten Erdogan, "den Despoten vom Bosporus"? Dies vergifte die Atmosphäre im Multi-Kulti-Bezirk.
Die offene Gesellschaft? Multi-Kulti? – Längst Alltag in "meinem" Kreuzberg, in "meiner Straße", in der ich schon bald 45 Jahre zuhause bin.
Ich erinnere mich noch gut an die Anfänge , als schräge Künstler mit grauen langen Haaren und großen schwarzen Hüten meinen "Kiez" bevölkerten, ihre Romanstoffe in versoffenen Kneipennächten erfanden und Berliner Typen malten, wie einst Heinrich Zille. Heute liegen sie längst auf dem Friedhof und ihre Bilder hängen im Museum.

Kreuzberg vor 30 Jahren

Aber es gab auch die anderen. Erinnert sei an die verbiesterten Wirte der Berliner Eckkneipen, Spießer mit deutschem Schäferhund, den sie am liebsten auf uns und diese Malerpoeten losgelassen hätten. Die Gentrifizierung, die diese Kneipiers vertrieb, war ein Segen. "Der Grieche", der eine ihrer vermufften Gaststuben übernahm, feierte unlängst 30jähriges Betriebsjubiläum.
Ab Mitte der Siebziger Jahre zogen die ersten Türken her. Auch sie Gentrifizierer. Geflohen aus den heruntergekommenen Mietskasernen im südöstlichen Teil Kreuzbergs, die sie, aus Anatolien kommend, zunächst als Zwischennutzer bezogen hatten. Später sollten die ganzen Altbau-Quartiere dort einer Stadtautobahn längs der Mauer weichen. Es kam anders: Die "Gastarbeiter" wurden Berliner "mit Migrationshintergrund". Und mit den Hausbesetzern kam die "behutsame Stadterneuerung".

Die Multi-Kulti-Idylle hat Risse

Heute kaufe ich beim türkischen Gemüsehändler oder Bäcker. Auch "mein" Zeitungshändler hat türkische Wurzeln. Wir machen seit Jahrzehnten Geschäfte miteinander und pflegen freundlichen Umgang. Doch als unsere Kinder und die unserer Freunde die nahen Schulen besuchten, als ihnen während des Ramadans das Pausenbrot auf dem Schulhof aus der Hand geschlagen wurde und Lehrer das nur achselzuckend registrierten, ließ sich nicht mehr übersehen, dass die Multi-Kulti-Idylle Risse bekam.
Seit der Despot vom Bosporus in diesem "Putschsommer" über 30.000 Lehrer aus Schulen warf, Unis, Zeitungen und Fernsehredaktionen schloss und Tausende Staatsbedienstete und Journalisten verhaften ließ, sind die Risse manifest geworden.

Die türkischen Nachbarn sagen: Verräter

Während ich die Recherche des Cumhuriyet-Chefredakteurs Can Dündar über dubiose Waffenlieferungen nach Syrien für eine investigative Glanzleistung halte, er dafür ins Gefängnis kam und dann fliehen musste, gilt er meinen türkischen Nachbarn in Kreuzberg als Hochverräter. Während ich mich frage, wann die GEW endlich zur Demonstration gegen die Entlassung ihrer bedrängten Lehrerkollegen aufruft, sagen diese Nachbarn: Besser noch mehr von ihnen verhaften, alles Verräter.
"Erdowahn" statt Verteidigung von Rechtsstaat und Gewaltenteilung? Dabei sind die meisten von ihnen schon in Berlin zur Schule gegangen und heute brave Steuerzahler. Sie kommen mir vor wie die Wiedergänger des Eckkneipenwirts mit Schäferhund nur eben mit türkischen Wurzeln.
Natürlich gibt es auch die Kaffeehausbekannte, die sich "fremdschämt" für das, was Erdogan gerade aus der Heimat ihrer Eltern macht. Ein anderer Deutschtürke, erfolgreicher Restaurantbetreiber, versteht nicht, wie man nach 40 Jahren Deutschland Fan dieses Despoten werden kann. Doch sie bleiben lieber anonym, denn nicht nur in Istanbul sondern auch in Kreuzberg geht die Angst um vor Denunzianten, die sie anschwärzen könnten beim Regime in Ankara. Bleibt also nur noch die Hoffnung auf die nächste Gentrifizierung? Doch die könnte uns ja auch selber vertreiben.

Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist freischaffender politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "taz" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (produziert von Arte/MDR) wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet.

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