Deutsch-türkische Partnerschaft

Neue Dynamik im EU-Beitrittsprozess

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der Ministerpräsident der Türkei, Ahmet Davutoglu, verlassen im Bundeskanzleramt in Berlin die Pressekonferenz
Harmonie: Angela Merkel und Ahmet Davutoglu bei der gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Hüseyin Bagci im Gespräch mit Ute Welty · 23.01.2016
Die Situation in der Flüchtlingskrise hat die Türkei wieder an Europa angenähert. Gegenseitige Unterstützung und die Finanzhilfe der EU sei eine notwendige Konsequenz und kein schmutziger Deal, sagt Hüseyin Bagci, Politikprofessor in Ankara.
Hüseyin Bagci, Politikprofessor in Ankara, sieht durch die deutsch-türkischen Annäherung eine neue Dynamik im EU-Beitrittsprozess der Türkei und weist Kritik an einem "schmutzigen Deal" zurück.
"Das ist natürlich in der Türkei auch so reflektiert worden, dass Deutschland wieder die Rolle eines Anwaltes in den europäischen Fragen der Türkei übernimmt", sagte Bagci im Deutschlandradio Kultur über die Ergebnisse der ersten deutsch-türkischen Konsultationen im Berliner Kanzleramt und die Reaktionen in den türkischen Medien. Die Situation in der Flüchtlingskrise habe die Türkei wieder an Europa angenähert. Bei den Gesprächen habe sich der Trend abgezeichnet, dass Deutschland und die Türkei in Zukunft in vielen Fragen zusammen agieren würden. Dafür hätten die Gespräche große Hoffnungen gegeben. Die Türkei werde sich daher in ihrer Annäherung an die Europäische Union besonders an Deutschland "anlehnen". Erhofft werde eine Beschleunigung im EU-Beitrittsprozess, so der Professor und Dekan am Department für Internationale Beziehungen der Middle East Technical University (METU) in Ankara.
Notwendige Unterstützung angesichts von über 2 Millionen Flüchtlingen in der Türkei
Angesichts von über 2 Millionen Flüchtlingen, die die Türkei aufgenommen habe und 9 Milliarden US-Dollar, die das Land bereits alleine zur Versorgung der Flüchtlinge aufgebracht habe, handele es sich bei dem Abkommen über EU-Finanzhilfe vor allem um eine notwendige finanzielle Unterstützung der Türkei, erklärte Bagci. Zwar nutze die Türkei die neue Situation in der Flüchtlingskrise hinsichtlich ihres Wunsches nach Aufnahme in die EU zu ihrem Vorteil, um der türkischen Öffentlichkeit mehr Hoffnung hinsichtlich des Weges in die Europäischen Union zu geben. Da auch die Türkei das Flüchtlingsproblem nicht alleine bewältigen könne, werde die Hilfe der EU gebraucht. Gespräche und gegenseitige Hilfe seien angesichts der Flüchtlingskrise eine "natürliche Konsequenz, aber nicht unbedingt ein schmutziger Deal", erklärte der Politologe. Dass die türkischen Forderungen nach höheren Finanzhilfen über die bereits im November zugesagten 3 Milliarden Euro an EU-Hilfen nicht erfolgreich waren, bedeute, dass die Türkei in dieser Frage klein beigegeben habe.
Konfrontation mit Kritik ?
Die Türkei werde sowohl von der EU als auch den USA hinsichtlich ihres Umgangs mit Meinungsfreiheit konfrontiert. In der Debatte um die Glaubwürdigkeit der Türkei in der Bekämpfung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verwies der Politologe auf den von der türkischen Regierung 2014 vollzogenen Kurswechsel. Allerdings bleibe gleichzeitig der vor allem militärisch geführte Kampf gegen die verbotene kurdischen Arbeiterpartei PKK "eine chronische Frage."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Das hat doch sehr versöhnlich geklungen nach den deutsch-türkischen Regierungskonsultationen: Die Bundeskanzlerin zollte der Türkei großen Respekt dafür, dass dort zwei Millionen syrische Flüchtlinge versorgt werden, und neben dem Respekt gibt es auch Geld, nämlich drei Milliarden Euro. Der türkische Ministerpräsident lobte seinerseits die menschliche Haltung und Führungskraft der Kanzlerin. Insgesamt habe das Gemeinsame bei den Beratungen überwogen. Ob tatsächlich aber alles so harmonisch verlaufen ist, das möchte ich jetzt mit Hüseyin Bagci besprechen, Politikwissenschaftler an der Universität in Ankara. Guten Morgen!
Hüseyin Bagci: Guten Morgen!
Welty: Wie reagieren die türkischen Medien auf die Ergebnisse der deutsch-türkischen Regierungskonsultationen heute früh?
Bagci: Die Euphorie, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland und zwischen der Türkei und Europa sich verbessern werden, hat man gestern wiederum gesehen, nach den Gesprächen zwischen Merkel und Davutoglu, dass beide Seiten große Hoffnung gegeben haben, was die Zusammenarbeit überhaupt angeht. Das ist natürlich in der Türkei auch so reflektiert worden, dass Deutschland wieder die Rolle eines Anwaltes in den europäischen Fragen der Türkei übernimmt.
Welty: Ist das denn mehr Wunsch, dieser Gedanke, oder ist es tatsächlich etwas, was den Tatsachen entspricht?
"Es ist ein Trend, was sich in den kommenden Jahren auch abspielen wird."
Bagci: Es ist ein Trend, was sich in den kommenden Jahren auch abspielen wird. Deutschland und die Türkei werden in vielen Fragen zusammenhalten und zusammen agieren, und deswegen wird die Türkei sich auf Deutschland besonders anlehnen, dass sie in ihrem Weg in Richtung Europäische Union mithilfe Deutschlands noch schneller gehen zu hofft, das ist die Tatsache.
Welty: Im Vorfeld der Gespräche hatte es geheißen, die Türkei will mehr als die drei Milliarden Euro, die schon seit Langem vereinbart worden sind. Das ist jetzt offensichtlich nicht der Fall – heißt das im Umkehrschluss, dass die Türkei hat klein beigeben müssen?
Bagci: Ich denke ja. Erst mal, es sind natürlich keine Gelder, die cash in die Türkei einfließen, sondern es müssen Projekte sein, die von der Europäischen Union immer finanziert werden, und das ist wichtig, dass man diese über zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei irgendwie weiter versorgt. Die Türkei hat bis jetzt neun Milliarden Dollar dafür bezahlt, und dass die Europäische Union auch beiträgt, ist natürlich eine sehr willkommene Haltung der Europäischen Union und Deutschlands. Deswegen wird es in der Türkei sehr begrüßt.
Welty: Was glauben Sie, was sich die EU die Unterstützung der Türkei in der Flüchtlingsfrage noch kosten lassen wird? Man hat auch über Menschenrechte und Pressefreiheit gesprochen bei diesen Konsultationen, aber offiziell ist nicht viel Kritik laut geworden.
"Sicherlich ist die Türkei auch unter dem Einfluss der internationalen Kritik"
Bagci: Es ist der Mechanismus, wo man konsultiert, aber keine Entscheidungen trifft. Man hat, denke ich, einander zugehört. Sicherlich, in den Gesprächen hat man Kritik gebracht, sicherlich ist die Türkei auch unter dem Einfluss der internationalen Kritik, was Pressefreiheit und die einige andere Fragen angeht. Deswegen, - die Nummer Zwei der amerikanischen Regierung (US-Vizepräsident) Joe Biden ist in der Türkei, und er hat genauso kritische Aussagen gemacht wie viele Europäer, deswegen ist die Türkei oder die türkische Regierung unter der Kritik sowohl von der europäischen Seite, aber auch von der amerikanischen Seite. Wie die türkische Regierung darauf reagieren wird, bleibt abzuwarten.
Welty: Trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich Europa an dieser Stelle auch ein Stück weit erpressen lässt: Ihr haltet die Flüchtlinge im Land, und wir nehmen eure Art der Repression hin.
Bagci: Das kann ich nicht verneinen, das ist ein Deal. Die Türkei, in der Tat, hat diese Problematik als ein Vorteil gebraucht und wird auch in der Zukunft weiter gebrauchen. Das ist eine Situation, wo die Türkei in Schwierigkeiten lag, und plötzlich diese Situation hat die Türkei an Europa angenähert und wird sich weiterhin annähern, und das wird durch die Regierung in der Türkei dazu gebraucht, der türkischen Öffentlichkeit mehr Hoffnungen zu geben, was den Weg zur Europäischen Union hinbringt.
Welty: Wenn Sie sagen, es ist ein Deal – würden Sie so weit gehen zu sagen, es ist ein schmutziger Deal?
Bagci: Das kann ich nicht sagen, das ist eine politische Aussage.
Welty: Warum können Sie die nicht treffen?
Eine Notwendigkeit, dass man sich gegenseitig Hilfe anbietet
Bagci: Ich denke, das ist eine menschliche Frage. Die Türkei hat von Anfang an so viele Menschen aufgenommen, das ist eine sehr gute Haltung der Türkei, diesen Leuten eine Bleibe anzubieten. Was sich später abgespielt hat, dass es über 2,5 Millionen Menschen bereits geworden sind, das kann die Türkei selber nicht verhindern, und jetzt haben wir eine neue Situation: Die Türkei kann nicht mit diesem Problem alleine zusammenkommen, deswegen braucht man die Hilfe von der Europäischen Union, von Deutschland besonders, weil Deutschland das Anziehungsland für viele Flüchtlinge ist. Deswegen eine Notwendigkeit, dass man miteinander sitzt, spricht und eine gegenseitige Hilfe anbietet, finde ich eine natürliche Konsequenz, aber nicht unbedingt einen schmutziger Deal, das kann ich nicht akzeptieren.
Welty: Darf die Hilfe soweit gehen, die Türkei im Kampf gegen den selbsternannten Islamischen Staat zu unterstützen, obwohl man manchmal den Eindruck hat, die Türkei geht lieber gegen Stellungen der Kurden vor als gegen Stellungen des IS?
Bagci: Eigentlich beide Seiten, sowohl ISIS wie auch die Kurden werden von der Türkei bekämpft. Die Kurdenfrage bleibt aber jetzt noch wichtiger als ISIS, das stimmt. Mit ISIS kämpfen jetzt die Syrer, Iraner, Iraker und die Russen, nebenbei natürlich auch viele andere europäische Staaten, aber dass die Türkei mit der Europäischen Union und mit den Vereinigten Staaten von Amerika zusammen gegen ISIS kämpft, ist eine Tatsache, das ist seit zwei Jahren so. Wenn Sie fragen, war es immer so von Anfang an, das kann ich nicht sagen. Die Türkei hat ihre Haltung seit dem NATO-Treffen in Wales 2014 verändert, und da ist die Türkei seitdem mit dem Westen auf ISIS ähnlich. Aber die Kurdenfrage ist eine chronische Frage, die seit über 40 Jahren dauert, und wie es zurzeit aussieht, wird die Regierung weiterhin darauf sehr stark mit militärischen Mitteln eingehen und mit der PKK den Kampf weiter fortsetzen. Sowohl der Präsident als auch der Ministerpräsident sind sehr dafür, dass der Kampf weitergeht und die PKK aus dem Lande rausgeschmissen wird, aber ob sie es schaffen wird, das ist eine andere Sache.
Welty: Nach den deutsch-türkischen Regierungskonsultationen, der türkische Politikwissenschaftler Hüseyin Bagci, haben Sie herzlichen Dank für Ihre Einschätzung!
!Bagci:!! Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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